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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Arbeiternoth. Ländliches Proletariat.
fall sei sie dazu bereit; es erschien ihr jedoch "sehr zweifelhaft", ob der
Gesetzgeber hier schützen könne "ohne durch zu tiefes Eingreifen in die
privatrechtlichen Verhältnisse die Existenz der Arbeiter, besonders in Zeiten
gedrückten Fabrikbetriebs, zu gefährden"; sie gab sich vielmehr der unschul-
digen Hoffnung hin, "das wucherische Benehmen einzelner Fabrikherren
würde, gebrandmarkt durch die öffentliche Meinung, endlich ganz aufhören."

Die in England längst gewährte Freiheit der Association war in Deutsch-
land, Dank der Aengstlichkeit der Bureaukratie, den Arbeitern überall ver-
sagt. Aus aller Welt zusammengeschneit, heimathlos und doch streng an
Ort und Zeit gebunden, vereinzelt, ohne jede ständische Ordnung, ohne
kameradschaftlichen Gemeinsinn, ohne Freude an dem Erzeugniß ihres
Fleißes, das sie nicht, wie jeder schlichte Handwerker, stolz als ihrer Hände
Werk betrachten konnten, gedankenlose Sklaven der Maschinen, nur mangel-
haft geschützt durch die hie und da neu gebildeten Fabrikgerichte, blieben
die Arbeiter also ganz in der Hand der mächtigen Unternehmer, die ihnen
nur den ausbedungenen Lohn zu zahlen brauchten und auch diesen, auf
Grund der willkürlich auferlegten Contracte, nur zu oft schmälerten. Dem
Gesetze zuwider versuchten die Bedrängten sich zuweilen schon durch Ar-
beitseinstellungen zu helfen, so die Kattunweber in Berlin, die Eisenbahn-
arbeiter bei Brandenburg und Vohwinkel.

Auch auf dem flachen Lande des Nordostens zeigten sich krankhafte sociale
Verhältnisse, seit man die zweischneidige Wirkung der Stein-Hardenbergischen
Gesetzgebung zu fühlen begann. Wie zuversichtlich stellte Hardenberg einst
an die Spitze seines Verfassungsplanes den Grundsatz: wir haben lauter freie
Eigenthümer; wie hoffnungsvoll sprach Sack von "dem zweiten und dem
dritten Pommern", das durch die Ansiedlung freier Bauern entstehen
sollte. Und doch wie anders war Alles gekommen. Der ländliche Mittelstand
freilich hatte durch die agrarischen Reformgesetze erheblich gewonnen; die
Bauern waren jetzt persönlich frei, der grundherrlichen Abgaben entlastet
und, nach Abtretung eines Theiles ihrer Besitzungen, unbeschränkte Eigen-
thümer. Sobald der Preis des Getreides wieder stieg, gelangten ihrer viele
zum Wohlstand, zumal die besonders günstig gestellten alten Domänen-
bauern; manche wurden reicher als die benachbarten Rittergutsbesitzer
und begannen gleich diesen, ihren Boden nach den Grundsätzen des neuen
rationellen Ackerbaus zu bewirthschaften. Die Besitzer der kleinen nicht
spannfähigen Stellen hingegen sahen sich durch die Declaration vom
29. Mai 1816 von der Regulirung ausgeschlossen, weil die Krone damals
Bedenken trug, die im Kriege so hart mitgenommenen Grundherren durch
Entziehung der gewohnten Handdienste ganz zu Grunde zu richten.*) Seit
die Landgüter frei veräußert werden durften, fiel aber auch der alte wohl-
thätige Bauernschutz hinweg, und die Gesetzgeber konnten kaum vorhersehen,

*) S. o. II. 189 (4. Aufl.), III. 381, IV. 559.

Arbeiternoth. Ländliches Proletariat.
fall ſei ſie dazu bereit; es erſchien ihr jedoch „ſehr zweifelhaft“, ob der
Geſetzgeber hier ſchützen könne „ohne durch zu tiefes Eingreifen in die
privatrechtlichen Verhältniſſe die Exiſtenz der Arbeiter, beſonders in Zeiten
gedrückten Fabrikbetriebs, zu gefährden“; ſie gab ſich vielmehr der unſchul-
digen Hoffnung hin, „das wucheriſche Benehmen einzelner Fabrikherren
würde, gebrandmarkt durch die öffentliche Meinung, endlich ganz aufhören.“

Die in England längſt gewährte Freiheit der Aſſociation war in Deutſch-
land, Dank der Aengſtlichkeit der Bureaukratie, den Arbeitern überall ver-
ſagt. Aus aller Welt zuſammengeſchneit, heimathlos und doch ſtreng an
Ort und Zeit gebunden, vereinzelt, ohne jede ſtändiſche Ordnung, ohne
kameradſchaftlichen Gemeinſinn, ohne Freude an dem Erzeugniß ihres
Fleißes, das ſie nicht, wie jeder ſchlichte Handwerker, ſtolz als ihrer Hände
Werk betrachten konnten, gedankenloſe Sklaven der Maſchinen, nur mangel-
haft geſchützt durch die hie und da neu gebildeten Fabrikgerichte, blieben
die Arbeiter alſo ganz in der Hand der mächtigen Unternehmer, die ihnen
nur den ausbedungenen Lohn zu zahlen brauchten und auch dieſen, auf
Grund der willkürlich auferlegten Contracte, nur zu oft ſchmälerten. Dem
Geſetze zuwider verſuchten die Bedrängten ſich zuweilen ſchon durch Ar-
beitseinſtellungen zu helfen, ſo die Kattunweber in Berlin, die Eiſenbahn-
arbeiter bei Brandenburg und Vohwinkel.

Auch auf dem flachen Lande des Nordoſtens zeigten ſich krankhafte ſociale
Verhältniſſe, ſeit man die zweiſchneidige Wirkung der Stein-Hardenbergiſchen
Geſetzgebung zu fühlen begann. Wie zuverſichtlich ſtellte Hardenberg einſt
an die Spitze ſeines Verfaſſungsplanes den Grundſatz: wir haben lauter freie
Eigenthümer; wie hoffnungsvoll ſprach Sack von „dem zweiten und dem
dritten Pommern“, das durch die Anſiedlung freier Bauern entſtehen
ſollte. Und doch wie anders war Alles gekommen. Der ländliche Mittelſtand
freilich hatte durch die agrariſchen Reformgeſetze erheblich gewonnen; die
Bauern waren jetzt perſönlich frei, der grundherrlichen Abgaben entlaſtet
und, nach Abtretung eines Theiles ihrer Beſitzungen, unbeſchränkte Eigen-
thümer. Sobald der Preis des Getreides wieder ſtieg, gelangten ihrer viele
zum Wohlſtand, zumal die beſonders günſtig geſtellten alten Domänen-
bauern; manche wurden reicher als die benachbarten Rittergutsbeſitzer
und begannen gleich dieſen, ihren Boden nach den Grundſätzen des neuen
rationellen Ackerbaus zu bewirthſchaften. Die Beſitzer der kleinen nicht
ſpannfähigen Stellen hingegen ſahen ſich durch die Declaration vom
29. Mai 1816 von der Regulirung ausgeſchloſſen, weil die Krone damals
Bedenken trug, die im Kriege ſo hart mitgenommenen Grundherren durch
Entziehung der gewohnten Handdienſte ganz zu Grunde zu richten.*) Seit
die Landgüter frei veräußert werden durften, fiel aber auch der alte wohl-
thätige Bauernſchutz hinweg, und die Geſetzgeber konnten kaum vorherſehen,

*) S. o. II. 189 (4. Aufl.), III. 381, IV. 559.
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[511/0525] Arbeiternoth. Ländliches Proletariat. fall ſei ſie dazu bereit; es erſchien ihr jedoch „ſehr zweifelhaft“, ob der Geſetzgeber hier ſchützen könne „ohne durch zu tiefes Eingreifen in die privatrechtlichen Verhältniſſe die Exiſtenz der Arbeiter, beſonders in Zeiten gedrückten Fabrikbetriebs, zu gefährden“; ſie gab ſich vielmehr der unſchul- digen Hoffnung hin, „das wucheriſche Benehmen einzelner Fabrikherren würde, gebrandmarkt durch die öffentliche Meinung, endlich ganz aufhören.“ Die in England längſt gewährte Freiheit der Aſſociation war in Deutſch- land, Dank der Aengſtlichkeit der Bureaukratie, den Arbeitern überall ver- ſagt. Aus aller Welt zuſammengeſchneit, heimathlos und doch ſtreng an Ort und Zeit gebunden, vereinzelt, ohne jede ſtändiſche Ordnung, ohne kameradſchaftlichen Gemeinſinn, ohne Freude an dem Erzeugniß ihres Fleißes, das ſie nicht, wie jeder ſchlichte Handwerker, ſtolz als ihrer Hände Werk betrachten konnten, gedankenloſe Sklaven der Maſchinen, nur mangel- haft geſchützt durch die hie und da neu gebildeten Fabrikgerichte, blieben die Arbeiter alſo ganz in der Hand der mächtigen Unternehmer, die ihnen nur den ausbedungenen Lohn zu zahlen brauchten und auch dieſen, auf Grund der willkürlich auferlegten Contracte, nur zu oft ſchmälerten. Dem Geſetze zuwider verſuchten die Bedrängten ſich zuweilen ſchon durch Ar- beitseinſtellungen zu helfen, ſo die Kattunweber in Berlin, die Eiſenbahn- arbeiter bei Brandenburg und Vohwinkel. Auch auf dem flachen Lande des Nordoſtens zeigten ſich krankhafte ſociale Verhältniſſe, ſeit man die zweiſchneidige Wirkung der Stein-Hardenbergiſchen Geſetzgebung zu fühlen begann. Wie zuverſichtlich ſtellte Hardenberg einſt an die Spitze ſeines Verfaſſungsplanes den Grundſatz: wir haben lauter freie Eigenthümer; wie hoffnungsvoll ſprach Sack von „dem zweiten und dem dritten Pommern“, das durch die Anſiedlung freier Bauern entſtehen ſollte. Und doch wie anders war Alles gekommen. Der ländliche Mittelſtand freilich hatte durch die agrariſchen Reformgeſetze erheblich gewonnen; die Bauern waren jetzt perſönlich frei, der grundherrlichen Abgaben entlaſtet und, nach Abtretung eines Theiles ihrer Beſitzungen, unbeſchränkte Eigen- thümer. Sobald der Preis des Getreides wieder ſtieg, gelangten ihrer viele zum Wohlſtand, zumal die beſonders günſtig geſtellten alten Domänen- bauern; manche wurden reicher als die benachbarten Rittergutsbeſitzer und begannen gleich dieſen, ihren Boden nach den Grundſätzen des neuen rationellen Ackerbaus zu bewirthſchaften. Die Beſitzer der kleinen nicht ſpannfähigen Stellen hingegen ſahen ſich durch die Declaration vom 29. Mai 1816 von der Regulirung ausgeſchloſſen, weil die Krone damals Bedenken trug, die im Kriege ſo hart mitgenommenen Grundherren durch Entziehung der gewohnten Handdienſte ganz zu Grunde zu richten. *) Seit die Landgüter frei veräußert werden durften, fiel aber auch der alte wohl- thätige Bauernſchutz hinweg, und die Geſetzgeber konnten kaum vorherſehen, *) S. o. II. 189 (4. Aufl.), III. 381, IV. 559.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/525>, abgerufen am 22.11.2024.