des vaterländischen Lebens wollte der christliche Monarch sorgsam gerecht werden: dem Handel, dem Gewerbfleiß, dem Verkehre und nicht zuletzt den arbeitenden Massen, deren wachsende Macht er schon als Kronprinz, früher als die meisten Zeitgenossen, scharfsichtig würdigte.
Von der überlieferten auswärtigen Politik war er nicht gemeint sich gänzlich loszusagen; er betrachtete den Bund der Ostmächte als den Schutz- wall wider die Revolution, seine alte Verehrung für Metternich's Weis- heit hatte sich mit den Jahren nur gesteigert, und gegen den russischen Schwager zeigte er sich schwächer als sein Vorgänger. Der alte Herr hatte "den lieben Niks" wie einen Sohn geliebt, aber ihn in seiner stillen Weise immer in Schranken gehalten. Dem neuen Könige war die Härte des Czaren tief zuwider, und vor Vertrauten äußerte er sich oft sehr bitter über "Seine Autokratische Majestät", doch er empfand vor ihm jene geheime Furcht, welche der überlegene Wille dem überlegenen Geiste aufzwingt. Dabei fühlte er doch sehr lebhaft, daß seine innere Politik weder mit dem gemüthlichen Seelenschlafe des alten Oesterreichs, noch mit der knechti- schen Stille des Czarenreichs irgend etwas gemein haben durfte, und ersehnte die Zeit, da England wieder in den alten Vierbund eintreten, Preußen aber, gestärkt durch ein engeres Bündniß der beiden protestan- tischen Großmächte, etwas freiere Hand in Europa erhalten würde. Diesem stammverwandten Inselvolke widmete er seit einigen Jahren eine feurige durch Bunsen's enthusiastische Briefe beständig geschürte Bewunderung. Mit Freuden nahm er wahr, wie die Anglomanie seit dem Ende der dreißiger Jahre überall in Mitteleuropa, bis nach Ungarn hinein, unter dem Adel überhandnahm, Trachten und Sitten der englischen Sportsmen von der vornehmen Welt eifrig nachgeahmt wurden. Er sah in der briti- schen Verfassung das Musterbild jener organischen Entwicklung, die er, in anderen Formen freilich, für seinen eigenen Staat erhoffte, und theilte die unter dem liberalen Adel wie im Bürgerthum weit verbreitete Mei- nung, daß England unser natürlicher Bundesgenosse sei. Immerhin hatte er schon mehr politische Erfahrung gesammelt als die freiwilligen Staatsmänner des Liberalismus und erkannte wohl, daß die Verbindungen der Staaten nicht allein durch ihre innere Verwandtschaft bestimmt wer- den; nur wenn der alte Ostbund unerschütterlich fortbestehe, hielt er das engere Bündniß der zwei protestantischen Mächte für möglich.
Noch lebhafter beschäftigte ihn Preußens deutsche Politik. Er rechnete nicht auf ein langes Leben und sagte bald nach seiner Thronbesteigung: ob diese kurze Regierung ruhmreich werde, das wisse er nicht, aber einen deutschen Charakter solle sie tragen. Da er "die Vorurtheile" des fride- ricianischen Zeitalters verachtete und dem alten Kaiserhause neidlos den Vortritt überließ, so hielt er den Deutschen Bund mitsammt der fried- lichen Zweiherrschaft für eine höchst segensreiche Einrichtung, und sein Ehrgeiz ging nur dahin, daß Preußen diese trefflichen Institutionen be-
V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
des vaterländiſchen Lebens wollte der chriſtliche Monarch ſorgſam gerecht werden: dem Handel, dem Gewerbfleiß, dem Verkehre und nicht zuletzt den arbeitenden Maſſen, deren wachſende Macht er ſchon als Kronprinz, früher als die meiſten Zeitgenoſſen, ſcharfſichtig würdigte.
Von der überlieferten auswärtigen Politik war er nicht gemeint ſich gänzlich loszuſagen; er betrachtete den Bund der Oſtmächte als den Schutz- wall wider die Revolution, ſeine alte Verehrung für Metternich’s Weis- heit hatte ſich mit den Jahren nur geſteigert, und gegen den ruſſiſchen Schwager zeigte er ſich ſchwächer als ſein Vorgänger. Der alte Herr hatte „den lieben Niks“ wie einen Sohn geliebt, aber ihn in ſeiner ſtillen Weiſe immer in Schranken gehalten. Dem neuen Könige war die Härte des Czaren tief zuwider, und vor Vertrauten äußerte er ſich oft ſehr bitter über „Seine Autokratiſche Majeſtät“, doch er empfand vor ihm jene geheime Furcht, welche der überlegene Wille dem überlegenen Geiſte aufzwingt. Dabei fühlte er doch ſehr lebhaft, daß ſeine innere Politik weder mit dem gemüthlichen Seelenſchlafe des alten Oeſterreichs, noch mit der knechti- ſchen Stille des Czarenreichs irgend etwas gemein haben durfte, und erſehnte die Zeit, da England wieder in den alten Vierbund eintreten, Preußen aber, geſtärkt durch ein engeres Bündniß der beiden proteſtan- tiſchen Großmächte, etwas freiere Hand in Europa erhalten würde. Dieſem ſtammverwandten Inſelvolke widmete er ſeit einigen Jahren eine feurige durch Bunſen’s enthuſiaſtiſche Briefe beſtändig geſchürte Bewunderung. Mit Freuden nahm er wahr, wie die Anglomanie ſeit dem Ende der dreißiger Jahre überall in Mitteleuropa, bis nach Ungarn hinein, unter dem Adel überhandnahm, Trachten und Sitten der engliſchen Sportsmen von der vornehmen Welt eifrig nachgeahmt wurden. Er ſah in der briti- ſchen Verfaſſung das Muſterbild jener organiſchen Entwicklung, die er, in anderen Formen freilich, für ſeinen eigenen Staat erhoffte, und theilte die unter dem liberalen Adel wie im Bürgerthum weit verbreitete Mei- nung, daß England unſer natürlicher Bundesgenoſſe ſei. Immerhin hatte er ſchon mehr politiſche Erfahrung geſammelt als die freiwilligen Staatsmänner des Liberalismus und erkannte wohl, daß die Verbindungen der Staaten nicht allein durch ihre innere Verwandtſchaft beſtimmt wer- den; nur wenn der alte Oſtbund unerſchütterlich fortbeſtehe, hielt er das engere Bündniß der zwei proteſtantiſchen Mächte für möglich.
Noch lebhafter beſchäftigte ihn Preußens deutſche Politik. Er rechnete nicht auf ein langes Leben und ſagte bald nach ſeiner Thronbeſteigung: ob dieſe kurze Regierung ruhmreich werde, das wiſſe er nicht, aber einen deutſchen Charakter ſolle ſie tragen. Da er „die Vorurtheile“ des fride- ricianiſchen Zeitalters verachtete und dem alten Kaiſerhauſe neidlos den Vortritt überließ, ſo hielt er den Deutſchen Bund mitſammt der fried- lichen Zweiherrſchaft für eine höchſt ſegensreiche Einrichtung, und ſein Ehrgeiz ging nur dahin, daß Preußen dieſe trefflichen Inſtitutionen be-
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V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
des vaterländiſchen Lebens wollte der chriſtliche Monarch ſorgſam gerecht
werden: dem Handel, dem Gewerbfleiß, dem Verkehre und nicht zuletzt
den arbeitenden Maſſen, deren wachſende Macht er ſchon als Kronprinz,
früher als die meiſten Zeitgenoſſen, ſcharfſichtig würdigte.
Von der überlieferten auswärtigen Politik war er nicht gemeint ſich
gänzlich loszuſagen; er betrachtete den Bund der Oſtmächte als den Schutz-
wall wider die Revolution, ſeine alte Verehrung für Metternich’s Weis-
heit hatte ſich mit den Jahren nur geſteigert, und gegen den ruſſiſchen
Schwager zeigte er ſich ſchwächer als ſein Vorgänger. Der alte Herr
hatte „den lieben Niks“ wie einen Sohn geliebt, aber ihn in ſeiner ſtillen
Weiſe immer in Schranken gehalten. Dem neuen Könige war die Härte
des Czaren tief zuwider, und vor Vertrauten äußerte er ſich oft ſehr bitter
über „Seine Autokratiſche Majeſtät“, doch er empfand vor ihm jene geheime
Furcht, welche der überlegene Wille dem überlegenen Geiſte aufzwingt.
Dabei fühlte er doch ſehr lebhaft, daß ſeine innere Politik weder mit dem
gemüthlichen Seelenſchlafe des alten Oeſterreichs, noch mit der knechti-
ſchen Stille des Czarenreichs irgend etwas gemein haben durfte, und
erſehnte die Zeit, da England wieder in den alten Vierbund eintreten,
Preußen aber, geſtärkt durch ein engeres Bündniß der beiden proteſtan-
tiſchen Großmächte, etwas freiere Hand in Europa erhalten würde. Dieſem
ſtammverwandten Inſelvolke widmete er ſeit einigen Jahren eine feurige
durch Bunſen’s enthuſiaſtiſche Briefe beſtändig geſchürte Bewunderung.
Mit Freuden nahm er wahr, wie die Anglomanie ſeit dem Ende der
dreißiger Jahre überall in Mitteleuropa, bis nach Ungarn hinein, unter
dem Adel überhandnahm, Trachten und Sitten der engliſchen Sportsmen
von der vornehmen Welt eifrig nachgeahmt wurden. Er ſah in der briti-
ſchen Verfaſſung das Muſterbild jener organiſchen Entwicklung, die er,
in anderen Formen freilich, für ſeinen eigenen Staat erhoffte, und theilte
die unter dem liberalen Adel wie im Bürgerthum weit verbreitete Mei-
nung, daß England unſer natürlicher Bundesgenoſſe ſei. Immerhin
hatte er ſchon mehr politiſche Erfahrung geſammelt als die freiwilligen
Staatsmänner des Liberalismus und erkannte wohl, daß die Verbindungen
der Staaten nicht allein durch ihre innere Verwandtſchaft beſtimmt wer-
den; nur wenn der alte Oſtbund unerſchütterlich fortbeſtehe, hielt er das
engere Bündniß der zwei proteſtantiſchen Mächte für möglich.
Noch lebhafter beſchäftigte ihn Preußens deutſche Politik. Er rechnete
nicht auf ein langes Leben und ſagte bald nach ſeiner Thronbeſteigung:
ob dieſe kurze Regierung ruhmreich werde, das wiſſe er nicht, aber einen
deutſchen Charakter ſolle ſie tragen. Da er „die Vorurtheile“ des fride-
ricianiſchen Zeitalters verachtete und dem alten Kaiſerhauſe neidlos den
Vortritt überließ, ſo hielt er den Deutſchen Bund mitſammt der fried-
lichen Zweiherrſchaft für eine höchſt ſegensreiche Einrichtung, und ſein
Ehrgeiz ging nur dahin, daß Preußen dieſe trefflichen Inſtitutionen be-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/24>, abgerufen am 23.11.2024.
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