bekämpfte List in seinem "Nationalen Systeme" neben der "Rechtspest" der Pandekten ein mythologisches Ungeheuer, das er "die Schule" nannte und jeder erdenklichen Sünde zieh. Neuerdings war sein Popanz die preußische "Bureaukratie, dieser halborientalische Auswuchs, dies schlingpflanzenartige Unkraut" des deutschen Staates; statt der Aktenweisheit des grünen Tisches sollte fortan die lebendige Erfahrung der Gewerbsleute den deutschen Zoll- bund beherrschen. Gewiß bedurfte die einseitig bureaukratische Leitung des Zollvereins dringend der Ergänzung durch populare Kräfte; so ein- fach, wie List meinte, lagen die Dinge dennoch nicht. Wer hatte einst den Zollverein gegründet? Das deutsche Beamtenthum im Kampfe mit der Thorheit der Kaufleute und Fabrikanten. Und wer hinderte jetzt, daß er sich bis zu seinen natürlichen Grenzen ausbreitete? Nicht das Beamten- thum, sondern die geschäftskundigen Kaufleute der Hansestädte.
List verschmähte, was doch die nächste Aufgabe jeder fruchtbaren Publi- cistik ist, sich hineinzudenken in die Lage des von ihm so grausam ge- scholtenen Staates. Die preußische Regierung sollte einen Verein leiten, der -- was Süddeutschland selbst einst dringend verlangt hatte -- seinen Tarif nur durch einstimmige Beschlüsse verändern durfte; sie konnte sich mithin keiner der wirthschaftlichen Parteien, die einander bekämpften, willen- los unterwerfen, sondern mußte zwischen ihnen zu vermitteln suchen, da- mit das Ganze nicht aus einander fiel. Da List sich um die preußischen Zustände leider nie recht bekümmert hatte, so kannte er auch die entschei- denden Männer nicht und wiederholte zuversichtlich, allein die Rücksicht auf England bestimme Preußens Handelspolitik. Der Vorwurf lag nahe; man wußte ja, wie schwärmerisch der neue Hof alles englische Wesen be- wunderte. Dennoch entbehrte der Verdacht jedes Grundes; denn die drei eifrigsten Anglomanen in den preußischen Regierungskreisen waren der König selbst, Bülow und Bunsen, und grade diese Drei hegten lebhafte Vorliebe für die Gedanken der Schutzzöllner. Kühne hingegen, Beuth und die anderen bureaukratischen Gegner der Zollerhöhung waren stramme Preußen, ganz frei von englischen Neigungen; wenn sie die Pläne List's bekämpften, so geschah es nur, weil sie tief überzeugt an den Ideen der Hardenbergischen Zeiten festhielten und nicht einsehen konnten, daß ihr durch ein Vierteljahrhundert erprobtes Zollgesetz jetzt doch an vielen Stellen schadhaft wurde.
Wer sollte es nicht menschlich finden, daß die unbändigen Schmähungen der süddeutschen Schutzzöllner auch auf der anderen Seite höchst unge- rechten Verdacht hervorriefen? Man konnte in Berlin nicht begreifen, warum der feurige Liberale List jetzt mit den Spießgesellen Metternich's und Abel's zusammen ging; die preußischen Gesandten an den süddeut- schen Höfen glaubten allesammt, der makellos rechtschaffene Mann lasse sich von Oesterreich und Baiern bezahlen. Sogar der feine, geistreiche Canitz schrieb: "Verkaufen wird er seine Ueberzeugung wohl nicht, aber
Die ſüddeutſchen Schutzzöllner.
bekämpfte Liſt in ſeinem „Nationalen Syſteme“ neben der „Rechtspeſt“ der Pandekten ein mythologiſches Ungeheuer, das er „die Schule“ nannte und jeder erdenklichen Sünde zieh. Neuerdings war ſein Popanz die preußiſche „Bureaukratie, dieſer halborientaliſche Auswuchs, dies ſchlingpflanzenartige Unkraut“ des deutſchen Staates; ſtatt der Aktenweisheit des grünen Tiſches ſollte fortan die lebendige Erfahrung der Gewerbsleute den deutſchen Zoll- bund beherrſchen. Gewiß bedurfte die einſeitig bureaukratiſche Leitung des Zollvereins dringend der Ergänzung durch populare Kräfte; ſo ein- fach, wie Liſt meinte, lagen die Dinge dennoch nicht. Wer hatte einſt den Zollverein gegründet? Das deutſche Beamtenthum im Kampfe mit der Thorheit der Kaufleute und Fabrikanten. Und wer hinderte jetzt, daß er ſich bis zu ſeinen natürlichen Grenzen ausbreitete? Nicht das Beamten- thum, ſondern die geſchäftskundigen Kaufleute der Hanſeſtädte.
Liſt verſchmähte, was doch die nächſte Aufgabe jeder fruchtbaren Publi- ciſtik iſt, ſich hineinzudenken in die Lage des von ihm ſo grauſam ge- ſcholtenen Staates. Die preußiſche Regierung ſollte einen Verein leiten, der — was Süddeutſchland ſelbſt einſt dringend verlangt hatte — ſeinen Tarif nur durch einſtimmige Beſchlüſſe verändern durfte; ſie konnte ſich mithin keiner der wirthſchaftlichen Parteien, die einander bekämpften, willen- los unterwerfen, ſondern mußte zwiſchen ihnen zu vermitteln ſuchen, da- mit das Ganze nicht aus einander fiel. Da Liſt ſich um die preußiſchen Zuſtände leider nie recht bekümmert hatte, ſo kannte er auch die entſchei- denden Männer nicht und wiederholte zuverſichtlich, allein die Rückſicht auf England beſtimme Preußens Handelspolitik. Der Vorwurf lag nahe; man wußte ja, wie ſchwärmeriſch der neue Hof alles engliſche Weſen be- wunderte. Dennoch entbehrte der Verdacht jedes Grundes; denn die drei eifrigſten Anglomanen in den preußiſchen Regierungskreiſen waren der König ſelbſt, Bülow und Bunſen, und grade dieſe Drei hegten lebhafte Vorliebe für die Gedanken der Schutzzöllner. Kühne hingegen, Beuth und die anderen bureaukratiſchen Gegner der Zollerhöhung waren ſtramme Preußen, ganz frei von engliſchen Neigungen; wenn ſie die Pläne Liſt’s bekämpften, ſo geſchah es nur, weil ſie tief überzeugt an den Ideen der Hardenbergiſchen Zeiten feſthielten und nicht einſehen konnten, daß ihr durch ein Vierteljahrhundert erprobtes Zollgeſetz jetzt doch an vielen Stellen ſchadhaft wurde.
Wer ſollte es nicht menſchlich finden, daß die unbändigen Schmähungen der ſüddeutſchen Schutzzöllner auch auf der anderen Seite höchſt unge- rechten Verdacht hervorriefen? Man konnte in Berlin nicht begreifen, warum der feurige Liberale Liſt jetzt mit den Spießgeſellen Metternich’s und Abel’s zuſammen ging; die preußiſchen Geſandten an den ſüddeut- ſchen Höfen glaubten alleſammt, der makellos rechtſchaffene Mann laſſe ſich von Oeſterreich und Baiern bezahlen. Sogar der feine, geiſtreiche Canitz ſchrieb: „Verkaufen wird er ſeine Ueberzeugung wohl nicht, aber
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Die ſüddeutſchen Schutzzöllner.
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Pandekten ein mythologiſches Ungeheuer, das er „die Schule“ nannte und
jeder erdenklichen Sünde zieh. Neuerdings war ſein Popanz die preußiſche
„Bureaukratie, dieſer halborientaliſche Auswuchs, dies ſchlingpflanzenartige
Unkraut“ des deutſchen Staates; ſtatt der Aktenweisheit des grünen Tiſches
ſollte fortan die lebendige Erfahrung der Gewerbsleute den deutſchen Zoll-
bund beherrſchen. Gewiß bedurfte die einſeitig bureaukratiſche Leitung
des Zollvereins dringend der Ergänzung durch populare Kräfte; ſo ein-
fach, wie Liſt meinte, lagen die Dinge dennoch nicht. Wer hatte einſt den
Zollverein gegründet? Das deutſche Beamtenthum im Kampfe mit der
Thorheit der Kaufleute und Fabrikanten. Und wer hinderte jetzt, daß er
ſich bis zu ſeinen natürlichen Grenzen ausbreitete? Nicht das Beamten-
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Liſt verſchmähte, was doch die nächſte Aufgabe jeder fruchtbaren Publi-
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ſcholtenen Staates. Die preußiſche Regierung ſollte einen Verein leiten,
der — was Süddeutſchland ſelbſt einſt dringend verlangt hatte — ſeinen
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mithin keiner der wirthſchaftlichen Parteien, die einander bekämpften, willen-
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Zuſtände leider nie recht bekümmert hatte, ſo kannte er auch die entſchei-
denden Männer nicht und wiederholte zuverſichtlich, allein die Rückſicht
auf England beſtimme Preußens Handelspolitik. Der Vorwurf lag nahe;
man wußte ja, wie ſchwärmeriſch der neue Hof alles engliſche Weſen be-
wunderte. Dennoch entbehrte der Verdacht jedes Grundes; denn die drei
eifrigſten Anglomanen in den preußiſchen Regierungskreiſen waren der
König ſelbſt, Bülow und Bunſen, und grade dieſe Drei hegten lebhafte
Vorliebe für die Gedanken der Schutzzöllner. Kühne hingegen, Beuth
und die anderen bureaukratiſchen Gegner der Zollerhöhung waren ſtramme
Preußen, ganz frei von engliſchen Neigungen; wenn ſie die Pläne Liſt’s
bekämpften, ſo geſchah es nur, weil ſie tief überzeugt an den Ideen der
Hardenbergiſchen Zeiten feſthielten und nicht einſehen konnten, daß ihr
durch ein Vierteljahrhundert erprobtes Zollgeſetz jetzt doch an vielen Stellen
ſchadhaft wurde.
Wer ſollte es nicht menſchlich finden, daß die unbändigen Schmähungen
der ſüddeutſchen Schutzzöllner auch auf der anderen Seite höchſt unge-
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warum der feurige Liberale Liſt jetzt mit den Spießgeſellen Metternich’s
und Abel’s zuſammen ging; die preußiſchen Geſandten an den ſüddeut-
ſchen Höfen glaubten alleſammt, der makellos rechtſchaffene Mann laſſe
ſich von Oeſterreich und Baiern bezahlen. Sogar der feine, geiſtreiche
Canitz ſchrieb: „Verkaufen wird er ſeine Ueberzeugung wohl nicht, aber
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/467>, abgerufen am 25.11.2024.
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