Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.Moskowitischer Deutschenhaß. ihnen im sechzehnten Jahrhundert ihre eigenen Schüler, die skandinavischenVölker trotzig entgegengetreten um sich selbst für mündig zu erklären und ein unabhängiges nationales Leben zu beginnen. Jetzt kam die Zeit, da auch die gesammte subgermanische Welt des Ostens, die ihre Gesittung fast ausschließlich den Deutschen verdankte, ihren germanischen Lehrmeistern zu entwachsen versuchte. Der erstarkende Nationalstolz der Magyaren und der Tschechen, der Russen und der Südslaven bekundete sich -- das war der nothwendige Lauf der Welt -- in einem wüthenden Deutschen- hasse. In Rußland nahmen auch schon die panslavistischen Ideen über- hand, phantastische Träume von einer Vereinigung aller slavischen Völker, die sich sämmtlich dem weißen Czaren unterordnen sollten. Darum be- geisterte sich der russische Adel jetzt für ein Bündniß mit Frankreich, und dieser Gedanke, der schon unter Alexander I. mehrmals aufgetaucht war, fand nunmehr auch in Frankreich manche schwärmerische Anhänger. Man entsann sich wieder der Zeiten, da einst Pozzo di Borgo als russischer Gesandter und französischer Patriot dem Tuilerienhofe seine Rathschläge ertheilt hatte. Lamartine, der in seinen überschwänglichen Reden doch zu- weilen ein Herzensgeheimniß seines Volkes prophetisch herausfühlte, nannte das französisch-russische Bündniß "den Schrei der Natur", eine geographische Nothwendigkeit. Die Nationen gleichen in ihrem Gemüthsleben den einzelnen Menschen Mit den Jahren wurde die Unordnung an der Grenze doch den Russen Moskowitiſcher Deutſchenhaß. ihnen im ſechzehnten Jahrhundert ihre eigenen Schüler, die ſkandinaviſchenVölker trotzig entgegengetreten um ſich ſelbſt für mündig zu erklären und ein unabhängiges nationales Leben zu beginnen. Jetzt kam die Zeit, da auch die geſammte ſubgermaniſche Welt des Oſtens, die ihre Geſittung faſt ausſchließlich den Deutſchen verdankte, ihren germaniſchen Lehrmeiſtern zu entwachſen verſuchte. Der erſtarkende Nationalſtolz der Magyaren und der Tſchechen, der Ruſſen und der Südſlaven bekundete ſich — das war der nothwendige Lauf der Welt — in einem wüthenden Deutſchen- haſſe. In Rußland nahmen auch ſchon die panſlaviſtiſchen Ideen über- hand, phantaſtiſche Träume von einer Vereinigung aller ſlaviſchen Völker, die ſich ſämmtlich dem weißen Czaren unterordnen ſollten. Darum be- geiſterte ſich der ruſſiſche Adel jetzt für ein Bündniß mit Frankreich, und dieſer Gedanke, der ſchon unter Alexander I. mehrmals aufgetaucht war, fand nunmehr auch in Frankreich manche ſchwärmeriſche Anhänger. Man entſann ſich wieder der Zeiten, da einſt Pozzo di Borgo als ruſſiſcher Geſandter und franzöſiſcher Patriot dem Tuilerienhofe ſeine Rathſchläge ertheilt hatte. Lamartine, der in ſeinen überſchwänglichen Reden doch zu- weilen ein Herzensgeheimniß ſeines Volkes prophetiſch herausfühlte, nannte das franzöſiſch-ruſſiſche Bündniß „den Schrei der Natur“, eine geographiſche Nothwendigkeit. Die Nationen gleichen in ihrem Gemüthsleben den einzelnen Menſchen Mit den Jahren wurde die Unordnung an der Grenze doch den Ruſſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0477" n="463"/><fw place="top" type="header">Moskowitiſcher Deutſchenhaß.</fw><lb/> ihnen im ſechzehnten Jahrhundert ihre eigenen Schüler, die ſkandinaviſchen<lb/> Völker trotzig entgegengetreten um ſich ſelbſt für mündig zu erklären und<lb/> ein unabhängiges nationales Leben zu beginnen. Jetzt kam die Zeit, da<lb/> auch die geſammte ſubgermaniſche Welt des Oſtens, die ihre Geſittung<lb/> faſt ausſchließlich den Deutſchen verdankte, ihren germaniſchen Lehrmeiſtern<lb/> zu entwachſen verſuchte. Der erſtarkende Nationalſtolz der Magyaren<lb/> und der Tſchechen, der Ruſſen und der Südſlaven bekundete ſich — das<lb/> war der nothwendige Lauf der Welt — in einem wüthenden Deutſchen-<lb/> haſſe. In Rußland nahmen auch ſchon die panſlaviſtiſchen Ideen über-<lb/> hand, phantaſtiſche Träume von einer Vereinigung aller ſlaviſchen Völker,<lb/> die ſich ſämmtlich dem weißen Czaren unterordnen ſollten. Darum be-<lb/> geiſterte ſich der ruſſiſche Adel jetzt für ein Bündniß mit Frankreich, und<lb/> dieſer Gedanke, der ſchon unter Alexander <hi rendition="#aq">I.</hi> mehrmals aufgetaucht war,<lb/> fand nunmehr auch in Frankreich manche ſchwärmeriſche Anhänger. Man<lb/> entſann ſich wieder der Zeiten, da einſt Pozzo di Borgo als ruſſiſcher<lb/> Geſandter und franzöſiſcher Patriot dem Tuilerienhofe ſeine Rathſchläge<lb/> ertheilt hatte. Lamartine, der in ſeinen überſchwänglichen Reden doch zu-<lb/> weilen ein Herzensgeheimniß ſeines Volkes prophetiſch herausfühlte, nannte<lb/> das franzöſiſch-ruſſiſche Bündniß „den Schrei der Natur“, eine geographiſche<lb/> Nothwendigkeit.</p><lb/> <p>Die Nationen gleichen in ihrem Gemüthsleben den einzelnen Menſchen<lb/> weit mehr, als die demokratiſche Volksſchmeichelei zugeben will; die Einen<lb/> wie die Anderen laſſen ſich oft auf lange hinaus durch fixe Ideen, durch<lb/> unklare Wahnvorſtellungen bezaubern. Rußland und Frankreich waren<lb/> durch keinerlei Gemeinſchaft der Intereſſen auf einander angewieſen; nur<lb/> ein einziges mal, im ſiebenjährigen Kriege, hatten ſie gemeinſam gegen<lb/> Deutſchland gefochten, und wahrhaftig nicht zu ihrem Ruhme. Was gleich-<lb/> wohl den Gedanken eines franzöſiſch-ruſſiſchen Bündniſſes jetzt wieder be-<lb/> lebte, war allein der Haß gegen das erſtarkende Mitteleuropa; und da<lb/> dieſe Empfindung im Weſten wie im Oſten die Gemüther wirklich be-<lb/> herrſchte, ſo konnte vielleicht dereinſt noch eine Zeit kommen, wo der krank-<lb/> hafte politiſche Plan ſich verwirklichte. Bis zu dieſem Aeußerſten freilich<lb/> wollte Nikolaus den Moskowitern nicht folgen. An dem Bunde der Oſt-<lb/> mächte hielt er noch immer ebenſo feſt wie ſeine vertrauten Rathgeber<lb/> Neſſelrode und Orlow; den Haß gegen das Julikönigthum und die alte<lb/> Vorliebe für das preußiſche Heer gab er auch niemals auf. Deßhalb ver-<lb/> höhnten ihn die Panſlaviſten als einen deutſchen Gottorper und benamſten<lb/> ihn Karl Iwanowitſch — was ihnen nebenbei den Vortheil bot, auf ihren<lb/> Czaren ebenſo ungeſtraft zu ſchimpfen wie die radicale Jugend Preußens über<lb/> ihren „Lehmann“ zu ſpotten pflegte. In der inneren Politik aber waltete<lb/> unumſchränkt das Moskowiterthum mit ſeinem barbariſchen Fremdenhaſſe.</p><lb/> <p>Mit den Jahren wurde die Unordnung an der Grenze doch den Ruſſen<lb/> ſelbſt läſtig. Cancrin zeigte ſich, als er zur Zeit des Thronwechſels durch<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [463/0477]
Moskowitiſcher Deutſchenhaß.
ihnen im ſechzehnten Jahrhundert ihre eigenen Schüler, die ſkandinaviſchen
Völker trotzig entgegengetreten um ſich ſelbſt für mündig zu erklären und
ein unabhängiges nationales Leben zu beginnen. Jetzt kam die Zeit, da
auch die geſammte ſubgermaniſche Welt des Oſtens, die ihre Geſittung
faſt ausſchließlich den Deutſchen verdankte, ihren germaniſchen Lehrmeiſtern
zu entwachſen verſuchte. Der erſtarkende Nationalſtolz der Magyaren
und der Tſchechen, der Ruſſen und der Südſlaven bekundete ſich — das
war der nothwendige Lauf der Welt — in einem wüthenden Deutſchen-
haſſe. In Rußland nahmen auch ſchon die panſlaviſtiſchen Ideen über-
hand, phantaſtiſche Träume von einer Vereinigung aller ſlaviſchen Völker,
die ſich ſämmtlich dem weißen Czaren unterordnen ſollten. Darum be-
geiſterte ſich der ruſſiſche Adel jetzt für ein Bündniß mit Frankreich, und
dieſer Gedanke, der ſchon unter Alexander I. mehrmals aufgetaucht war,
fand nunmehr auch in Frankreich manche ſchwärmeriſche Anhänger. Man
entſann ſich wieder der Zeiten, da einſt Pozzo di Borgo als ruſſiſcher
Geſandter und franzöſiſcher Patriot dem Tuilerienhofe ſeine Rathſchläge
ertheilt hatte. Lamartine, der in ſeinen überſchwänglichen Reden doch zu-
weilen ein Herzensgeheimniß ſeines Volkes prophetiſch herausfühlte, nannte
das franzöſiſch-ruſſiſche Bündniß „den Schrei der Natur“, eine geographiſche
Nothwendigkeit.
Die Nationen gleichen in ihrem Gemüthsleben den einzelnen Menſchen
weit mehr, als die demokratiſche Volksſchmeichelei zugeben will; die Einen
wie die Anderen laſſen ſich oft auf lange hinaus durch fixe Ideen, durch
unklare Wahnvorſtellungen bezaubern. Rußland und Frankreich waren
durch keinerlei Gemeinſchaft der Intereſſen auf einander angewieſen; nur
ein einziges mal, im ſiebenjährigen Kriege, hatten ſie gemeinſam gegen
Deutſchland gefochten, und wahrhaftig nicht zu ihrem Ruhme. Was gleich-
wohl den Gedanken eines franzöſiſch-ruſſiſchen Bündniſſes jetzt wieder be-
lebte, war allein der Haß gegen das erſtarkende Mitteleuropa; und da
dieſe Empfindung im Weſten wie im Oſten die Gemüther wirklich be-
herrſchte, ſo konnte vielleicht dereinſt noch eine Zeit kommen, wo der krank-
hafte politiſche Plan ſich verwirklichte. Bis zu dieſem Aeußerſten freilich
wollte Nikolaus den Moskowitern nicht folgen. An dem Bunde der Oſt-
mächte hielt er noch immer ebenſo feſt wie ſeine vertrauten Rathgeber
Neſſelrode und Orlow; den Haß gegen das Julikönigthum und die alte
Vorliebe für das preußiſche Heer gab er auch niemals auf. Deßhalb ver-
höhnten ihn die Panſlaviſten als einen deutſchen Gottorper und benamſten
ihn Karl Iwanowitſch — was ihnen nebenbei den Vortheil bot, auf ihren
Czaren ebenſo ungeſtraft zu ſchimpfen wie die radicale Jugend Preußens über
ihren „Lehmann“ zu ſpotten pflegte. In der inneren Politik aber waltete
unumſchränkt das Moskowiterthum mit ſeinem barbariſchen Fremdenhaſſe.
Mit den Jahren wurde die Unordnung an der Grenze doch den Ruſſen
ſelbſt läſtig. Cancrin zeigte ſich, als er zur Zeit des Thronwechſels durch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |