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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
versöhnlich; sie lobten den Vertrag, der doch ihren Grundsätzen zuwider-
lief -- weil List dabei mitgeholfen hatte. --

Wenn Preußens Handelspolitik schon diesem kleinen westlichen Nach-
barn gegenüber sich nicht frei bewegen konnte, so war sie vollends im Osten
schwer bedrängt. Seit dem Jahre 1836, seit der alte König sich geweigert
hatte mit der vertragsbrüchigen Nachbarmacht einen neuen Handelsver-
trag abzuschließen, verfuhren Preußen und Rußland an ihrer Grenze
beide ganz nach Willkür; es bildete sich dort, wie König Friedrich Wilhelm
selbst sagte, "ein unter benachbarten und befreundeten Völkern ganz un-
gewöhnlicher Zustand."*) In seinen ersten Regierungsjahren hatte Czar
Nikolaus die nationalen Gedanken der Moskowiter fast ebenso mißtrauisch
betrachtet wie die liberalen Ideen, weil die Führer der gegen seinen Thron
verschworenen Dekabristen ja allesammt altrussischen Adelsgeschlechtern
angehörten; nach der Zerschmetterung des polnischen Aufruhrs näherte
er sich jedoch mehr und mehr den Bestrebungen der moskowitischen Partei,
die ohnehin seinem rohen Bildungshasse zusagten. Er wollte sein heiliges
Rußland absperren von den Ideen wie von den Waaren des verderbten
Westens; seinem preußischen Vertrauten Rauch gestand er offen: ich muß
die Grenze geschlossen halten, damit die polnischen Flüchtlinge nicht ihr
revolutionäres Gift in's Land bringen.**) Das unterjochte Polen wurde
im Wesentlichen als eine russische Provinz behandelt, und schon begannen
auch die ersten Angriffe auf die alten Landesprivilegien der treuen bal-
tischen Provinzen. Hier in dieser halborientalischen Welt, wo die Religion
die Menschen noch fester als der Staat an einander bindet, war es ein
furchtbarer Schlag für das lutherische Deutschthum der Ostseelande,
daß jetzt tausende von esthischen und lettischen Bauern durch gleißende
Versprechungen zur orthodoxen Kirche hinübergelockt, binnen wenigen Jahren
zwanzig griechische Gotteshäuser auf den Krondomänen erbaut wurden. Die
neuen, durch Cancrin's Prohibitivsystem künstlich geförderten Fabriken sie-
delten sich meist um Moskau an, der Schwerpunkt des Reichs verschob sich
nach dem Süden hin; eine neue Zeit kündigte sich an, die das Cultur-
werk Peter's des Großen zu zerstören drohte. Einheit der Sprache, des
Rechtes, des Glaubens überall unter dem Scepter des weißen Czaren
-- so lautete jetzt die Losung, und sie entsprach unzweifelhaft der Gesinnung
der herrschenden Klassen.

In dem Jahrhundert der nationalen Ideen und Gegensätze mußte
das grausame Gesetz des historischen Undanks, das fast alle Culturvölker
an sich erprobt haben, sehr wirksam hervortreten, zumeist zu Deutschlands
Schaden. Wie die Deutschen einst selber, kaum herangereift, ihre Lehrer
und Culturbringer, die Römer aus dem Lande vertrieben hatten, so waren

*) Cabinetsordre an Bülow, 7. Juni 1842.
**) Rauch's Bericht an den König, 8. Dec. 1842.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
verſöhnlich; ſie lobten den Vertrag, der doch ihren Grundſätzen zuwider-
lief — weil Liſt dabei mitgeholfen hatte. —

Wenn Preußens Handelspolitik ſchon dieſem kleinen weſtlichen Nach-
barn gegenüber ſich nicht frei bewegen konnte, ſo war ſie vollends im Oſten
ſchwer bedrängt. Seit dem Jahre 1836, ſeit der alte König ſich geweigert
hatte mit der vertragsbrüchigen Nachbarmacht einen neuen Handelsver-
trag abzuſchließen, verfuhren Preußen und Rußland an ihrer Grenze
beide ganz nach Willkür; es bildete ſich dort, wie König Friedrich Wilhelm
ſelbſt ſagte, „ein unter benachbarten und befreundeten Völkern ganz un-
gewöhnlicher Zuſtand.“*) In ſeinen erſten Regierungsjahren hatte Czar
Nikolaus die nationalen Gedanken der Moskowiter faſt ebenſo mißtrauiſch
betrachtet wie die liberalen Ideen, weil die Führer der gegen ſeinen Thron
verſchworenen Dekabriſten ja alleſammt altruſſiſchen Adelsgeſchlechtern
angehörten; nach der Zerſchmetterung des polniſchen Aufruhrs näherte
er ſich jedoch mehr und mehr den Beſtrebungen der moskowitiſchen Partei,
die ohnehin ſeinem rohen Bildungshaſſe zuſagten. Er wollte ſein heiliges
Rußland abſperren von den Ideen wie von den Waaren des verderbten
Weſtens; ſeinem preußiſchen Vertrauten Rauch geſtand er offen: ich muß
die Grenze geſchloſſen halten, damit die polniſchen Flüchtlinge nicht ihr
revolutionäres Gift in’s Land bringen.**) Das unterjochte Polen wurde
im Weſentlichen als eine ruſſiſche Provinz behandelt, und ſchon begannen
auch die erſten Angriffe auf die alten Landesprivilegien der treuen bal-
tiſchen Provinzen. Hier in dieſer halborientaliſchen Welt, wo die Religion
die Menſchen noch feſter als der Staat an einander bindet, war es ein
furchtbarer Schlag für das lutheriſche Deutſchthum der Oſtſeelande,
daß jetzt tauſende von eſthiſchen und lettiſchen Bauern durch gleißende
Verſprechungen zur orthodoxen Kirche hinübergelockt, binnen wenigen Jahren
zwanzig griechiſche Gotteshäuſer auf den Krondomänen erbaut wurden. Die
neuen, durch Cancrin’s Prohibitivſyſtem künſtlich geförderten Fabriken ſie-
delten ſich meiſt um Moskau an, der Schwerpunkt des Reichs verſchob ſich
nach dem Süden hin; eine neue Zeit kündigte ſich an, die das Cultur-
werk Peter’s des Großen zu zerſtören drohte. Einheit der Sprache, des
Rechtes, des Glaubens überall unter dem Scepter des weißen Czaren
— ſo lautete jetzt die Loſung, und ſie entſprach unzweifelhaft der Geſinnung
der herrſchenden Klaſſen.

In dem Jahrhundert der nationalen Ideen und Gegenſätze mußte
das grauſame Geſetz des hiſtoriſchen Undanks, das faſt alle Culturvölker
an ſich erprobt haben, ſehr wirkſam hervortreten, zumeiſt zu Deutſchlands
Schaden. Wie die Deutſchen einſt ſelber, kaum herangereift, ihre Lehrer
und Culturbringer, die Römer aus dem Lande vertrieben hatten, ſo waren

*) Cabinetsordre an Bülow, 7. Juni 1842.
**) Rauch’s Bericht an den König, 8. Dec. 1842.
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[462/0476] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. verſöhnlich; ſie lobten den Vertrag, der doch ihren Grundſätzen zuwider- lief — weil Liſt dabei mitgeholfen hatte. — Wenn Preußens Handelspolitik ſchon dieſem kleinen weſtlichen Nach- barn gegenüber ſich nicht frei bewegen konnte, ſo war ſie vollends im Oſten ſchwer bedrängt. Seit dem Jahre 1836, ſeit der alte König ſich geweigert hatte mit der vertragsbrüchigen Nachbarmacht einen neuen Handelsver- trag abzuſchließen, verfuhren Preußen und Rußland an ihrer Grenze beide ganz nach Willkür; es bildete ſich dort, wie König Friedrich Wilhelm ſelbſt ſagte, „ein unter benachbarten und befreundeten Völkern ganz un- gewöhnlicher Zuſtand.“ *) In ſeinen erſten Regierungsjahren hatte Czar Nikolaus die nationalen Gedanken der Moskowiter faſt ebenſo mißtrauiſch betrachtet wie die liberalen Ideen, weil die Führer der gegen ſeinen Thron verſchworenen Dekabriſten ja alleſammt altruſſiſchen Adelsgeſchlechtern angehörten; nach der Zerſchmetterung des polniſchen Aufruhrs näherte er ſich jedoch mehr und mehr den Beſtrebungen der moskowitiſchen Partei, die ohnehin ſeinem rohen Bildungshaſſe zuſagten. Er wollte ſein heiliges Rußland abſperren von den Ideen wie von den Waaren des verderbten Weſtens; ſeinem preußiſchen Vertrauten Rauch geſtand er offen: ich muß die Grenze geſchloſſen halten, damit die polniſchen Flüchtlinge nicht ihr revolutionäres Gift in’s Land bringen. **) Das unterjochte Polen wurde im Weſentlichen als eine ruſſiſche Provinz behandelt, und ſchon begannen auch die erſten Angriffe auf die alten Landesprivilegien der treuen bal- tiſchen Provinzen. Hier in dieſer halborientaliſchen Welt, wo die Religion die Menſchen noch feſter als der Staat an einander bindet, war es ein furchtbarer Schlag für das lutheriſche Deutſchthum der Oſtſeelande, daß jetzt tauſende von eſthiſchen und lettiſchen Bauern durch gleißende Verſprechungen zur orthodoxen Kirche hinübergelockt, binnen wenigen Jahren zwanzig griechiſche Gotteshäuſer auf den Krondomänen erbaut wurden. Die neuen, durch Cancrin’s Prohibitivſyſtem künſtlich geförderten Fabriken ſie- delten ſich meiſt um Moskau an, der Schwerpunkt des Reichs verſchob ſich nach dem Süden hin; eine neue Zeit kündigte ſich an, die das Cultur- werk Peter’s des Großen zu zerſtören drohte. Einheit der Sprache, des Rechtes, des Glaubens überall unter dem Scepter des weißen Czaren — ſo lautete jetzt die Loſung, und ſie entſprach unzweifelhaft der Geſinnung der herrſchenden Klaſſen. In dem Jahrhundert der nationalen Ideen und Gegenſätze mußte das grauſame Geſetz des hiſtoriſchen Undanks, das faſt alle Culturvölker an ſich erprobt haben, ſehr wirkſam hervortreten, zumeiſt zu Deutſchlands Schaden. Wie die Deutſchen einſt ſelber, kaum herangereift, ihre Lehrer und Culturbringer, die Römer aus dem Lande vertrieben hatten, ſo waren *) Cabinetsordre an Bülow, 7. Juni 1842. **) Rauch’s Bericht an den König, 8. Dec. 1842.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/476>, abgerufen am 22.11.2024.