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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und Geschichtsforschung doch gar nicht wegleugnen ließ. Sehr tief wurzelte
in den Massen jener alte gutmüthige Rationalismus, der, nach der Weise
des bekannten "vergnügten" Katechismus der Holsten, die sittliche Aufgabe
der Menschheit in einem vergnügten, bürgerlich achtbaren Leben suchte.
Den frommen westpreußischen Dichter Bogumil Goltz faßte gradezu ein
Schauder, wenn er dies so ganz im Diesseits aufgehende, aller Heiligung
entfremdete Geschlecht betrachtete, und er verkündete seine Warnungen in
einer geistvollen, leider formlosen Schrift: Deutschlands Entartung in
der lichtfreundlichen und modernen Lebensart. Hinter den Rationalisten
stand die breite Masse der Unzufriedenen. Irgendwie mußte sich der
Groll über die Stockung des öffentlichen Lebens doch Luft machen. Hier
in den alten Lutherlanden warf er sich zunächst auf die kirchlichen Fragen.
Dies Land alter Cultur und starker geistiger Regsamkeit trat später
als alle andern preußischen Provinzen in die Kämpfe des Staatslebens
ein. Als aber die politische Leidenschaft dann endlich erwachte, da
verschwand die religiöse Parteiung ebenso schnell, wie sie gekommen war,
weil sie doch mehr in dem unbestimmten Gefühle allgemeinen Mißmuths
als in der Empörung des Gewissens ihre Wurzeln hatte. Zur selben
Zeit entbrannte auch in Königsberg der kirchliche Streit; der Divisions-
prediger Rupp bekämpfte vor seinen Soldaten das athanasianische Glaubens-
bekenntniß und wurde dafür von Jacoby's Judenkreise mit schadenfrohem
Lobe überschüttet, von dem Consistorium aber, auf Andringen des frommen
Generals Dohna, zur Rechenschaft gezogen. Auch Rupp war ein sehr
achtungswerther, im Grunde des Herzens christlich gesinnter Geistlicher,
höher gebildet als die beiden Sachsen; der rücksichtslose Wahrheitsdrang,
der so tief im Wesen des Protestantismus liegt, verleitete ihn, die Kanzel
mit dem Katheder zu verwechseln und seiner Heerde statt des Brodes der
Erbauung den Stein theologischer Kritik zu bieten.

Der Kampf ward heftiger, als Wislicenus auf einer Köthener Ver-
sammlung (1844) die Frage stellte: ob Schrift, ob Geist? -- und rund-
weg antwortete: unsere Lehre ist nicht schriftgemäß. Da erhoben sich die
Hallenser Orthodoxen, die dort in der theologischen Facultät den alters-
schwachen Rationalismus schon fast ganz überwunden hatten: voran Gue-
ricke, der einst verfolgte, erst kürzlich wieder eingesetzte strenge Lutheraner,
ein Mann ohne alle Menschenfurcht, in der Politik fast radical, in seinem
religiösen Wunderglauben so folgerecht, daß ihm selbst Bileam's redender
Esel keine Bedenken erregte. Nachher hielt Tholuck Zeitpredigten wider
den Unglauben, tapfer und beredt, aus der Fülle seines frommen Ge-
müthes heraus, aber auch hart und ungerecht gegen die Weltanschauung
des fridericianischen Zeitalters. Unterdessen begann Hengstenberg's Kirchen-
zeitung Lärm zu schlagen; Hunderte von Geistlichen, Pastor Büchsel voran,
erklärten in ihren Spalten, daß sie dem ungläubigen Wislicenus die
Pastoralgemeinschaft aufsagen müßten. So wunderlich hatten die Zeiten

V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und Geſchichtsforſchung doch gar nicht wegleugnen ließ. Sehr tief wurzelte
in den Maſſen jener alte gutmüthige Rationalismus, der, nach der Weiſe
des bekannten „vergnügten“ Katechismus der Holſten, die ſittliche Aufgabe
der Menſchheit in einem vergnügten, bürgerlich achtbaren Leben ſuchte.
Den frommen weſtpreußiſchen Dichter Bogumil Goltz faßte gradezu ein
Schauder, wenn er dies ſo ganz im Dieſſeits aufgehende, aller Heiligung
entfremdete Geſchlecht betrachtete, und er verkündete ſeine Warnungen in
einer geiſtvollen, leider formloſen Schrift: Deutſchlands Entartung in
der lichtfreundlichen und modernen Lebensart. Hinter den Rationaliſten
ſtand die breite Maſſe der Unzufriedenen. Irgendwie mußte ſich der
Groll über die Stockung des öffentlichen Lebens doch Luft machen. Hier
in den alten Lutherlanden warf er ſich zunächſt auf die kirchlichen Fragen.
Dies Land alter Cultur und ſtarker geiſtiger Regſamkeit trat ſpäter
als alle andern preußiſchen Provinzen in die Kämpfe des Staatslebens
ein. Als aber die politiſche Leidenſchaft dann endlich erwachte, da
verſchwand die religiöſe Parteiung ebenſo ſchnell, wie ſie gekommen war,
weil ſie doch mehr in dem unbeſtimmten Gefühle allgemeinen Mißmuths
als in der Empörung des Gewiſſens ihre Wurzeln hatte. Zur ſelben
Zeit entbrannte auch in Königsberg der kirchliche Streit; der Diviſions-
prediger Rupp bekämpfte vor ſeinen Soldaten das athanaſianiſche Glaubens-
bekenntniß und wurde dafür von Jacoby’s Judenkreiſe mit ſchadenfrohem
Lobe überſchüttet, von dem Conſiſtorium aber, auf Andringen des frommen
Generals Dohna, zur Rechenſchaft gezogen. Auch Rupp war ein ſehr
achtungswerther, im Grunde des Herzens chriſtlich geſinnter Geiſtlicher,
höher gebildet als die beiden Sachſen; der rückſichtsloſe Wahrheitsdrang,
der ſo tief im Weſen des Proteſtantismus liegt, verleitete ihn, die Kanzel
mit dem Katheder zu verwechſeln und ſeiner Heerde ſtatt des Brodes der
Erbauung den Stein theologiſcher Kritik zu bieten.

Der Kampf ward heftiger, als Wislicenus auf einer Köthener Ver-
ſammlung (1844) die Frage ſtellte: ob Schrift, ob Geiſt? — und rund-
weg antwortete: unſere Lehre iſt nicht ſchriftgemäß. Da erhoben ſich die
Hallenſer Orthodoxen, die dort in der theologiſchen Facultät den alters-
ſchwachen Rationalismus ſchon faſt ganz überwunden hatten: voran Gue-
ricke, der einſt verfolgte, erſt kürzlich wieder eingeſetzte ſtrenge Lutheraner,
ein Mann ohne alle Menſchenfurcht, in der Politik faſt radical, in ſeinem
religiöſen Wunderglauben ſo folgerecht, daß ihm ſelbſt Bileam’s redender
Eſel keine Bedenken erregte. Nachher hielt Tholuck Zeitpredigten wider
den Unglauben, tapfer und beredt, aus der Fülle ſeines frommen Ge-
müthes heraus, aber auch hart und ungerecht gegen die Weltanſchauung
des fridericianiſchen Zeitalters. Unterdeſſen begann Hengſtenberg’s Kirchen-
zeitung Lärm zu ſchlagen; Hunderte von Geiſtlichen, Paſtor Büchſel voran,
erklärten in ihren Spalten, daß ſie dem ungläubigen Wislicenus die
Paſtoralgemeinſchaft aufſagen müßten. So wunderlich hatten die Zeiten

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[352/0366] V. 4. Die Parteiung in der Kirche. und Geſchichtsforſchung doch gar nicht wegleugnen ließ. Sehr tief wurzelte in den Maſſen jener alte gutmüthige Rationalismus, der, nach der Weiſe des bekannten „vergnügten“ Katechismus der Holſten, die ſittliche Aufgabe der Menſchheit in einem vergnügten, bürgerlich achtbaren Leben ſuchte. Den frommen weſtpreußiſchen Dichter Bogumil Goltz faßte gradezu ein Schauder, wenn er dies ſo ganz im Dieſſeits aufgehende, aller Heiligung entfremdete Geſchlecht betrachtete, und er verkündete ſeine Warnungen in einer geiſtvollen, leider formloſen Schrift: Deutſchlands Entartung in der lichtfreundlichen und modernen Lebensart. Hinter den Rationaliſten ſtand die breite Maſſe der Unzufriedenen. Irgendwie mußte ſich der Groll über die Stockung des öffentlichen Lebens doch Luft machen. Hier in den alten Lutherlanden warf er ſich zunächſt auf die kirchlichen Fragen. Dies Land alter Cultur und ſtarker geiſtiger Regſamkeit trat ſpäter als alle andern preußiſchen Provinzen in die Kämpfe des Staatslebens ein. Als aber die politiſche Leidenſchaft dann endlich erwachte, da verſchwand die religiöſe Parteiung ebenſo ſchnell, wie ſie gekommen war, weil ſie doch mehr in dem unbeſtimmten Gefühle allgemeinen Mißmuths als in der Empörung des Gewiſſens ihre Wurzeln hatte. Zur ſelben Zeit entbrannte auch in Königsberg der kirchliche Streit; der Diviſions- prediger Rupp bekämpfte vor ſeinen Soldaten das athanaſianiſche Glaubens- bekenntniß und wurde dafür von Jacoby’s Judenkreiſe mit ſchadenfrohem Lobe überſchüttet, von dem Conſiſtorium aber, auf Andringen des frommen Generals Dohna, zur Rechenſchaft gezogen. Auch Rupp war ein ſehr achtungswerther, im Grunde des Herzens chriſtlich geſinnter Geiſtlicher, höher gebildet als die beiden Sachſen; der rückſichtsloſe Wahrheitsdrang, der ſo tief im Weſen des Proteſtantismus liegt, verleitete ihn, die Kanzel mit dem Katheder zu verwechſeln und ſeiner Heerde ſtatt des Brodes der Erbauung den Stein theologiſcher Kritik zu bieten. Der Kampf ward heftiger, als Wislicenus auf einer Köthener Ver- ſammlung (1844) die Frage ſtellte: ob Schrift, ob Geiſt? — und rund- weg antwortete: unſere Lehre iſt nicht ſchriftgemäß. Da erhoben ſich die Hallenſer Orthodoxen, die dort in der theologiſchen Facultät den alters- ſchwachen Rationalismus ſchon faſt ganz überwunden hatten: voran Gue- ricke, der einſt verfolgte, erſt kürzlich wieder eingeſetzte ſtrenge Lutheraner, ein Mann ohne alle Menſchenfurcht, in der Politik faſt radical, in ſeinem religiöſen Wunderglauben ſo folgerecht, daß ihm ſelbſt Bileam’s redender Eſel keine Bedenken erregte. Nachher hielt Tholuck Zeitpredigten wider den Unglauben, tapfer und beredt, aus der Fülle ſeines frommen Ge- müthes heraus, aber auch hart und ungerecht gegen die Weltanſchauung des fridericianiſchen Zeitalters. Unterdeſſen begann Hengſtenberg’s Kirchen- zeitung Lärm zu ſchlagen; Hunderte von Geiſtlichen, Paſtor Büchſel voran, erklärten in ihren Spalten, daß ſie dem ungläubigen Wislicenus die Paſtoralgemeinſchaft aufſagen müßten. So wunderlich hatten die Zeiten

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/366>, abgerufen am 21.11.2024.