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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Hebbel.
die höchsten Ziele, suchte stets große sittliche Probleme dramatisch zu ge-
stalten und entsprach dem realistischen Zuge des Zeitalters durch die un-
erbittlich strenge, folgerechte, alle Phrase verschmähende Durchbildung seiner
Charaktere. Aber sein Schaffen war zu bewußt, seine Gestalten selbst wußten
sich zu viel mit ihrer Eigenart, jedes ihrer Worte klang so scharf berechnet,
daß ihnen die naive Freiheit, der Reiz des Unmittelbaren verloren ging;
und obwohl die gedrungene Composition, die mächtig aufsteigende Handlung,
der erschütternde Schluß einen starken theatralischen Erfolg zu erzwingen
schienen, so fehlte ihm doch der Sinn für das Gemeinverständliche, der
alle Bühnenwirkung bedingt; die krankhaften, verschlungenen, bis zur Un-
geheuerlichkeit seltsamen Seelenkämpfe, die er darzustellen liebte, konnten
schlichte Hörer nur befremden. Verwirrend und berauschend wirkte sein
erstes Drama Judith. Hebbel fühlte scharf heraus, daß diese von dem naiven
Gattungsgefühle des Alterthums schlechthin bewunderte epische Heldin uns
Modernen als eine tragische Gestalt erscheinen muß, weil unser freies
christliches Gewissen die blinde Hingebung des Einzelnen an das Volks-
ganze nicht mehr für eine unbedingte Pflicht ansieht, und erregte nun in
der Seele des gräßlichen Weibes einen Sturm widersprechender Empfin-
dungen, aus denen die nervöse Sinnlichkeit des Zeitalters zuletzt so über-
mächtig hervortrat, daß ein reines tragisches Mitleid nicht mehr aufkam.

Sein wirksamstes Drama war Maria Magdalena, ein bürgerliches
Trauerspiel, das durch die Wucht der Leidenschaft, die gewaltsame Span-
nung lebhaft an Kabale und Liebe erinnerte. Hier wagte Hebbel aus der
Noth eine Tugend zu machen; er wagte "die schreckliche Gebundenheit in der
Einseitigkeit" -- jene Klippe, woran so viele bürgerliche Dramen und Dorf-
geschichten scheiterten -- selber zum Mittelpunkte des tragischen Kampfes
zu erheben. An der Grausamkeit der kleinbürgerlichen Ehrbegriffe ließ
er seine Heldin untergehen, und in dem harten, borstigen Meister Anton
schuf er eine Gestalt, die sich dem alten Miller vergleichen durfte. Aber
auch hier blieb zuletzt kein reiner Eindruck zurück, weil die Schuld der
Heldin so unnatürlich, so seltsam erklügelt war. Nachher zog sich Hebbel
verstimmt von der Bühne zurück, in eine bewußte und gewollte Verein-
samung, die dem Dramatiker stets verderblich wird. Umgeben von einer
kleinen Schaar fanatischer Verehrer, die seinen Hochmuth bis zum Ueber-
maße steigerten, brütete er lange über einer neuen, unmöglichen Kunstform,
der Tragikomödie. Erst nach vielen Jahren qualvollen Ringens fand
er den Glauben an einfachere Ideale wieder und die Kraft zu dauernden
Werken -- ein großangelegter, tiefsinniger Dichtergeist, ein echter Sohn
dieser Hohes suchenden, wenig vollendenden Tage.

Die rechte Herzensfreudigkeit des glücklich schaffenden Dichters besaß
unter allen den neuen Dramatikern nur Einer, der Schlesier Gustav Freytag.
Wie tapfer und bewußt er auch theilnahm an allen den geistigen und poli-
tischen Kämpfen seiner hoch erregten Zeit, immer bewahrte er sich doch jene

Hebbel.
die höchſten Ziele, ſuchte ſtets große ſittliche Probleme dramatiſch zu ge-
ſtalten und entſprach dem realiſtiſchen Zuge des Zeitalters durch die un-
erbittlich ſtrenge, folgerechte, alle Phraſe verſchmähende Durchbildung ſeiner
Charaktere. Aber ſein Schaffen war zu bewußt, ſeine Geſtalten ſelbſt wußten
ſich zu viel mit ihrer Eigenart, jedes ihrer Worte klang ſo ſcharf berechnet,
daß ihnen die naive Freiheit, der Reiz des Unmittelbaren verloren ging;
und obwohl die gedrungene Compoſition, die mächtig aufſteigende Handlung,
der erſchütternde Schluß einen ſtarken theatraliſchen Erfolg zu erzwingen
ſchienen, ſo fehlte ihm doch der Sinn für das Gemeinverſtändliche, der
alle Bühnenwirkung bedingt; die krankhaften, verſchlungenen, bis zur Un-
geheuerlichkeit ſeltſamen Seelenkämpfe, die er darzuſtellen liebte, konnten
ſchlichte Hörer nur befremden. Verwirrend und berauſchend wirkte ſein
erſtes Drama Judith. Hebbel fühlte ſcharf heraus, daß dieſe von dem naiven
Gattungsgefühle des Alterthums ſchlechthin bewunderte epiſche Heldin uns
Modernen als eine tragiſche Geſtalt erſcheinen muß, weil unſer freies
chriſtliches Gewiſſen die blinde Hingebung des Einzelnen an das Volks-
ganze nicht mehr für eine unbedingte Pflicht anſieht, und erregte nun in
der Seele des gräßlichen Weibes einen Sturm widerſprechender Empfin-
dungen, aus denen die nervöſe Sinnlichkeit des Zeitalters zuletzt ſo über-
mächtig hervortrat, daß ein reines tragiſches Mitleid nicht mehr aufkam.

Sein wirkſamſtes Drama war Maria Magdalena, ein bürgerliches
Trauerſpiel, das durch die Wucht der Leidenſchaft, die gewaltſame Span-
nung lebhaft an Kabale und Liebe erinnerte. Hier wagte Hebbel aus der
Noth eine Tugend zu machen; er wagte „die ſchreckliche Gebundenheit in der
Einſeitigkeit“ — jene Klippe, woran ſo viele bürgerliche Dramen und Dorf-
geſchichten ſcheiterten — ſelber zum Mittelpunkte des tragiſchen Kampfes
zu erheben. An der Grauſamkeit der kleinbürgerlichen Ehrbegriffe ließ
er ſeine Heldin untergehen, und in dem harten, borſtigen Meiſter Anton
ſchuf er eine Geſtalt, die ſich dem alten Miller vergleichen durfte. Aber
auch hier blieb zuletzt kein reiner Eindruck zurück, weil die Schuld der
Heldin ſo unnatürlich, ſo ſeltſam erklügelt war. Nachher zog ſich Hebbel
verſtimmt von der Bühne zurück, in eine bewußte und gewollte Verein-
ſamung, die dem Dramatiker ſtets verderblich wird. Umgeben von einer
kleinen Schaar fanatiſcher Verehrer, die ſeinen Hochmuth bis zum Ueber-
maße ſteigerten, brütete er lange über einer neuen, unmöglichen Kunſtform,
der Tragikomödie. Erſt nach vielen Jahren qualvollen Ringens fand
er den Glauben an einfachere Ideale wieder und die Kraft zu dauernden
Werken — ein großangelegter, tiefſinniger Dichtergeiſt, ein echter Sohn
dieſer Hohes ſuchenden, wenig vollendenden Tage.

Die rechte Herzensfreudigkeit des glücklich ſchaffenden Dichters beſaß
unter allen den neuen Dramatikern nur Einer, der Schleſier Guſtav Freytag.
Wie tapfer und bewußt er auch theilnahm an allen den geiſtigen und poli-
tiſchen Kämpfen ſeiner hoch erregten Zeit, immer bewahrte er ſich doch jene

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[393/0407] Hebbel. die höchſten Ziele, ſuchte ſtets große ſittliche Probleme dramatiſch zu ge- ſtalten und entſprach dem realiſtiſchen Zuge des Zeitalters durch die un- erbittlich ſtrenge, folgerechte, alle Phraſe verſchmähende Durchbildung ſeiner Charaktere. Aber ſein Schaffen war zu bewußt, ſeine Geſtalten ſelbſt wußten ſich zu viel mit ihrer Eigenart, jedes ihrer Worte klang ſo ſcharf berechnet, daß ihnen die naive Freiheit, der Reiz des Unmittelbaren verloren ging; und obwohl die gedrungene Compoſition, die mächtig aufſteigende Handlung, der erſchütternde Schluß einen ſtarken theatraliſchen Erfolg zu erzwingen ſchienen, ſo fehlte ihm doch der Sinn für das Gemeinverſtändliche, der alle Bühnenwirkung bedingt; die krankhaften, verſchlungenen, bis zur Un- geheuerlichkeit ſeltſamen Seelenkämpfe, die er darzuſtellen liebte, konnten ſchlichte Hörer nur befremden. Verwirrend und berauſchend wirkte ſein erſtes Drama Judith. Hebbel fühlte ſcharf heraus, daß dieſe von dem naiven Gattungsgefühle des Alterthums ſchlechthin bewunderte epiſche Heldin uns Modernen als eine tragiſche Geſtalt erſcheinen muß, weil unſer freies chriſtliches Gewiſſen die blinde Hingebung des Einzelnen an das Volks- ganze nicht mehr für eine unbedingte Pflicht anſieht, und erregte nun in der Seele des gräßlichen Weibes einen Sturm widerſprechender Empfin- dungen, aus denen die nervöſe Sinnlichkeit des Zeitalters zuletzt ſo über- mächtig hervortrat, daß ein reines tragiſches Mitleid nicht mehr aufkam. Sein wirkſamſtes Drama war Maria Magdalena, ein bürgerliches Trauerſpiel, das durch die Wucht der Leidenſchaft, die gewaltſame Span- nung lebhaft an Kabale und Liebe erinnerte. Hier wagte Hebbel aus der Noth eine Tugend zu machen; er wagte „die ſchreckliche Gebundenheit in der Einſeitigkeit“ — jene Klippe, woran ſo viele bürgerliche Dramen und Dorf- geſchichten ſcheiterten — ſelber zum Mittelpunkte des tragiſchen Kampfes zu erheben. An der Grauſamkeit der kleinbürgerlichen Ehrbegriffe ließ er ſeine Heldin untergehen, und in dem harten, borſtigen Meiſter Anton ſchuf er eine Geſtalt, die ſich dem alten Miller vergleichen durfte. Aber auch hier blieb zuletzt kein reiner Eindruck zurück, weil die Schuld der Heldin ſo unnatürlich, ſo ſeltſam erklügelt war. Nachher zog ſich Hebbel verſtimmt von der Bühne zurück, in eine bewußte und gewollte Verein- ſamung, die dem Dramatiker ſtets verderblich wird. Umgeben von einer kleinen Schaar fanatiſcher Verehrer, die ſeinen Hochmuth bis zum Ueber- maße ſteigerten, brütete er lange über einer neuen, unmöglichen Kunſtform, der Tragikomödie. Erſt nach vielen Jahren qualvollen Ringens fand er den Glauben an einfachere Ideale wieder und die Kraft zu dauernden Werken — ein großangelegter, tiefſinniger Dichtergeiſt, ein echter Sohn dieſer Hohes ſuchenden, wenig vollendenden Tage. Die rechte Herzensfreudigkeit des glücklich ſchaffenden Dichters beſaß unter allen den neuen Dramatikern nur Einer, der Schleſier Guſtav Freytag. Wie tapfer und bewußt er auch theilnahm an allen den geiſtigen und poli- tiſchen Kämpfen ſeiner hoch erregten Zeit, immer bewahrte er ſich doch jene

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/407>, abgerufen am 21.11.2024.