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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
größten Theil ihrer dürftigen Ernte in das Ausland verkaufen. Bei dem
allgemeinen Elend zeigte sich der Bundestag wieder ebenso nichtig wie
vor dreißig Jahren, und wieder wie damals verbot Oesterreich bundes-
freundlich sofort die Getreide-Ausfuhr nach den deutschen Nachbarländern.

Aber auch der Zollverein einigte sich nicht rechtzeitig über gemeinsame
Maßregeln; man fühlte nur zu schmerzlich, daß der alte König, Motz und
Eichhorn nicht mehr umsichtig den nationalen Handelsbund behüteten.
Jeder Bundesstaat handelte auf eigene Faust, am klügsten das Königreich
Sachsen, das die Ausfuhrverbote des österreichischen Nachbarn nicht er-
widerte, sondern mit mäßigen Getreide-Einkäufen und einer sehr milden
Beaufsichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam. Hier allein blieb die
Ruhe ganz ungestört. Fast überall sonst in den größeren Städten, selbst
in dem stillen Stettin mußten Zusammenrottungen der hungernden kleinen
Leute mehr oder minder gewaltsam auseinander getrieben werden. Viel
zu denken gaben die Unruhen, welche Berlin im April 1847 drei Tage
hinter einander heimsuchten. Sie wurden durch die Schlaffheit des greisen
Gouverneurs Müffling genährt, dann durch das entschlossene Eingreifen
des Generals Prittwitz und seiner Kürassiere gestillt. Es fiel doch auf,
wie viele wohlgekleidete Männer sich unter dem hungernden Pöbel um-
hertrieben; die zahlreichen Verwundeten hielten sich allesammt versteckt,
kein einziger meldete sich in den öffentlichen Krankenhäusern. Man konnte
sich des Verdachtes kaum erwehren, daß eine verschworene Umsturzpartei
die gute Stunde benutzt hatte um die Widerstandskraft der Staatsgewalt
einmal auf die Probe zu stellen. Erschreckt durch diese Unruhen, ließ der
König, um den Armen das unentbehrlichste Nahrungsmittel zu erhalten,
für einige Zeit die Ausfuhr der Kartoffeln und die Branntweinbrennerei
untersagen -- ein Verbot, das nichts nützte, sondern, wie Kühne vorher-
sagte, die allgemeine Besorgniß nur steigerte. Der hessische Minister du
Thil ließ in Holland Getreide einkaufen und verschaffte sich dazu Credit-
briefe vom Hause Rothschild. Als aber die Mehrzahl der holländischen
Verkäufer vorzog sich in Mainz baar bezahlen zu lassen, da wollte der
menschenfreundliche Rothschild aus der ungewöhnlichen Landesnoth auch
noch einen ungewöhnlichen Gewinn ziehen und verlangte Entschädigung
für die unbenutzten Creditbriefe -- was du Thil als "eine Unverschämt-
heit" rundweg zurückwies.*) Also half sich jeder Landesherr wie er konnte;
im Volke blieb viel dumpfer Mißmuth zurück.

Nur an einer Stelle Deutschlands wüthete verheerend die Hungers-
noth: unter den Wasserpolen Oberschlesiens. Diese blutarmen Berg-
arbeiter hatten drei Jahre nach einander die Kartoffelernte mißrathen sehen,
sie hatten "die Bergmannskuh", die Ziege längst geschlachtet, sie waren
entnervt durch die Branntweinspest. Nun da sie schon alle Hoffnung

*) Nach du Thil's Aufzeichnungen.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
größten Theil ihrer dürftigen Ernte in das Ausland verkaufen. Bei dem
allgemeinen Elend zeigte ſich der Bundestag wieder ebenſo nichtig wie
vor dreißig Jahren, und wieder wie damals verbot Oeſterreich bundes-
freundlich ſofort die Getreide-Ausfuhr nach den deutſchen Nachbarländern.

Aber auch der Zollverein einigte ſich nicht rechtzeitig über gemeinſame
Maßregeln; man fühlte nur zu ſchmerzlich, daß der alte König, Motz und
Eichhorn nicht mehr umſichtig den nationalen Handelsbund behüteten.
Jeder Bundesſtaat handelte auf eigene Fauſt, am klügſten das Königreich
Sachſen, das die Ausfuhrverbote des öſterreichiſchen Nachbarn nicht er-
widerte, ſondern mit mäßigen Getreide-Einkäufen und einer ſehr milden
Beaufſichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam. Hier allein blieb die
Ruhe ganz ungeſtört. Faſt überall ſonſt in den größeren Städten, ſelbſt
in dem ſtillen Stettin mußten Zuſammenrottungen der hungernden kleinen
Leute mehr oder minder gewaltſam auseinander getrieben werden. Viel
zu denken gaben die Unruhen, welche Berlin im April 1847 drei Tage
hinter einander heimſuchten. Sie wurden durch die Schlaffheit des greiſen
Gouverneurs Müffling genährt, dann durch das entſchloſſene Eingreifen
des Generals Prittwitz und ſeiner Küraſſiere geſtillt. Es fiel doch auf,
wie viele wohlgekleidete Männer ſich unter dem hungernden Pöbel um-
hertrieben; die zahlreichen Verwundeten hielten ſich alleſammt verſteckt,
kein einziger meldete ſich in den öffentlichen Krankenhäuſern. Man konnte
ſich des Verdachtes kaum erwehren, daß eine verſchworene Umſturzpartei
die gute Stunde benutzt hatte um die Widerſtandskraft der Staatsgewalt
einmal auf die Probe zu ſtellen. Erſchreckt durch dieſe Unruhen, ließ der
König, um den Armen das unentbehrlichſte Nahrungsmittel zu erhalten,
für einige Zeit die Ausfuhr der Kartoffeln und die Branntweinbrennerei
unterſagen — ein Verbot, das nichts nützte, ſondern, wie Kühne vorher-
ſagte, die allgemeine Beſorgniß nur ſteigerte. Der heſſiſche Miniſter du
Thil ließ in Holland Getreide einkaufen und verſchaffte ſich dazu Credit-
briefe vom Hauſe Rothſchild. Als aber die Mehrzahl der holländiſchen
Verkäufer vorzog ſich in Mainz baar bezahlen zu laſſen, da wollte der
menſchenfreundliche Rothſchild aus der ungewöhnlichen Landesnoth auch
noch einen ungewöhnlichen Gewinn ziehen und verlangte Entſchädigung
für die unbenutzten Creditbriefe — was du Thil als „eine Unverſchämt-
heit“ rundweg zurückwies.*) Alſo half ſich jeder Landesherr wie er konnte;
im Volke blieb viel dumpfer Mißmuth zurück.

Nur an einer Stelle Deutſchlands wüthete verheerend die Hungers-
noth: unter den Waſſerpolen Oberſchleſiens. Dieſe blutarmen Berg-
arbeiter hatten drei Jahre nach einander die Kartoffelernte mißrathen ſehen,
ſie hatten „die Bergmannskuh“, die Ziege längſt geſchlachtet, ſie waren
entnervt durch die Branntweinspeſt. Nun da ſie ſchon alle Hoffnung

*) Nach du Thil’s Aufzeichnungen.
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[522/0536] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. größten Theil ihrer dürftigen Ernte in das Ausland verkaufen. Bei dem allgemeinen Elend zeigte ſich der Bundestag wieder ebenſo nichtig wie vor dreißig Jahren, und wieder wie damals verbot Oeſterreich bundes- freundlich ſofort die Getreide-Ausfuhr nach den deutſchen Nachbarländern. Aber auch der Zollverein einigte ſich nicht rechtzeitig über gemeinſame Maßregeln; man fühlte nur zu ſchmerzlich, daß der alte König, Motz und Eichhorn nicht mehr umſichtig den nationalen Handelsbund behüteten. Jeder Bundesſtaat handelte auf eigene Fauſt, am klügſten das Königreich Sachſen, das die Ausfuhrverbote des öſterreichiſchen Nachbarn nicht er- widerte, ſondern mit mäßigen Getreide-Einkäufen und einer ſehr milden Beaufſichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam. Hier allein blieb die Ruhe ganz ungeſtört. Faſt überall ſonſt in den größeren Städten, ſelbſt in dem ſtillen Stettin mußten Zuſammenrottungen der hungernden kleinen Leute mehr oder minder gewaltſam auseinander getrieben werden. Viel zu denken gaben die Unruhen, welche Berlin im April 1847 drei Tage hinter einander heimſuchten. Sie wurden durch die Schlaffheit des greiſen Gouverneurs Müffling genährt, dann durch das entſchloſſene Eingreifen des Generals Prittwitz und ſeiner Küraſſiere geſtillt. Es fiel doch auf, wie viele wohlgekleidete Männer ſich unter dem hungernden Pöbel um- hertrieben; die zahlreichen Verwundeten hielten ſich alleſammt verſteckt, kein einziger meldete ſich in den öffentlichen Krankenhäuſern. Man konnte ſich des Verdachtes kaum erwehren, daß eine verſchworene Umſturzpartei die gute Stunde benutzt hatte um die Widerſtandskraft der Staatsgewalt einmal auf die Probe zu ſtellen. Erſchreckt durch dieſe Unruhen, ließ der König, um den Armen das unentbehrlichſte Nahrungsmittel zu erhalten, für einige Zeit die Ausfuhr der Kartoffeln und die Branntweinbrennerei unterſagen — ein Verbot, das nichts nützte, ſondern, wie Kühne vorher- ſagte, die allgemeine Beſorgniß nur ſteigerte. Der heſſiſche Miniſter du Thil ließ in Holland Getreide einkaufen und verſchaffte ſich dazu Credit- briefe vom Hauſe Rothſchild. Als aber die Mehrzahl der holländiſchen Verkäufer vorzog ſich in Mainz baar bezahlen zu laſſen, da wollte der menſchenfreundliche Rothſchild aus der ungewöhnlichen Landesnoth auch noch einen ungewöhnlichen Gewinn ziehen und verlangte Entſchädigung für die unbenutzten Creditbriefe — was du Thil als „eine Unverſchämt- heit“ rundweg zurückwies. *) Alſo half ſich jeder Landesherr wie er konnte; im Volke blieb viel dumpfer Mißmuth zurück. Nur an einer Stelle Deutſchlands wüthete verheerend die Hungers- noth: unter den Waſſerpolen Oberſchleſiens. Dieſe blutarmen Berg- arbeiter hatten drei Jahre nach einander die Kartoffelernte mißrathen ſehen, ſie hatten „die Bergmannskuh“, die Ziege längſt geſchlachtet, ſie waren entnervt durch die Branntweinspeſt. Nun da ſie ſchon alle Hoffnung *) Nach du Thil’s Aufzeichnungen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/536>, abgerufen am 22.11.2024.