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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
lichen Union, die über das Dogma hinwegsehend, allein der Moral, der
Duldsamkeit, der Abwehr ausheimischer Mächte leben sollte. Von der
beseligenden Kraft der göttlichen Verheißung, von dem gemeindebildenden
Drange des lebendigen Glaubens hatte er gar keine Ahnung. Zugleich
zeichnete er hier zuerst die Umrisse einer neuen demokratischen Geschichts-
philosophie, die noch viel Unheil in den Köpfen der Halbdenker anzurichten
bestimmt war. Während die Weltgeschichte sich bisher immer durch die
Wechselwirkung großer Persönlichkeiten und der allgemeinen Zustände fort-
gebildet hatte, durch Männer, die aus den Trümmern alter Welten
eine neue zu formen verstanden, sollte sie im neunzehnten Jahrhundert
plötzlich ihren Charakter verändert haben und sich fortan ohne die Macht
des Genius, allein durch die Meinungen und Leidenschaften der Massen
weiter bewegen. So lautete die neueste Geschichtsoffenbarung; Otto v.
Bismarck war grade dreißig Jahr alt. Gervinus stand nicht an, weiter
zu schließen: die Deutschkatholiken könnten eben darum auf die Zukunft
zählen weil sie so blutarm seien an bedeutenden Männern; und an diesem
Satze hielt er eigenrichtig fest, obgleich doch grade in der Kirchengeschichte
die Macht der Persönlichkeit ganz überwältigend wirkt; denn noch nie und
nirgends ist eine kräftige Religion oder Sekte anders entstanden als durch
die erweckende Kraft gottbegeisterter Apostel und Propheten.

Diese trocken politische Beurtheilung kirchlicher Dinge war so undeutsch,
daß selbst Gervinus' nächste Freunde darüber erschraken. Vor Allen Dahl-
mann. Er hegte, durchweg tiefsinniger und darum bescheidener als sein
jüngerer Freund, von frühauf ein starkes religiöses Gefühl und empfand so
schmerzlich wie einst Niebuhr, daß sein ganzer Bildungsgang ihn dem kirch-
lichen Leben entfremdet hatte. Demüthig sprach er aus: "Auf der Sitten-
lehre läßt sich keine Kirche gründen. Mir kommt es vor, daß diejenigen welche
sich an Christus selbst halten, die Kirche ausmachen. Wenn wir Andern
ein- und ausgehen, wir bringen Zug, aber keine Wärme hinein." Und
der liberale Theolog Thudichum in Büdingen sagte in einer Gegenschrift
ruhig: wo sei denn die aufbauende Kraft der neuen Sekte, da doch die
römische wie die evangelische Kirche trotz allem Zeitungsgeschrei ganz un-
erschüttert dastünde? Aehnlich äußerte sich der Führer der Vermittlungs-
theologen, Ullmann in Heidelberg, ein feiner, sinniger, künstlerisch an-
gelegter Geist. In seinem "Bedenken über die deutsch-katholische Bewegung"
fragte er zweifelnd: wie könne eine dauernde religiöse Gemeinschaft bestehen,
wenn sie nicht wie aus einem Keime herauswüchse aus dem ursprüng-
lichen, vollen Leben eines hervorragenden, geistig gewaltigen Einzelnen? --

Die Zweifler behielten Recht. Schon nach Jahresfrist war der Deutsch-
katholicismus ganz verweltlicht, ganz in den Wirrwarr der radicalen Politik
hinabgesunken. Die Ironie des Schicksals fügte, daß er nur im König-
reich Sachsen tiefe Spuren seines Wirkens hinterlassen sollte, in dem ein-
zigen der größeren deutschen Staaten, der fast gar keine Katholiken ent-

V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
lichen Union, die über das Dogma hinwegſehend, allein der Moral, der
Duldſamkeit, der Abwehr ausheimiſcher Mächte leben ſollte. Von der
beſeligenden Kraft der göttlichen Verheißung, von dem gemeindebildenden
Drange des lebendigen Glaubens hatte er gar keine Ahnung. Zugleich
zeichnete er hier zuerſt die Umriſſe einer neuen demokratiſchen Geſchichts-
philoſophie, die noch viel Unheil in den Köpfen der Halbdenker anzurichten
beſtimmt war. Während die Weltgeſchichte ſich bisher immer durch die
Wechſelwirkung großer Perſönlichkeiten und der allgemeinen Zuſtände fort-
gebildet hatte, durch Männer, die aus den Trümmern alter Welten
eine neue zu formen verſtanden, ſollte ſie im neunzehnten Jahrhundert
plötzlich ihren Charakter verändert haben und ſich fortan ohne die Macht
des Genius, allein durch die Meinungen und Leidenſchaften der Maſſen
weiter bewegen. So lautete die neueſte Geſchichtsoffenbarung; Otto v.
Bismarck war grade dreißig Jahr alt. Gervinus ſtand nicht an, weiter
zu ſchließen: die Deutſchkatholiken könnten eben darum auf die Zukunft
zählen weil ſie ſo blutarm ſeien an bedeutenden Männern; und an dieſem
Satze hielt er eigenrichtig feſt, obgleich doch grade in der Kirchengeſchichte
die Macht der Perſönlichkeit ganz überwältigend wirkt; denn noch nie und
nirgends iſt eine kräftige Religion oder Sekte anders entſtanden als durch
die erweckende Kraft gottbegeiſterter Apoſtel und Propheten.

Dieſe trocken politiſche Beurtheilung kirchlicher Dinge war ſo undeutſch,
daß ſelbſt Gervinus’ nächſte Freunde darüber erſchraken. Vor Allen Dahl-
mann. Er hegte, durchweg tiefſinniger und darum beſcheidener als ſein
jüngerer Freund, von frühauf ein ſtarkes religiöſes Gefühl und empfand ſo
ſchmerzlich wie einſt Niebuhr, daß ſein ganzer Bildungsgang ihn dem kirch-
lichen Leben entfremdet hatte. Demüthig ſprach er aus: „Auf der Sitten-
lehre läßt ſich keine Kirche gründen. Mir kommt es vor, daß diejenigen welche
ſich an Chriſtus ſelbſt halten, die Kirche ausmachen. Wenn wir Andern
ein- und ausgehen, wir bringen Zug, aber keine Wärme hinein.“ Und
der liberale Theolog Thudichum in Büdingen ſagte in einer Gegenſchrift
ruhig: wo ſei denn die aufbauende Kraft der neuen Sekte, da doch die
römiſche wie die evangeliſche Kirche trotz allem Zeitungsgeſchrei ganz un-
erſchüttert daſtünde? Aehnlich äußerte ſich der Führer der Vermittlungs-
theologen, Ullmann in Heidelberg, ein feiner, ſinniger, künſtleriſch an-
gelegter Geiſt. In ſeinem „Bedenken über die deutſch-katholiſche Bewegung“
fragte er zweifelnd: wie könne eine dauernde religiöſe Gemeinſchaft beſtehen,
wenn ſie nicht wie aus einem Keime herauswüchſe aus dem urſprüng-
lichen, vollen Leben eines hervorragenden, geiſtig gewaltigen Einzelnen? —

Die Zweifler behielten Recht. Schon nach Jahresfriſt war der Deutſch-
katholicismus ganz verweltlicht, ganz in den Wirrwarr der radicalen Politik
hinabgeſunken. Die Ironie des Schickſals fügte, daß er nur im König-
reich Sachſen tiefe Spuren ſeines Wirkens hinterlaſſen ſollte, in dem ein-
zigen der größeren deutſchen Staaten, der faſt gar keine Katholiken ent-

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[340/0354] V. 4. Die Parteiung in der Kirche. lichen Union, die über das Dogma hinwegſehend, allein der Moral, der Duldſamkeit, der Abwehr ausheimiſcher Mächte leben ſollte. Von der beſeligenden Kraft der göttlichen Verheißung, von dem gemeindebildenden Drange des lebendigen Glaubens hatte er gar keine Ahnung. Zugleich zeichnete er hier zuerſt die Umriſſe einer neuen demokratiſchen Geſchichts- philoſophie, die noch viel Unheil in den Köpfen der Halbdenker anzurichten beſtimmt war. Während die Weltgeſchichte ſich bisher immer durch die Wechſelwirkung großer Perſönlichkeiten und der allgemeinen Zuſtände fort- gebildet hatte, durch Männer, die aus den Trümmern alter Welten eine neue zu formen verſtanden, ſollte ſie im neunzehnten Jahrhundert plötzlich ihren Charakter verändert haben und ſich fortan ohne die Macht des Genius, allein durch die Meinungen und Leidenſchaften der Maſſen weiter bewegen. So lautete die neueſte Geſchichtsoffenbarung; Otto v. Bismarck war grade dreißig Jahr alt. Gervinus ſtand nicht an, weiter zu ſchließen: die Deutſchkatholiken könnten eben darum auf die Zukunft zählen weil ſie ſo blutarm ſeien an bedeutenden Männern; und an dieſem Satze hielt er eigenrichtig feſt, obgleich doch grade in der Kirchengeſchichte die Macht der Perſönlichkeit ganz überwältigend wirkt; denn noch nie und nirgends iſt eine kräftige Religion oder Sekte anders entſtanden als durch die erweckende Kraft gottbegeiſterter Apoſtel und Propheten. Dieſe trocken politiſche Beurtheilung kirchlicher Dinge war ſo undeutſch, daß ſelbſt Gervinus’ nächſte Freunde darüber erſchraken. Vor Allen Dahl- mann. Er hegte, durchweg tiefſinniger und darum beſcheidener als ſein jüngerer Freund, von frühauf ein ſtarkes religiöſes Gefühl und empfand ſo ſchmerzlich wie einſt Niebuhr, daß ſein ganzer Bildungsgang ihn dem kirch- lichen Leben entfremdet hatte. Demüthig ſprach er aus: „Auf der Sitten- lehre läßt ſich keine Kirche gründen. Mir kommt es vor, daß diejenigen welche ſich an Chriſtus ſelbſt halten, die Kirche ausmachen. Wenn wir Andern ein- und ausgehen, wir bringen Zug, aber keine Wärme hinein.“ Und der liberale Theolog Thudichum in Büdingen ſagte in einer Gegenſchrift ruhig: wo ſei denn die aufbauende Kraft der neuen Sekte, da doch die römiſche wie die evangeliſche Kirche trotz allem Zeitungsgeſchrei ganz un- erſchüttert daſtünde? Aehnlich äußerte ſich der Führer der Vermittlungs- theologen, Ullmann in Heidelberg, ein feiner, ſinniger, künſtleriſch an- gelegter Geiſt. In ſeinem „Bedenken über die deutſch-katholiſche Bewegung“ fragte er zweifelnd: wie könne eine dauernde religiöſe Gemeinſchaft beſtehen, wenn ſie nicht wie aus einem Keime herauswüchſe aus dem urſprüng- lichen, vollen Leben eines hervorragenden, geiſtig gewaltigen Einzelnen? — Die Zweifler behielten Recht. Schon nach Jahresfriſt war der Deutſch- katholicismus ganz verweltlicht, ganz in den Wirrwarr der radicalen Politik hinabgeſunken. Die Ironie des Schickſals fügte, daß er nur im König- reich Sachſen tiefe Spuren ſeines Wirkens hinterlaſſen ſollte, in dem ein- zigen der größeren deutſchen Staaten, der faſt gar keine Katholiken ent-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/354>, abgerufen am 21.11.2024.