V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
einmal mit Weitling zufällig zusammentraf und von dem Schneider wie ein biderber Kamerad angeredet wurde, da fühlte er sich tief gedemüthigt "beim Handwerksgruße des ungläubigen Gnotenthums". In Wahrheit war der Gnote gläubiger als der Dichter, der mit allen seinen Ueberzeugungen nur geistreich spielte; aber Heine's künstlerische Empfindung konnte den Verkehr mit der Hefe der Gesellschaft nicht ertragen, und bald zog er sich vorsichtig zurück. Auch Ruge erschrak, als er die letzten Ziele seiner Pariser Kumpanei endlich erkannte. Wie viele Standpunkte hatte der Hohepriester der Junghegelianer mit seiner behenden Dialektik nun schon überwunden; über den Standpunkt der selbständigen Persönlichkeit und ihres Eigenthums kam er doch nicht hinaus, obgleich er selber arm blieb. Sein derber pommerscher Menschenverstand und das reizbare Ehrgefühl des alten Burschenschafters bewahrten ihn vor dem Alleräußersten, und so- bald er seine Leute durchschaut hatte schrieb er mit gewohnter Kampf- lust gegen "die Verrücktheit der Theorie und den Schmutz der Gesinnung des Rabbi Moses Heß". Sogar Heinzen, das große Schimpftalent der Demagogen wollte den Communisten nicht mehr folgen, als sie den logi- schen Schluß aus seinen eigenen Lehren zogen. Der politische und der sociale Radicalismus begannen sich zu scheiden.
Die kräftigste Hilfe kam den Communisten aus England. Dort hatten die schändlich bedrückten Arbeiter schon 1835 den mächtigen Chartisten- bund gebildet. Die große Volkscharte forderte zunächst nur politische Rechte: das allgemeine Stimmrecht mit Allem, was dazu gehört. Doch Jedermann wußte, daß die gerühmten sechs Punkte der Charte nur die Mittel bieten sollten um das wirthschaftliche Leben gänzlich umzugestalten; und schon nach drei Jahren sprach der Methodistenprediger Stephens das entscheidende Wort: der Chartismus ist eine Messer- und Gabelfrage. In der Arbeiter-Marseillaise der Chartisten wurde König Dampf verflucht, "ein Tyrann, den der weiße Sklave kennt." Um die Macht und die Niedertracht der modernen Großindustrie an der Quelle kennen zu lernen ging der junge Rheinländer Fr. Engels, neben Marx der beste Kopf der deutschen Communisten, nach London und schrieb sodann, im Einzelnen parteiisch übertreibend, im Wesentlichen wahrheitsgetreu, ein geistreiches, gründliches Buch über "die Lage der arbeitenden Klassen in England" (1843). Die drastische Schilderung namenlosen Elends wirkte tief er- greifend; sie schloß mit der Weissagung einer nahen socialen Revolu- tion, die in England allerdings drohte, jedoch durch den starken Selbst- erhaltungstrieb des altbefestigten Staatswesens noch glücklich abgewendet wurde. Späterhin traten Engels und Marx in den großen internatio- nalen Arbeiterbund, der einst durch den Deutschen Schapper in London gestiftet und mittlerweile stark angewachsen war.*) Marx war jetzt schon
*) S. o. IV. 607.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
einmal mit Weitling zufällig zuſammentraf und von dem Schneider wie ein biderber Kamerad angeredet wurde, da fühlte er ſich tief gedemüthigt „beim Handwerksgruße des ungläubigen Gnotenthums“. In Wahrheit war der Gnote gläubiger als der Dichter, der mit allen ſeinen Ueberzeugungen nur geiſtreich ſpielte; aber Heine’s künſtleriſche Empfindung konnte den Verkehr mit der Hefe der Geſellſchaft nicht ertragen, und bald zog er ſich vorſichtig zurück. Auch Ruge erſchrak, als er die letzten Ziele ſeiner Pariſer Kumpanei endlich erkannte. Wie viele Standpunkte hatte der Hoheprieſter der Junghegelianer mit ſeiner behenden Dialektik nun ſchon überwunden; über den Standpunkt der ſelbſtändigen Perſönlichkeit und ihres Eigenthums kam er doch nicht hinaus, obgleich er ſelber arm blieb. Sein derber pommerſcher Menſchenverſtand und das reizbare Ehrgefühl des alten Burſchenſchafters bewahrten ihn vor dem Alleräußerſten, und ſo- bald er ſeine Leute durchſchaut hatte ſchrieb er mit gewohnter Kampf- luſt gegen „die Verrücktheit der Theorie und den Schmutz der Geſinnung des Rabbi Moſes Heß“. Sogar Heinzen, das große Schimpftalent der Demagogen wollte den Communiſten nicht mehr folgen, als ſie den logi- ſchen Schluß aus ſeinen eigenen Lehren zogen. Der politiſche und der ſociale Radicalismus begannen ſich zu ſcheiden.
Die kräftigſte Hilfe kam den Communiſten aus England. Dort hatten die ſchändlich bedrückten Arbeiter ſchon 1835 den mächtigen Chartiſten- bund gebildet. Die große Volkscharte forderte zunächſt nur politiſche Rechte: das allgemeine Stimmrecht mit Allem, was dazu gehört. Doch Jedermann wußte, daß die gerühmten ſechs Punkte der Charte nur die Mittel bieten ſollten um das wirthſchaftliche Leben gänzlich umzugeſtalten; und ſchon nach drei Jahren ſprach der Methodiſtenprediger Stephens das entſcheidende Wort: der Chartismus iſt eine Meſſer- und Gabelfrage. In der Arbeiter-Marſeillaiſe der Chartiſten wurde König Dampf verflucht, „ein Tyrann, den der weiße Sklave kennt.“ Um die Macht und die Niedertracht der modernen Großinduſtrie an der Quelle kennen zu lernen ging der junge Rheinländer Fr. Engels, neben Marx der beſte Kopf der deutſchen Communiſten, nach London und ſchrieb ſodann, im Einzelnen parteiiſch übertreibend, im Weſentlichen wahrheitsgetreu, ein geiſtreiches, gründliches Buch über „die Lage der arbeitenden Klaſſen in England“ (1843). Die draſtiſche Schilderung namenloſen Elends wirkte tief er- greifend; ſie ſchloß mit der Weiſſagung einer nahen ſocialen Revolu- tion, die in England allerdings drohte, jedoch durch den ſtarken Selbſt- erhaltungstrieb des altbefeſtigten Staatsweſens noch glücklich abgewendet wurde. Späterhin traten Engels und Marx in den großen internatio- nalen Arbeiterbund, der einſt durch den Deutſchen Schapper in London geſtiftet und mittlerweile ſtark angewachſen war.*) Marx war jetzt ſchon
*) S. o. IV. 607.
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
einmal mit Weitling zufällig zuſammentraf und von dem Schneider wie ein
biderber Kamerad angeredet wurde, da fühlte er ſich tief gedemüthigt „beim
Handwerksgruße des ungläubigen Gnotenthums“. In Wahrheit war der
Gnote gläubiger als der Dichter, der mit allen ſeinen Ueberzeugungen
nur geiſtreich ſpielte; aber Heine’s künſtleriſche Empfindung konnte den
Verkehr mit der Hefe der Geſellſchaft nicht ertragen, und bald zog er
ſich vorſichtig zurück. Auch Ruge erſchrak, als er die letzten Ziele ſeiner
Pariſer Kumpanei endlich erkannte. Wie viele Standpunkte hatte der
Hoheprieſter der Junghegelianer mit ſeiner behenden Dialektik nun ſchon
überwunden; über den Standpunkt der ſelbſtändigen Perſönlichkeit und
ihres Eigenthums kam er doch nicht hinaus, obgleich er ſelber arm blieb.
Sein derber pommerſcher Menſchenverſtand und das reizbare Ehrgefühl des
alten Burſchenſchafters bewahrten ihn vor dem Alleräußerſten, und ſo-
bald er ſeine Leute durchſchaut hatte ſchrieb er mit gewohnter Kampf-
luſt gegen „die Verrücktheit der Theorie und den Schmutz der Geſinnung
des Rabbi Moſes Heß“. Sogar Heinzen, das große Schimpftalent der
Demagogen wollte den Communiſten nicht mehr folgen, als ſie den logi-
ſchen Schluß aus ſeinen eigenen Lehren zogen. Der politiſche und der
ſociale Radicalismus begannen ſich zu ſcheiden.
Die kräftigſte Hilfe kam den Communiſten aus England. Dort hatten
die ſchändlich bedrückten Arbeiter ſchon 1835 den mächtigen Chartiſten-
bund gebildet. Die große Volkscharte forderte zunächſt nur politiſche
Rechte: das allgemeine Stimmrecht mit Allem, was dazu gehört. Doch
Jedermann wußte, daß die gerühmten ſechs Punkte der Charte nur die
Mittel bieten ſollten um das wirthſchaftliche Leben gänzlich umzugeſtalten;
und ſchon nach drei Jahren ſprach der Methodiſtenprediger Stephens das
entſcheidende Wort: der Chartismus iſt eine Meſſer- und Gabelfrage. In
der Arbeiter-Marſeillaiſe der Chartiſten wurde König Dampf verflucht,
„ein Tyrann, den der weiße Sklave kennt.“ Um die Macht und die
Niedertracht der modernen Großinduſtrie an der Quelle kennen zu lernen
ging der junge Rheinländer Fr. Engels, neben Marx der beſte Kopf der
deutſchen Communiſten, nach London und ſchrieb ſodann, im Einzelnen
parteiiſch übertreibend, im Weſentlichen wahrheitsgetreu, ein geiſtreiches,
gründliches Buch über „die Lage der arbeitenden Klaſſen in England“
(1843). Die draſtiſche Schilderung namenloſen Elends wirkte tief er-
greifend; ſie ſchloß mit der Weiſſagung einer nahen ſocialen Revolu-
tion, die in England allerdings drohte, jedoch durch den ſtarken Selbſt-
erhaltungstrieb des altbefeſtigten Staatsweſens noch glücklich abgewendet
wurde. Späterhin traten Engels und Marx in den großen internatio-
nalen Arbeiterbund, der einſt durch den Deutſchen Schapper in London
geſtiftet und mittlerweile ſtark angewachſen war. *) Marx war jetzt ſchon
*) S. o. IV. 607.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/530>, abgerufen am 26.06.2024.
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