einer langen Denkschrift, die des Königs vollen Beifall fand, führte Thile aus: das Bekenntniß bilde den einzigen Boden für das staatsrechtliche Dasein der evangelischen Kirche; träte selbst die Hälfte ihrer Mitglieder aus, so würde die andere Hälfte um so fester zusammenhalten, wie das Beispiel der Altlutheraner bewiese. Nicht wir, so schloß er, wollen richten, wer noch evangelisch sei, sondern nur denen die Thür öffnen, die sich selbst für abgefallen bekennen.*)
Von solchem Bekenntniß waren die Lichtfreunde jedoch weit entfernt; sie behaupteten vielmehr gute evangelische Christen zu sein. Freiheit in der Kirche, nicht außer der Kirche! -- so lautete ihr Feldgeschrei. Die katholische Kirche begnügte sich neuerdings, gleich der weltlichen Staats- gewalt, meist mit dem äußerlichen Gehorsam, mit der Befolgung ihrer Satzungen und Formen, und erwies durch diese mehr politische als kirch- liche Behandlung des religiösen Lebens doch den Zweifelnden und Schwan- kenden einige Schonung. Der Protestantismus hingegen, der den Glauben so viel tiefsinniger und innerlicher auffaßte, mußte ebendeßhalb sofort zu den Machtmitteln des Gewissensdrucks greifen, wenn er versuchte, die Treuen von den Ungetreuen zu scheiden. Also geschah es, daß dieser König, der die Gewissensfreiheit so hoch hielt, gehässige Lehrprocesse gegen die Lichtfreunde einleiten ließ, damit sie selbst ihren Unglauben eingestünden und dann der Freiheit des Unglaubens preisgegeben würden. Nach dem bestehenden Kirchenrechte war er dazu unzweifelhaft befugt. Er verkannte jedoch, daß solche Religionsgespräche niemals ein überzeugendes Ergebniß haben, weil die Gemüthswahrheiten des Glaubens nur erlebt, nicht be- wiesen werden können; er verkannte, daß nicht jedem Menschen der gleiche Drang und die gleiche Kraft des Glaubens verliehen ist; und wie er Alles persönlich nahm, so betrachtete er die Geistlichen, die ihm "der Apostasie vom christlichen Glauben" schuldig schienen, kurzweg als Eidvergessene.**) So mußten denn der ehrwürdige strenglutherische Superintendent Heubner, Twesten und andere Theologen in Wittenberg, ganz nach der Weise des siebzehnten Jahrhunderts, ein Colloquium mit Wislicenus abhalten; auch Rupp in Königsberg und Archidiaconus Krause in Breslau wurden solchen Verhören unterworfen. Alle Angeschuldigten behaupteten, daß sie durch ihre Auslegung der Dogmen nur das gute Recht evangelischer Freiheit bethätigt hätten.***)
Mittlerweile tobte der Kampf zwischen Hengstenberg und den Licht- freunden weiter, und zum Kummer des Königs erklärte sich jetzt auch eine unbestreitbar kirchlich gesinnte Mittelpartei wider die Verfolgungssucht der Orthodoxen. Bischof Dräseke, der soeben erst durch die sächsischen Rationa-
*) Thile's Denkschrift über die Lichtfreunde, 16. Aug. 1845.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 29. Nov. 1845.
***) Snethlage und Twesten, Bericht über das Wittenberger Colloquium, 16. Mai 1845.
V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
einer langen Denkſchrift, die des Königs vollen Beifall fand, führte Thile aus: das Bekenntniß bilde den einzigen Boden für das ſtaatsrechtliche Daſein der evangeliſchen Kirche; träte ſelbſt die Hälfte ihrer Mitglieder aus, ſo würde die andere Hälfte um ſo feſter zuſammenhalten, wie das Beiſpiel der Altlutheraner bewieſe. Nicht wir, ſo ſchloß er, wollen richten, wer noch evangeliſch ſei, ſondern nur denen die Thür öffnen, die ſich ſelbſt für abgefallen bekennen.*)
Von ſolchem Bekenntniß waren die Lichtfreunde jedoch weit entfernt; ſie behaupteten vielmehr gute evangeliſche Chriſten zu ſein. Freiheit in der Kirche, nicht außer der Kirche! — ſo lautete ihr Feldgeſchrei. Die katholiſche Kirche begnügte ſich neuerdings, gleich der weltlichen Staats- gewalt, meiſt mit dem äußerlichen Gehorſam, mit der Befolgung ihrer Satzungen und Formen, und erwies durch dieſe mehr politiſche als kirch- liche Behandlung des religiöſen Lebens doch den Zweifelnden und Schwan- kenden einige Schonung. Der Proteſtantismus hingegen, der den Glauben ſo viel tiefſinniger und innerlicher auffaßte, mußte ebendeßhalb ſofort zu den Machtmitteln des Gewiſſensdrucks greifen, wenn er verſuchte, die Treuen von den Ungetreuen zu ſcheiden. Alſo geſchah es, daß dieſer König, der die Gewiſſensfreiheit ſo hoch hielt, gehäſſige Lehrproceſſe gegen die Lichtfreunde einleiten ließ, damit ſie ſelbſt ihren Unglauben eingeſtünden und dann der Freiheit des Unglaubens preisgegeben würden. Nach dem beſtehenden Kirchenrechte war er dazu unzweifelhaft befugt. Er verkannte jedoch, daß ſolche Religionsgeſpräche niemals ein überzeugendes Ergebniß haben, weil die Gemüthswahrheiten des Glaubens nur erlebt, nicht be- wieſen werden können; er verkannte, daß nicht jedem Menſchen der gleiche Drang und die gleiche Kraft des Glaubens verliehen iſt; und wie er Alles perſönlich nahm, ſo betrachtete er die Geiſtlichen, die ihm „der Apoſtaſie vom chriſtlichen Glauben“ ſchuldig ſchienen, kurzweg als Eidvergeſſene.**) So mußten denn der ehrwürdige ſtrenglutheriſche Superintendent Heubner, Tweſten und andere Theologen in Wittenberg, ganz nach der Weiſe des ſiebzehnten Jahrhunderts, ein Colloquium mit Wislicenus abhalten; auch Rupp in Königsberg und Archidiaconus Krauſe in Breslau wurden ſolchen Verhören unterworfen. Alle Angeſchuldigten behaupteten, daß ſie durch ihre Auslegung der Dogmen nur das gute Recht evangeliſcher Freiheit bethätigt hätten.***)
Mittlerweile tobte der Kampf zwiſchen Hengſtenberg und den Licht- freunden weiter, und zum Kummer des Königs erklärte ſich jetzt auch eine unbeſtreitbar kirchlich geſinnte Mittelpartei wider die Verfolgungsſucht der Orthodoxen. Biſchof Dräſeke, der ſoeben erſt durch die ſächſiſchen Rationa-
*) Thile’s Denkſchrift über die Lichtfreunde, 16. Aug. 1845.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 29. Nov. 1845.
***) Snethlage und Tweſten, Bericht über das Wittenberger Colloquium, 16. Mai 1845.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0368"n="354"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 4. Die Parteiung in der Kirche.</fw><lb/>
einer langen Denkſchrift, die des Königs vollen Beifall fand, führte Thile<lb/>
aus: das Bekenntniß bilde den einzigen Boden für das ſtaatsrechtliche<lb/>
Daſein der evangeliſchen Kirche; träte ſelbſt die Hälfte ihrer Mitglieder<lb/>
aus, ſo würde die andere Hälfte um ſo feſter zuſammenhalten, wie das<lb/>
Beiſpiel der Altlutheraner bewieſe. Nicht wir, ſo ſchloß er, wollen richten,<lb/>
wer noch evangeliſch ſei, ſondern nur denen die Thür öffnen, die ſich<lb/>ſelbſt für abgefallen bekennen.<noteplace="foot"n="*)">Thile’s Denkſchrift über die Lichtfreunde, 16. Aug. 1845.</note></p><lb/><p>Von ſolchem Bekenntniß waren die Lichtfreunde jedoch weit entfernt;<lb/>ſie behaupteten vielmehr gute evangeliſche Chriſten zu ſein. Freiheit in<lb/>
der Kirche, nicht außer der Kirche! —ſo lautete ihr Feldgeſchrei. Die<lb/>
katholiſche Kirche begnügte ſich neuerdings, gleich der weltlichen Staats-<lb/>
gewalt, meiſt mit dem äußerlichen Gehorſam, mit der Befolgung ihrer<lb/>
Satzungen und Formen, und erwies durch dieſe mehr politiſche als kirch-<lb/>
liche Behandlung des religiöſen Lebens doch den Zweifelnden und Schwan-<lb/>
kenden einige Schonung. Der Proteſtantismus hingegen, der den Glauben<lb/>ſo viel tiefſinniger und innerlicher auffaßte, mußte ebendeßhalb ſofort zu<lb/>
den Machtmitteln des Gewiſſensdrucks greifen, wenn er verſuchte, die<lb/>
Treuen von den Ungetreuen zu ſcheiden. Alſo geſchah es, daß dieſer König,<lb/>
der die Gewiſſensfreiheit ſo hoch hielt, gehäſſige Lehrproceſſe gegen die<lb/>
Lichtfreunde einleiten ließ, damit ſie ſelbſt ihren Unglauben eingeſtünden<lb/>
und dann der Freiheit des Unglaubens preisgegeben würden. Nach dem<lb/>
beſtehenden Kirchenrechte war er dazu unzweifelhaft befugt. Er verkannte<lb/>
jedoch, daß ſolche Religionsgeſpräche niemals ein überzeugendes Ergebniß<lb/>
haben, weil die Gemüthswahrheiten des Glaubens nur erlebt, nicht be-<lb/>
wieſen werden können; er verkannte, daß nicht jedem Menſchen der gleiche<lb/>
Drang und die gleiche Kraft des Glaubens verliehen iſt; und wie er Alles<lb/>
perſönlich nahm, ſo betrachtete er die Geiſtlichen, die ihm „der Apoſtaſie<lb/>
vom chriſtlichen Glauben“ſchuldig ſchienen, kurzweg als Eidvergeſſene.<noteplace="foot"n="**)">König Friedrich Wilhelm an Thile, 29. Nov. 1845.</note><lb/>
So mußten denn der ehrwürdige ſtrenglutheriſche Superintendent Heubner,<lb/>
Tweſten und andere Theologen in Wittenberg, ganz nach der Weiſe des<lb/>ſiebzehnten Jahrhunderts, ein Colloquium mit Wislicenus abhalten; auch<lb/>
Rupp in Königsberg und Archidiaconus Krauſe in Breslau wurden ſolchen<lb/>
Verhören unterworfen. Alle Angeſchuldigten behaupteten, daß ſie durch<lb/>
ihre Auslegung der Dogmen nur das gute Recht evangeliſcher Freiheit<lb/>
bethätigt hätten.<noteplace="foot"n="***)">Snethlage und Tweſten, Bericht über das Wittenberger Colloquium, 16. Mai<lb/>
1845.</note></p><lb/><p>Mittlerweile tobte der Kampf zwiſchen Hengſtenberg und den Licht-<lb/>
freunden weiter, und zum Kummer des Königs erklärte ſich jetzt auch eine<lb/>
unbeſtreitbar kirchlich geſinnte Mittelpartei wider die Verfolgungsſucht der<lb/>
Orthodoxen. Biſchof Dräſeke, der ſoeben erſt durch die ſächſiſchen Rationa-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[354/0368]
V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
einer langen Denkſchrift, die des Königs vollen Beifall fand, führte Thile
aus: das Bekenntniß bilde den einzigen Boden für das ſtaatsrechtliche
Daſein der evangeliſchen Kirche; träte ſelbſt die Hälfte ihrer Mitglieder
aus, ſo würde die andere Hälfte um ſo feſter zuſammenhalten, wie das
Beiſpiel der Altlutheraner bewieſe. Nicht wir, ſo ſchloß er, wollen richten,
wer noch evangeliſch ſei, ſondern nur denen die Thür öffnen, die ſich
ſelbſt für abgefallen bekennen. *)
Von ſolchem Bekenntniß waren die Lichtfreunde jedoch weit entfernt;
ſie behaupteten vielmehr gute evangeliſche Chriſten zu ſein. Freiheit in
der Kirche, nicht außer der Kirche! — ſo lautete ihr Feldgeſchrei. Die
katholiſche Kirche begnügte ſich neuerdings, gleich der weltlichen Staats-
gewalt, meiſt mit dem äußerlichen Gehorſam, mit der Befolgung ihrer
Satzungen und Formen, und erwies durch dieſe mehr politiſche als kirch-
liche Behandlung des religiöſen Lebens doch den Zweifelnden und Schwan-
kenden einige Schonung. Der Proteſtantismus hingegen, der den Glauben
ſo viel tiefſinniger und innerlicher auffaßte, mußte ebendeßhalb ſofort zu
den Machtmitteln des Gewiſſensdrucks greifen, wenn er verſuchte, die
Treuen von den Ungetreuen zu ſcheiden. Alſo geſchah es, daß dieſer König,
der die Gewiſſensfreiheit ſo hoch hielt, gehäſſige Lehrproceſſe gegen die
Lichtfreunde einleiten ließ, damit ſie ſelbſt ihren Unglauben eingeſtünden
und dann der Freiheit des Unglaubens preisgegeben würden. Nach dem
beſtehenden Kirchenrechte war er dazu unzweifelhaft befugt. Er verkannte
jedoch, daß ſolche Religionsgeſpräche niemals ein überzeugendes Ergebniß
haben, weil die Gemüthswahrheiten des Glaubens nur erlebt, nicht be-
wieſen werden können; er verkannte, daß nicht jedem Menſchen der gleiche
Drang und die gleiche Kraft des Glaubens verliehen iſt; und wie er Alles
perſönlich nahm, ſo betrachtete er die Geiſtlichen, die ihm „der Apoſtaſie
vom chriſtlichen Glauben“ ſchuldig ſchienen, kurzweg als Eidvergeſſene. **)
So mußten denn der ehrwürdige ſtrenglutheriſche Superintendent Heubner,
Tweſten und andere Theologen in Wittenberg, ganz nach der Weiſe des
ſiebzehnten Jahrhunderts, ein Colloquium mit Wislicenus abhalten; auch
Rupp in Königsberg und Archidiaconus Krauſe in Breslau wurden ſolchen
Verhören unterworfen. Alle Angeſchuldigten behaupteten, daß ſie durch
ihre Auslegung der Dogmen nur das gute Recht evangeliſcher Freiheit
bethätigt hätten. ***)
Mittlerweile tobte der Kampf zwiſchen Hengſtenberg und den Licht-
freunden weiter, und zum Kummer des Königs erklärte ſich jetzt auch eine
unbeſtreitbar kirchlich geſinnte Mittelpartei wider die Verfolgungsſucht der
Orthodoxen. Biſchof Dräſeke, der ſoeben erſt durch die ſächſiſchen Rationa-
*) Thile’s Denkſchrift über die Lichtfreunde, 16. Aug. 1845.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 29. Nov. 1845.
***) Snethlage und Tweſten, Bericht über das Wittenberger Colloquium, 16. Mai
1845.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/368>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.