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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Die Verfassungsfrage.
blos Fürst Metternich und Czar Nikolaus lauschten besorgt auf jede Nach-
richt aus Berlin. Auch König Wilhelm von Württemberg betheuerte dem
Gesandten Rochow beständig: er sei jetzt über das constitutionelle Wesen
ins Klare gekommen und halte die preußischen Provinzialstände für die
beste Form der Interessenvertretung.*) Die kleinen deutschen Fürsten dachten
nur mit Zittern und Zagen an die Möglichkeit einer preußischen Verfassung.
Bei dem bisherigen Zustande befanden sie sich allesammt recht behaglich, weil
sie die Unzufriedenen daheim bald durch das abschreckende Beispiel des
preußischen Absolutismus beschwichtigen, bald mit dem Unwillen der beiden
Großmächte bedrohen konnten; was ward aus ihrer Souveränität, wenn
ein preußischer Reichstag die Verfassungsherrlichkeit der Kleinen sofort in
den Schatten stellte, wenn dies durch den Zollverein schon so mächtig
erstarkte Preußen auch noch die Bühne des deutschen parlamentarischen
Lebens wurde und den Deutschen täglich zeigte, welch ein Stolz es ist
einem mächtigen Staate anzugehören?

Für diese einigende Kraft der Reichsstände besaß aber Friedrich Wil-
helm gar kein Verständniß, weil ihm die Energie des preußischen Staats-
gedankens fremd blieb. Er betrachtete die schöne Mannichfaltigkeit der
Provinzialstände als einen Triumph des historischen Princips und warf
noch in den dreißiger Jahren zuweilen die Frage auf, ob man nicht die
alten Stände der Fürstenthümer Magdeburg, Münster, Paderborn als
Communallandtage wieder herstellen könne. Das stand ihm fest, daß die
Provinziallandtage der Schwerpunkt der ständischen Verfassung Preußens
bleiben sollten; nur in außerordentlichen Fällen dachte er sie allesammt
nach Berlin zu berufen und also, ohne neue Wahl, einen Vereinigten
Landtag zu bilden, der schon wegen seiner Schwerfälligkeit nur selten zu-
sammentreten konnte. Diese Gedanken entwickelte er bereits als Kron-
prinz vor Leopold Gerlach; an ihnen hielt er mit seiner stillen Hart-
näckigkeit fest, bis er sie nach Jahren endlich verwirklichte. Noch andere,
rein doctrinäre Bedenken gegen die alten Verheißungen konnte er nicht
überwinden. Eine schriftliche Verfassungsurkunde, wie sie der Vater ver-
sprochen, erinnerte den Sohn allzusehr an Rousseau und Rotteck-Welcker;
niemals wollte er die freie Macht seiner Krone durch einen papiernen
Vertrag beschränken. Ebenso anstößig schien ihm die Verheißung, daß die
Reichsstände für alle Staatsschulden die Bürgschaft übernehmen sollten; in
Kriegszeiten wollte er eine solche Beschränkung seiner monarchischen Ge-
walt nicht dulden. Es war eine Sorge, die nur den überfeinen Scharf-
sinn eines ganz unpraktischen Kopfes beunruhigen konnte. Denn für die
ersten Ausgaben eines plötzlich hereinbrechenden Krieges boten der längst
wieder gefüllte Staatsschatz, die reichlichen Ueberschüsse der Verwaltung,
dazu noch die Bank und die Seehandlung vollauf genügende Mittel; und

*) Rochow's Bericht, 29. Febr. 1840 ff.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 3

Die Verfaſſungsfrage.
blos Fürſt Metternich und Czar Nikolaus lauſchten beſorgt auf jede Nach-
richt aus Berlin. Auch König Wilhelm von Württemberg betheuerte dem
Geſandten Rochow beſtändig: er ſei jetzt über das conſtitutionelle Weſen
ins Klare gekommen und halte die preußiſchen Provinzialſtände für die
beſte Form der Intereſſenvertretung.*) Die kleinen deutſchen Fürſten dachten
nur mit Zittern und Zagen an die Möglichkeit einer preußiſchen Verfaſſung.
Bei dem bisherigen Zuſtande befanden ſie ſich alleſammt recht behaglich, weil
ſie die Unzufriedenen daheim bald durch das abſchreckende Beiſpiel des
preußiſchen Abſolutismus beſchwichtigen, bald mit dem Unwillen der beiden
Großmächte bedrohen konnten; was ward aus ihrer Souveränität, wenn
ein preußiſcher Reichstag die Verfaſſungsherrlichkeit der Kleinen ſofort in
den Schatten ſtellte, wenn dies durch den Zollverein ſchon ſo mächtig
erſtarkte Preußen auch noch die Bühne des deutſchen parlamentariſchen
Lebens wurde und den Deutſchen täglich zeigte, welch ein Stolz es iſt
einem mächtigen Staate anzugehören?

Für dieſe einigende Kraft der Reichsſtände beſaß aber Friedrich Wil-
helm gar kein Verſtändniß, weil ihm die Energie des preußiſchen Staats-
gedankens fremd blieb. Er betrachtete die ſchöne Mannichfaltigkeit der
Provinzialſtände als einen Triumph des hiſtoriſchen Princips und warf
noch in den dreißiger Jahren zuweilen die Frage auf, ob man nicht die
alten Stände der Fürſtenthümer Magdeburg, Münſter, Paderborn als
Communallandtage wieder herſtellen könne. Das ſtand ihm feſt, daß die
Provinziallandtage der Schwerpunkt der ſtändiſchen Verfaſſung Preußens
bleiben ſollten; nur in außerordentlichen Fällen dachte er ſie alleſammt
nach Berlin zu berufen und alſo, ohne neue Wahl, einen Vereinigten
Landtag zu bilden, der ſchon wegen ſeiner Schwerfälligkeit nur ſelten zu-
ſammentreten konnte. Dieſe Gedanken entwickelte er bereits als Kron-
prinz vor Leopold Gerlach; an ihnen hielt er mit ſeiner ſtillen Hart-
näckigkeit feſt, bis er ſie nach Jahren endlich verwirklichte. Noch andere,
rein doctrinäre Bedenken gegen die alten Verheißungen konnte er nicht
überwinden. Eine ſchriftliche Verfaſſungsurkunde, wie ſie der Vater ver-
ſprochen, erinnerte den Sohn allzuſehr an Rouſſeau und Rotteck-Welcker;
niemals wollte er die freie Macht ſeiner Krone durch einen papiernen
Vertrag beſchränken. Ebenſo anſtößig ſchien ihm die Verheißung, daß die
Reichsſtände für alle Staatsſchulden die Bürgſchaft übernehmen ſollten; in
Kriegszeiten wollte er eine ſolche Beſchränkung ſeiner monarchiſchen Ge-
walt nicht dulden. Es war eine Sorge, die nur den überfeinen Scharf-
ſinn eines ganz unpraktiſchen Kopfes beunruhigen konnte. Denn für die
erſten Ausgaben eines plötzlich hereinbrechenden Krieges boten der längſt
wieder gefüllte Staatsſchatz, die reichlichen Ueberſchüſſe der Verwaltung,
dazu noch die Bank und die Seehandlung vollauf genügende Mittel; und

*) Rochow’s Bericht, 29. Febr. 1840 ff.
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[33/0047] Die Verfaſſungsfrage. blos Fürſt Metternich und Czar Nikolaus lauſchten beſorgt auf jede Nach- richt aus Berlin. Auch König Wilhelm von Württemberg betheuerte dem Geſandten Rochow beſtändig: er ſei jetzt über das conſtitutionelle Weſen ins Klare gekommen und halte die preußiſchen Provinzialſtände für die beſte Form der Intereſſenvertretung. *) Die kleinen deutſchen Fürſten dachten nur mit Zittern und Zagen an die Möglichkeit einer preußiſchen Verfaſſung. Bei dem bisherigen Zuſtande befanden ſie ſich alleſammt recht behaglich, weil ſie die Unzufriedenen daheim bald durch das abſchreckende Beiſpiel des preußiſchen Abſolutismus beſchwichtigen, bald mit dem Unwillen der beiden Großmächte bedrohen konnten; was ward aus ihrer Souveränität, wenn ein preußiſcher Reichstag die Verfaſſungsherrlichkeit der Kleinen ſofort in den Schatten ſtellte, wenn dies durch den Zollverein ſchon ſo mächtig erſtarkte Preußen auch noch die Bühne des deutſchen parlamentariſchen Lebens wurde und den Deutſchen täglich zeigte, welch ein Stolz es iſt einem mächtigen Staate anzugehören? Für dieſe einigende Kraft der Reichsſtände beſaß aber Friedrich Wil- helm gar kein Verſtändniß, weil ihm die Energie des preußiſchen Staats- gedankens fremd blieb. Er betrachtete die ſchöne Mannichfaltigkeit der Provinzialſtände als einen Triumph des hiſtoriſchen Princips und warf noch in den dreißiger Jahren zuweilen die Frage auf, ob man nicht die alten Stände der Fürſtenthümer Magdeburg, Münſter, Paderborn als Communallandtage wieder herſtellen könne. Das ſtand ihm feſt, daß die Provinziallandtage der Schwerpunkt der ſtändiſchen Verfaſſung Preußens bleiben ſollten; nur in außerordentlichen Fällen dachte er ſie alleſammt nach Berlin zu berufen und alſo, ohne neue Wahl, einen Vereinigten Landtag zu bilden, der ſchon wegen ſeiner Schwerfälligkeit nur ſelten zu- ſammentreten konnte. Dieſe Gedanken entwickelte er bereits als Kron- prinz vor Leopold Gerlach; an ihnen hielt er mit ſeiner ſtillen Hart- näckigkeit feſt, bis er ſie nach Jahren endlich verwirklichte. Noch andere, rein doctrinäre Bedenken gegen die alten Verheißungen konnte er nicht überwinden. Eine ſchriftliche Verfaſſungsurkunde, wie ſie der Vater ver- ſprochen, erinnerte den Sohn allzuſehr an Rouſſeau und Rotteck-Welcker; niemals wollte er die freie Macht ſeiner Krone durch einen papiernen Vertrag beſchränken. Ebenſo anſtößig ſchien ihm die Verheißung, daß die Reichsſtände für alle Staatsſchulden die Bürgſchaft übernehmen ſollten; in Kriegszeiten wollte er eine ſolche Beſchränkung ſeiner monarchiſchen Ge- walt nicht dulden. Es war eine Sorge, die nur den überfeinen Scharf- ſinn eines ganz unpraktiſchen Kopfes beunruhigen konnte. Denn für die erſten Ausgaben eines plötzlich hereinbrechenden Krieges boten der längſt wieder gefüllte Staatsſchatz, die reichlichen Ueberſchüſſe der Verwaltung, dazu noch die Bank und die Seehandlung vollauf genügende Mittel; und *) Rochow’s Bericht, 29. Febr. 1840 ff. v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 3

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/47>, abgerufen am 21.11.2024.