V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
Berlin kam, und nachher auch gegen den preußischen Gesandten sehr ver- bindlich, er wünschte einen neuen Handelsvertrag abzuschließen. Die Gelegenheit zu einem solchen Abkommen bot sich bald, da der Cartellver- trag über die Auslieferung der Flüchtlinge im Jahre 1842 ablief. Dies Cartell war für Rußland unschätzbar, weil die leibeigenen Soldaten sehr oft nach Preußen zu desertiren versuchten. Preußen dagegen empfand es nur als eine Belästigung; denn preußische Flüchtlinge gab es kaum, und die russischen wurden, sobald sie der Wachsamkeit der Grenzbehörden entgingen, als kräftige Feldarbeiter von den Grundbesitzern in Posen und Ostpreußen nicht ungern aufgenommen. Wenn der Berliner Hof gleichwohl die Erneuerung des Cartells nicht von der Hand wies, so durfte er sich für einen solchen Beweis freundnachbarlicher Gefälligkeit wohl die Erleichterung des Grenzverkehres, die in den Ostprovinzen überall stürmisch gefordert wurde, und einige Zollermäßigungen ausbedingen. Deßhalb wurden im Frühjahr 1842 Unterhandlungen eingeleitet und das Cartell noch vorläufig auf ein halbes Jahr verlängert.*)
Als der König darauf im Juni selbst nach Petersburg kam**), da bereitete der Czar dem Gaste seines Hauses eine orientalische Ueberraschung, deren gleichen im Abendlande kaum möglich war. Er erklärte, aus reiner Freundschaft für den König wolle er sofort den Grenzverkehr, wie Preußen wünschte, etwas erleichtern, auch mehrere neue Grenzämter einrichten und die Zölle auf einige preußische Waaren, Seide, Baumwolle, Eisen ernie- drigen. Diese Gewährungen sollten sogleich durch einen Ukas eingeführt werden. Gegenleistungen verlangte er nicht; vielmehr überließ er die Erneuerung des Cartells und die Herabsetzung der Durchfuhrzölle für russisches Getreide vertrauensvoll "der Billigkeit und den freundschaft- lichen Gefühlen des Königs". Die plumpe List konnte bei Friedrich Wil- helm's argloser Hochherzigkeit vielleicht gelingen; doch zum Glück begleiteten ihn zwei nüchterne, geschäftskundige Unterhändler, die Cabinetsräthe Uhden und Müller. Beide warnten dringend, und in Berlin errieth man sofort, wo der Czar hinaus wollte. Er rechnete -- so schrieb General Thile -- "daß es ihm durch die Form einer zuvorkommenden Generosität am sicher- sten gelingen würde, jede weitere Verhandlung zu umgehen und die Be- dingungen der Vereinigung einseitig zu normiren."***)
Die preußische Regierung behandelte mithin die Gewährungen des Czaren, wie es sich zwischen civilisirten Staaten ganz von selbst versteht, nur als Vorschläge und verlangte noch einige andere Zugeständnisse.+) Darüber gerieth Nikolaus in Wuth; es wurmte ihn gar zu tief, daß man ihn durchschaut hatte, grimmig schalt er auf den schnöden Undank der
*) Boyen, Bülow, Rochow und Werther, Bericht an den König, 8. März 1842.
**) S. o. V. 170.
***) Thile's Bericht an den König, 22. Sept. 1842.
+) Bülow, Weisung an Rauch, 20. Aug. 1842.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Berlin kam, und nachher auch gegen den preußiſchen Geſandten ſehr ver- bindlich, er wünſchte einen neuen Handelsvertrag abzuſchließen. Die Gelegenheit zu einem ſolchen Abkommen bot ſich bald, da der Cartellver- trag über die Auslieferung der Flüchtlinge im Jahre 1842 ablief. Dies Cartell war für Rußland unſchätzbar, weil die leibeigenen Soldaten ſehr oft nach Preußen zu deſertiren verſuchten. Preußen dagegen empfand es nur als eine Beläſtigung; denn preußiſche Flüchtlinge gab es kaum, und die ruſſiſchen wurden, ſobald ſie der Wachſamkeit der Grenzbehörden entgingen, als kräftige Feldarbeiter von den Grundbeſitzern in Poſen und Oſtpreußen nicht ungern aufgenommen. Wenn der Berliner Hof gleichwohl die Erneuerung des Cartells nicht von der Hand wies, ſo durfte er ſich für einen ſolchen Beweis freundnachbarlicher Gefälligkeit wohl die Erleichterung des Grenzverkehres, die in den Oſtprovinzen überall ſtürmiſch gefordert wurde, und einige Zollermäßigungen ausbedingen. Deßhalb wurden im Frühjahr 1842 Unterhandlungen eingeleitet und das Cartell noch vorläufig auf ein halbes Jahr verlängert.*)
Als der König darauf im Juni ſelbſt nach Petersburg kam**), da bereitete der Czar dem Gaſte ſeines Hauſes eine orientaliſche Ueberraſchung, deren gleichen im Abendlande kaum möglich war. Er erklärte, aus reiner Freundſchaft für den König wolle er ſofort den Grenzverkehr, wie Preußen wünſchte, etwas erleichtern, auch mehrere neue Grenzämter einrichten und die Zölle auf einige preußiſche Waaren, Seide, Baumwolle, Eiſen ernie- drigen. Dieſe Gewährungen ſollten ſogleich durch einen Ukas eingeführt werden. Gegenleiſtungen verlangte er nicht; vielmehr überließ er die Erneuerung des Cartells und die Herabſetzung der Durchfuhrzölle für ruſſiſches Getreide vertrauensvoll „der Billigkeit und den freundſchaft- lichen Gefühlen des Königs“. Die plumpe Liſt konnte bei Friedrich Wil- helm’s argloſer Hochherzigkeit vielleicht gelingen; doch zum Glück begleiteten ihn zwei nüchterne, geſchäftskundige Unterhändler, die Cabinetsräthe Uhden und Müller. Beide warnten dringend, und in Berlin errieth man ſofort, wo der Czar hinaus wollte. Er rechnete — ſo ſchrieb General Thile — „daß es ihm durch die Form einer zuvorkommenden Generoſität am ſicher- ſten gelingen würde, jede weitere Verhandlung zu umgehen und die Be- dingungen der Vereinigung einſeitig zu normiren.“***)
Die preußiſche Regierung behandelte mithin die Gewährungen des Czaren, wie es ſich zwiſchen civiliſirten Staaten ganz von ſelbſt verſteht, nur als Vorſchläge und verlangte noch einige andere Zugeſtändniſſe.†) Darüber gerieth Nikolaus in Wuth; es wurmte ihn gar zu tief, daß man ihn durchſchaut hatte, grimmig ſchalt er auf den ſchnöden Undank der
*) Boyen, Bülow, Rochow und Werther, Bericht an den König, 8. März 1842.
**) S. o. V. 170.
***) Thile’s Bericht an den König, 22. Sept. 1842.
†) Bülow, Weiſung an Rauch, 20. Aug. 1842.
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Berlin kam, und nachher auch gegen den preußiſchen Geſandten ſehr ver-
bindlich, er wünſchte einen neuen Handelsvertrag abzuſchließen. Die
Gelegenheit zu einem ſolchen Abkommen bot ſich bald, da der Cartellver-
trag über die Auslieferung der Flüchtlinge im Jahre 1842 ablief. Dies
Cartell war für Rußland unſchätzbar, weil die leibeigenen Soldaten ſehr
oft nach Preußen zu deſertiren verſuchten. Preußen dagegen empfand
es nur als eine Beläſtigung; denn preußiſche Flüchtlinge gab es kaum,
und die ruſſiſchen wurden, ſobald ſie der Wachſamkeit der Grenzbehörden
entgingen, als kräftige Feldarbeiter von den Grundbeſitzern in Poſen
und Oſtpreußen nicht ungern aufgenommen. Wenn der Berliner Hof
gleichwohl die Erneuerung des Cartells nicht von der Hand wies, ſo durfte
er ſich für einen ſolchen Beweis freundnachbarlicher Gefälligkeit wohl die
Erleichterung des Grenzverkehres, die in den Oſtprovinzen überall ſtürmiſch
gefordert wurde, und einige Zollermäßigungen ausbedingen. Deßhalb
wurden im Frühjahr 1842 Unterhandlungen eingeleitet und das Cartell
noch vorläufig auf ein halbes Jahr verlängert. *)
Als der König darauf im Juni ſelbſt nach Petersburg kam **), da
bereitete der Czar dem Gaſte ſeines Hauſes eine orientaliſche Ueberraſchung,
deren gleichen im Abendlande kaum möglich war. Er erklärte, aus reiner
Freundſchaft für den König wolle er ſofort den Grenzverkehr, wie Preußen
wünſchte, etwas erleichtern, auch mehrere neue Grenzämter einrichten und
die Zölle auf einige preußiſche Waaren, Seide, Baumwolle, Eiſen ernie-
drigen. Dieſe Gewährungen ſollten ſogleich durch einen Ukas eingeführt
werden. Gegenleiſtungen verlangte er nicht; vielmehr überließ er die
Erneuerung des Cartells und die Herabſetzung der Durchfuhrzölle für
ruſſiſches Getreide vertrauensvoll „der Billigkeit und den freundſchaft-
lichen Gefühlen des Königs“. Die plumpe Liſt konnte bei Friedrich Wil-
helm’s argloſer Hochherzigkeit vielleicht gelingen; doch zum Glück begleiteten
ihn zwei nüchterne, geſchäftskundige Unterhändler, die Cabinetsräthe Uhden
und Müller. Beide warnten dringend, und in Berlin errieth man ſofort,
wo der Czar hinaus wollte. Er rechnete — ſo ſchrieb General Thile —
„daß es ihm durch die Form einer zuvorkommenden Generoſität am ſicher-
ſten gelingen würde, jede weitere Verhandlung zu umgehen und die Be-
dingungen der Vereinigung einſeitig zu normiren.“ ***)
Die preußiſche Regierung behandelte mithin die Gewährungen des
Czaren, wie es ſich zwiſchen civiliſirten Staaten ganz von ſelbſt verſteht,
nur als Vorſchläge und verlangte noch einige andere Zugeſtändniſſe. †)
Darüber gerieth Nikolaus in Wuth; es wurmte ihn gar zu tief, daß man
ihn durchſchaut hatte, grimmig ſchalt er auf den ſchnöden Undank der
*) Boyen, Bülow, Rochow und Werther, Bericht an den König, 8. März 1842.
**) S. o. V. 170.
***) Thile’s Bericht an den König, 22. Sept. 1842.
†) Bülow, Weiſung an Rauch, 20. Aug. 1842.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/478>, abgerufen am 26.06.2024.
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