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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
"gutmüthige in's Reale verliebte Beschränktheit", welche Goethe so oft das
wahre Glück des Dichters nannte. Er liebte seine Menschen und lebte
mit ihnen, er schien sie an sein Herz zu drücken, so daß sie ihm selbst
und den Hörern unvergeßlich blieben, während man den dramatischen Ge-
stalten der Anderen oft die Berechnung, die Reflexion anmerkte. Darin
lag schon der Reiz seines Erstlingsdramas, des Kunz von der Rosen;
die noch lose aneinander gereihten Scenen bezauberten den Leser, weil die
goldene Laune des Helden Alles verklärte und der treuherzige Frohmuth
unseres sechzehnten Jahrhunderts Jeden anheimelte. Vor den Brettern
erkannte Freytag selbst, daß dies Stück noch kein Drama war, und nachdem
er das Theater gründlich kennen gelernt, schenkte er ihm zwei bühnen-
gerechte Schauspiele aus der modernen vornehmen Welt, Valentine und
Graf Waldemar. Beide behandelten ein einfaches, aber schönes und ge-
haltreiches Problem; sie zeigten, wie die wahre Liebe eine edle Natur von
der Verbildung der großen Gesellschaft zur sittlichen Freiheit zurückführt.
Er erlaubte sich viel, weil seine heitere Anmuth viel wagen durfte, doch nie-
mals einen groben theatralischen Effekt. Stärker noch als der festgegliederte
Aufbau seiner Dramen wirkten die Charaktere, diese so fest mit dem Gemüthe
des Dichters verwachsenen, so ganz in heimlicher Stille ausgereiften Ge-
stalten, und der freie optimistische Humor, der selbst in den Spitzbuben
noch das Menschliche zu finden wußte.

An der Grenze, dicht neben den Slaven war er aufgewachsen, im
sicheren Gefühle deutscher Ueberlegenheit, ein stolzer Preuße, ein rechter
Markmanne; auf der Universität wendete er sich der germanistischen Wissen-
schaft zu, und so grunddeutsch blieb seine Empfindung, daß ihn die fremd-
brüderliche Schwärmerei jener Jahre nur anwidern konnte. Wohl lernte
er dankbar aus englischen Romanen und französischen Dramen, doch seine
eigenen Stoffe fand er unwillkürlich nur im Vaterlande. Hier war seine
Welt, selbst der Wunsch fremde Länder zu bereisen regte sich ihm kaum
jemals. Amerika, das in der engen Verhältnissen der Dorfgeschichten immer
als das Eldorado der Freiheit erschien, spielte auch in seine Dichtungen zu-
weilen hinein, doch nur wenn er einen seiner Helden durch einen roman-
tischen Zug abenteuerlicher Keckheit von dem deutschen Stillleben dieser
Friedensjahre wirksam abheben wollte. Die Tendenz verschmähte er grund-
sätzlich; endlichen Zwecken, so sagte er stolz, sollten seine Kunstwerke niemals
dienen. Und zu seinem Glücke besaß er auch die journalistische Feder-
gewandtheit; er konnte seine literarischen und politischen Gedanken als
Kritiker und Publicist in angemessener Form aussprechen, darum durfte
das Schifflein seiner Dichtung, unbeschwert vom prosaischen Ballast, frei
dahin segeln. Schon diese ersten Dramen verriethen, obwohl sie sich auf
den Höhen der Gesellschaft bewegten, deutlich die bürgerlich-demokratische Ge-
sinnung des Dichters; Bürgerliche vertraten die einfache sittliche Wahrheit,
während der Adel fast nur seine Schattenseiten zeigte. Noch stand Freytag

V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
„gutmüthige in’s Reale verliebte Beſchränktheit“, welche Goethe ſo oft das
wahre Glück des Dichters nannte. Er liebte ſeine Menſchen und lebte
mit ihnen, er ſchien ſie an ſein Herz zu drücken, ſo daß ſie ihm ſelbſt
und den Hörern unvergeßlich blieben, während man den dramatiſchen Ge-
ſtalten der Anderen oft die Berechnung, die Reflexion anmerkte. Darin
lag ſchon der Reiz ſeines Erſtlingsdramas, des Kunz von der Roſen;
die noch loſe aneinander gereihten Scenen bezauberten den Leſer, weil die
goldene Laune des Helden Alles verklärte und der treuherzige Frohmuth
unſeres ſechzehnten Jahrhunderts Jeden anheimelte. Vor den Brettern
erkannte Freytag ſelbſt, daß dies Stück noch kein Drama war, und nachdem
er das Theater gründlich kennen gelernt, ſchenkte er ihm zwei bühnen-
gerechte Schauſpiele aus der modernen vornehmen Welt, Valentine und
Graf Waldemar. Beide behandelten ein einfaches, aber ſchönes und ge-
haltreiches Problem; ſie zeigten, wie die wahre Liebe eine edle Natur von
der Verbildung der großen Geſellſchaft zur ſittlichen Freiheit zurückführt.
Er erlaubte ſich viel, weil ſeine heitere Anmuth viel wagen durfte, doch nie-
mals einen groben theatraliſchen Effekt. Stärker noch als der feſtgegliederte
Aufbau ſeiner Dramen wirkten die Charaktere, dieſe ſo feſt mit dem Gemüthe
des Dichters verwachſenen, ſo ganz in heimlicher Stille ausgereiften Ge-
ſtalten, und der freie optimiſtiſche Humor, der ſelbſt in den Spitzbuben
noch das Menſchliche zu finden wußte.

An der Grenze, dicht neben den Slaven war er aufgewachſen, im
ſicheren Gefühle deutſcher Ueberlegenheit, ein ſtolzer Preuße, ein rechter
Markmanne; auf der Univerſität wendete er ſich der germaniſtiſchen Wiſſen-
ſchaft zu, und ſo grunddeutſch blieb ſeine Empfindung, daß ihn die fremd-
brüderliche Schwärmerei jener Jahre nur anwidern konnte. Wohl lernte
er dankbar aus engliſchen Romanen und franzöſiſchen Dramen, doch ſeine
eigenen Stoffe fand er unwillkürlich nur im Vaterlande. Hier war ſeine
Welt, ſelbſt der Wunſch fremde Länder zu bereiſen regte ſich ihm kaum
jemals. Amerika, das in der engen Verhältniſſen der Dorfgeſchichten immer
als das Eldorado der Freiheit erſchien, ſpielte auch in ſeine Dichtungen zu-
weilen hinein, doch nur wenn er einen ſeiner Helden durch einen roman-
tiſchen Zug abenteuerlicher Keckheit von dem deutſchen Stillleben dieſer
Friedensjahre wirkſam abheben wollte. Die Tendenz verſchmähte er grund-
ſätzlich; endlichen Zwecken, ſo ſagte er ſtolz, ſollten ſeine Kunſtwerke niemals
dienen. Und zu ſeinem Glücke beſaß er auch die journaliſtiſche Feder-
gewandtheit; er konnte ſeine literariſchen und politiſchen Gedanken als
Kritiker und Publiciſt in angemeſſener Form ausſprechen, darum durfte
das Schifflein ſeiner Dichtung, unbeſchwert vom proſaiſchen Ballaſt, frei
dahin ſegeln. Schon dieſe erſten Dramen verriethen, obwohl ſie ſich auf
den Höhen der Geſellſchaft bewegten, deutlich die bürgerlich-demokratiſche Ge-
ſinnung des Dichters; Bürgerliche vertraten die einfache ſittliche Wahrheit,
während der Adel faſt nur ſeine Schattenſeiten zeigte. Noch ſtand Freytag

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[394/0408] V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. „gutmüthige in’s Reale verliebte Beſchränktheit“, welche Goethe ſo oft das wahre Glück des Dichters nannte. Er liebte ſeine Menſchen und lebte mit ihnen, er ſchien ſie an ſein Herz zu drücken, ſo daß ſie ihm ſelbſt und den Hörern unvergeßlich blieben, während man den dramatiſchen Ge- ſtalten der Anderen oft die Berechnung, die Reflexion anmerkte. Darin lag ſchon der Reiz ſeines Erſtlingsdramas, des Kunz von der Roſen; die noch loſe aneinander gereihten Scenen bezauberten den Leſer, weil die goldene Laune des Helden Alles verklärte und der treuherzige Frohmuth unſeres ſechzehnten Jahrhunderts Jeden anheimelte. Vor den Brettern erkannte Freytag ſelbſt, daß dies Stück noch kein Drama war, und nachdem er das Theater gründlich kennen gelernt, ſchenkte er ihm zwei bühnen- gerechte Schauſpiele aus der modernen vornehmen Welt, Valentine und Graf Waldemar. Beide behandelten ein einfaches, aber ſchönes und ge- haltreiches Problem; ſie zeigten, wie die wahre Liebe eine edle Natur von der Verbildung der großen Geſellſchaft zur ſittlichen Freiheit zurückführt. Er erlaubte ſich viel, weil ſeine heitere Anmuth viel wagen durfte, doch nie- mals einen groben theatraliſchen Effekt. Stärker noch als der feſtgegliederte Aufbau ſeiner Dramen wirkten die Charaktere, dieſe ſo feſt mit dem Gemüthe des Dichters verwachſenen, ſo ganz in heimlicher Stille ausgereiften Ge- ſtalten, und der freie optimiſtiſche Humor, der ſelbſt in den Spitzbuben noch das Menſchliche zu finden wußte. An der Grenze, dicht neben den Slaven war er aufgewachſen, im ſicheren Gefühle deutſcher Ueberlegenheit, ein ſtolzer Preuße, ein rechter Markmanne; auf der Univerſität wendete er ſich der germaniſtiſchen Wiſſen- ſchaft zu, und ſo grunddeutſch blieb ſeine Empfindung, daß ihn die fremd- brüderliche Schwärmerei jener Jahre nur anwidern konnte. Wohl lernte er dankbar aus engliſchen Romanen und franzöſiſchen Dramen, doch ſeine eigenen Stoffe fand er unwillkürlich nur im Vaterlande. Hier war ſeine Welt, ſelbſt der Wunſch fremde Länder zu bereiſen regte ſich ihm kaum jemals. Amerika, das in der engen Verhältniſſen der Dorfgeſchichten immer als das Eldorado der Freiheit erſchien, ſpielte auch in ſeine Dichtungen zu- weilen hinein, doch nur wenn er einen ſeiner Helden durch einen roman- tiſchen Zug abenteuerlicher Keckheit von dem deutſchen Stillleben dieſer Friedensjahre wirkſam abheben wollte. Die Tendenz verſchmähte er grund- ſätzlich; endlichen Zwecken, ſo ſagte er ſtolz, ſollten ſeine Kunſtwerke niemals dienen. Und zu ſeinem Glücke beſaß er auch die journaliſtiſche Feder- gewandtheit; er konnte ſeine literariſchen und politiſchen Gedanken als Kritiker und Publiciſt in angemeſſener Form ausſprechen, darum durfte das Schifflein ſeiner Dichtung, unbeſchwert vom proſaiſchen Ballaſt, frei dahin ſegeln. Schon dieſe erſten Dramen verriethen, obwohl ſie ſich auf den Höhen der Geſellſchaft bewegten, deutlich die bürgerlich-demokratiſche Ge- ſinnung des Dichters; Bürgerliche vertraten die einfache ſittliche Wahrheit, während der Adel faſt nur ſeine Schattenſeiten zeigte. Noch ſtand Freytag

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/408>, abgerufen am 21.11.2024.