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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
Durfte man wagen, mit diesem im Voraus verleumdeten und verlästerten
Gesetze vor die Landtage zu treten? Nach der Verfassung mußte
mindestens der materielle Theil des Entwurfs den Provinzialständen
vorgelegt werden, weil er in das Personenrecht eingriff. Der König
schwankte; im Ministerium konnte man sich nicht einigen, Graf Arnim
namentlich beharrte bei seinem Widerspruche. Auch Bunsen, der doch
ursprünglich das Unternehmen mit veranlaßt hatte, warnte jetzt, da er
Berlin wieder besuchte, dringend vor der unheildrohenden öffentlichen
Stimmung. Da vermochte Friedrich Wilhelm nicht mehr Stand zu halten.
Am 28. Juni 1844 wurde plötzlich der kleinere, formale Theil des Ge-
setzes, der keiner ständischen Berathung bedurfte, als "Verordnung über
das Verfahren in Ehesachen" veröffentlicht. Es war unzweifelhaft der best-
gelungene Theil des Werks, eine dankenswerthe Reform, auch darum er-
freulich, weil sie auf die Neugestaltung des gesammten Processes hin-
deutete. Die Entscheidung der Scheidungsklagen wurde den Obergerichten
übertragen, und das Verfahren so frei gestaltet, daß dem pflichtmäßigen
Ermessen der Richter ein weiter Spielraum blieb; selbst an die Geständ-
nisse der Parteien sollten sie, wegen der naheliegenden Gefahr der Col-
lusion, nicht unbedingt gebunden sein. Nach den Erfahrungen der Ober-
gerichte dachte man späterhin die Reform des materiellen Eherechts von
Neuem zu beginnen. Wie die Dinge lagen war dieser halbe Erfolg fast
unvermeidlich. Der König aber empfand es als eine Niederlage, daß er
einen Lieblingsplan vor dem Toben einer doch sehr unklaren öffentlichen
Meinung großentheils zurückziehen mußte. Zudem war Gerlach aus dem
Rathe der Krone verdrängt und Savigny's Ansehen schwer erschüttert,
da er nach dritthalbjähriger Arbeit nur ein so bescheidenes Ergebniß ge-
wonnen hatte.

Auch was der König sonst noch versuchte um christliche Sitte zu be-
leben, stieß überall auf unüberwindlichen Widerstand. Mit vollem
Rechte fand er es anstößig, daß die bestehenden, sehr milden Vorschriften
über die Sonntagsfeier so nachlässig gehandhabt wurden. Die Behörden
zeigten wenig Sinn für das kirchliche Leben, noch weniger für die Be-
drängniß des armen Volkes: was kümmerte sie der Geselle und der Ar-
beiter, wenn der Ladenbesitzer oder der Fabrikant versicherte, sein Geschäft
könne keine Unterbrechung ertragen? Die Zeit schien ganz vergessen zu
haben, daß der Sabbath die größte sociale Wohlthat war, welche das Volk
Israel einst der menschlichen Cultur gebracht hatte. Wohl nicht ohne
Vorwissen des Königs richteten die evangelischen Geistlichen Berlins in
seinem ersten Regierungsjahre "ein Wort der Liebe" an ihre Gemeinden
um ihnen die Heiligung des Feiertags an's Herz zu legen und sie wieder
zu erinnern an die Schleiermacher'sche Lehre, daß alle Religion sich nur
in der Gemeinschaft bethätige. Leider erweckte diese warme Ansprache
nur Mißtrauen. Die liberale Presse witterte alsbald Unrath; am lau-

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Durfte man wagen, mit dieſem im Voraus verleumdeten und verläſterten
Geſetze vor die Landtage zu treten? Nach der Verfaſſung mußte
mindeſtens der materielle Theil des Entwurfs den Provinzialſtänden
vorgelegt werden, weil er in das Perſonenrecht eingriff. Der König
ſchwankte; im Miniſterium konnte man ſich nicht einigen, Graf Arnim
namentlich beharrte bei ſeinem Widerſpruche. Auch Bunſen, der doch
urſprünglich das Unternehmen mit veranlaßt hatte, warnte jetzt, da er
Berlin wieder beſuchte, dringend vor der unheildrohenden öffentlichen
Stimmung. Da vermochte Friedrich Wilhelm nicht mehr Stand zu halten.
Am 28. Juni 1844 wurde plötzlich der kleinere, formale Theil des Ge-
ſetzes, der keiner ſtändiſchen Berathung bedurfte, als „Verordnung über
das Verfahren in Eheſachen“ veröffentlicht. Es war unzweifelhaft der beſt-
gelungene Theil des Werks, eine dankenswerthe Reform, auch darum er-
freulich, weil ſie auf die Neugeſtaltung des geſammten Proceſſes hin-
deutete. Die Entſcheidung der Scheidungsklagen wurde den Obergerichten
übertragen, und das Verfahren ſo frei geſtaltet, daß dem pflichtmäßigen
Ermeſſen der Richter ein weiter Spielraum blieb; ſelbſt an die Geſtänd-
niſſe der Parteien ſollten ſie, wegen der naheliegenden Gefahr der Col-
luſion, nicht unbedingt gebunden ſein. Nach den Erfahrungen der Ober-
gerichte dachte man ſpäterhin die Reform des materiellen Eherechts von
Neuem zu beginnen. Wie die Dinge lagen war dieſer halbe Erfolg faſt
unvermeidlich. Der König aber empfand es als eine Niederlage, daß er
einen Lieblingsplan vor dem Toben einer doch ſehr unklaren öffentlichen
Meinung großentheils zurückziehen mußte. Zudem war Gerlach aus dem
Rathe der Krone verdrängt und Savigny’s Anſehen ſchwer erſchüttert,
da er nach dritthalbjähriger Arbeit nur ein ſo beſcheidenes Ergebniß ge-
wonnen hatte.

Auch was der König ſonſt noch verſuchte um chriſtliche Sitte zu be-
leben, ſtieß überall auf unüberwindlichen Widerſtand. Mit vollem
Rechte fand er es anſtößig, daß die beſtehenden, ſehr milden Vorſchriften
über die Sonntagsfeier ſo nachläſſig gehandhabt wurden. Die Behörden
zeigten wenig Sinn für das kirchliche Leben, noch weniger für die Be-
drängniß des armen Volkes: was kümmerte ſie der Geſelle und der Ar-
beiter, wenn der Ladenbeſitzer oder der Fabrikant verſicherte, ſein Geſchäft
könne keine Unterbrechung ertragen? Die Zeit ſchien ganz vergeſſen zu
haben, daß der Sabbath die größte ſociale Wohlthat war, welche das Volk
Israel einſt der menſchlichen Cultur gebracht hatte. Wohl nicht ohne
Vorwiſſen des Königs richteten die evangeliſchen Geiſtlichen Berlins in
ſeinem erſten Regierungsjahre „ein Wort der Liebe“ an ihre Gemeinden
um ihnen die Heiligung des Feiertags an’s Herz zu legen und ſie wieder
zu erinnern an die Schleiermacher’ſche Lehre, daß alle Religion ſich nur
in der Gemeinſchaft bethätige. Leider erweckte dieſe warme Anſprache
nur Mißtrauen. Die liberale Preſſe witterte alsbald Unrath; am lau-

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[254/0268] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. Durfte man wagen, mit dieſem im Voraus verleumdeten und verläſterten Geſetze vor die Landtage zu treten? Nach der Verfaſſung mußte mindeſtens der materielle Theil des Entwurfs den Provinzialſtänden vorgelegt werden, weil er in das Perſonenrecht eingriff. Der König ſchwankte; im Miniſterium konnte man ſich nicht einigen, Graf Arnim namentlich beharrte bei ſeinem Widerſpruche. Auch Bunſen, der doch urſprünglich das Unternehmen mit veranlaßt hatte, warnte jetzt, da er Berlin wieder beſuchte, dringend vor der unheildrohenden öffentlichen Stimmung. Da vermochte Friedrich Wilhelm nicht mehr Stand zu halten. Am 28. Juni 1844 wurde plötzlich der kleinere, formale Theil des Ge- ſetzes, der keiner ſtändiſchen Berathung bedurfte, als „Verordnung über das Verfahren in Eheſachen“ veröffentlicht. Es war unzweifelhaft der beſt- gelungene Theil des Werks, eine dankenswerthe Reform, auch darum er- freulich, weil ſie auf die Neugeſtaltung des geſammten Proceſſes hin- deutete. Die Entſcheidung der Scheidungsklagen wurde den Obergerichten übertragen, und das Verfahren ſo frei geſtaltet, daß dem pflichtmäßigen Ermeſſen der Richter ein weiter Spielraum blieb; ſelbſt an die Geſtänd- niſſe der Parteien ſollten ſie, wegen der naheliegenden Gefahr der Col- luſion, nicht unbedingt gebunden ſein. Nach den Erfahrungen der Ober- gerichte dachte man ſpäterhin die Reform des materiellen Eherechts von Neuem zu beginnen. Wie die Dinge lagen war dieſer halbe Erfolg faſt unvermeidlich. Der König aber empfand es als eine Niederlage, daß er einen Lieblingsplan vor dem Toben einer doch ſehr unklaren öffentlichen Meinung großentheils zurückziehen mußte. Zudem war Gerlach aus dem Rathe der Krone verdrängt und Savigny’s Anſehen ſchwer erſchüttert, da er nach dritthalbjähriger Arbeit nur ein ſo beſcheidenes Ergebniß ge- wonnen hatte. Auch was der König ſonſt noch verſuchte um chriſtliche Sitte zu be- leben, ſtieß überall auf unüberwindlichen Widerſtand. Mit vollem Rechte fand er es anſtößig, daß die beſtehenden, ſehr milden Vorſchriften über die Sonntagsfeier ſo nachläſſig gehandhabt wurden. Die Behörden zeigten wenig Sinn für das kirchliche Leben, noch weniger für die Be- drängniß des armen Volkes: was kümmerte ſie der Geſelle und der Ar- beiter, wenn der Ladenbeſitzer oder der Fabrikant verſicherte, ſein Geſchäft könne keine Unterbrechung ertragen? Die Zeit ſchien ganz vergeſſen zu haben, daß der Sabbath die größte ſociale Wohlthat war, welche das Volk Israel einſt der menſchlichen Cultur gebracht hatte. Wohl nicht ohne Vorwiſſen des Königs richteten die evangeliſchen Geiſtlichen Berlins in ſeinem erſten Regierungsjahre „ein Wort der Liebe“ an ihre Gemeinden um ihnen die Heiligung des Feiertags an’s Herz zu legen und ſie wieder zu erinnern an die Schleiermacher’ſche Lehre, daß alle Religion ſich nur in der Gemeinſchaft bethätige. Leider erweckte dieſe warme Anſprache nur Mißtrauen. Die liberale Preſſe witterte alsbald Unrath; am lau-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/268>, abgerufen am 21.11.2024.