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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Oeffentliches Verfahren. Der Polenproceß.
cianische Allgemeine Landrecht schließlich nur darum veröffentlicht worden,
weil die neuen, durch die Theilung Polens erworbenen Provinzen schlechter-
dings sofort einer geordneten Rechtspflege bedurften. Dem jetzigen Könige
lag das Schicksal der 254 angeklagten Polen, welche die Untersuchungs-
commission aus der Masse der Verhafteten ausgesondert hatte, schwer auf
dem Herzen; er wollte ihnen die Wohlthat einer öffentlichen und münd-
lichen Verhandlung gewähren, um das Verfahren abzukürzen und vor
aller Welt zu zeigen, daß in Preußen allein das Recht entscheide. Be-
rathungen über die Einführung des öffentlichen Strafverfahrens schwebten
in den beiden Justizministerien schon seit Jahren; aber erst der polnische
Aufruhr erzwang die längst als nothwendig erkannte Reform. Auf Wunsch
des Monarchen ließ der zweite Justizminister Uhden, während Savigny
in seinen gelehrten Forschungen versunken war, einen Gesetzentwurf aus-
arbeiten, kraft dessen das öffentliche Verfahren zunächst bei den Berliner
Gerichten eingeführt werden sollte. Unzweifelhaft war es freilich nicht,
ob dies geplante Gesetz auf den Polenproceß, der vor das Kammergericht
gehörte, alsbald angewendet werden konnte; er war ja schon vor Monaten
in Posen eingeleitet, und durfte man Gesetze mit rückwirkender Kraft er-
lassen? Der Prinz von Preußen, dem jede Verdunkelung des Rechts
entsetzlich war, sprach denn auch seine Bedenken lebhaft aus: "Dergleichen
übereilte Schritte, die sogar nach Willkür aussehen, haben in unseren
Tagen unberechenbaren Einfluß und sind auf's Sorgfältigste zu vermeiden."
In gleichem Sinne äußerte sich der alte Kammergerichts-Präsident Kleist.*)
Der König aber ward in seinen großmüthigen Absichten nicht beirrt und
unterzeichnete das Gesetz am 17. Juli 1846. Er wünschte die Entschei-
dung zu beschleunigen, und seine Minister sahen voraus, daß die pol-
nischen Verschwörer in der Achtung der Welt nur verlieren konnten wenn
sie sich öffentlich verantworten mußten.**)

Im März 1847 wurden die Ergebnisse der schwierigen Untersuchung
dem Staatsanwalt des Kammergerichts mitgetheilt, und am 2. August be-
gann im Saale des neuen Moabiter Zellengefängnisses der große Polen-
proceß, die erste öffentliche Gerichtsverhandlung in Preußens alten Pro-
vinzen, ein Ereigniß von "besonderer Bedeutung für uns, für Europa,
für die Welt", wie der Vertheidiger Deycks pathetisch sagte. Die Zuhörer
drängten sich in Massen schon zur frühen Morgenstunde herbei und er-
wiesen nach Kräften den Angeklagten ihre Huld, da jeder aufgeklärte Ber-
liner verpflichtet war die polnischen Rebellen zu lieben. Der Hauptschul-
dige Mieroslawski hatte sich schon in der Untersuchungshaft durch den
klugen Polizeidirector Duncker, den Schrecken der Berliner Spitzbuben,
umfassende Geständnisse entlocken lassen und mußte nun vor dem Gerichte

*) Prinz von Preußen an König Friedrich Wilhelm, 23. Mai; Kleist's Promemoria,
April 1846.
**) Uhden, Denkschrift über den Polenproceß, 8. Oct. 1847.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 36

Oeffentliches Verfahren. Der Polenproceß.
cianiſche Allgemeine Landrecht ſchließlich nur darum veröffentlicht worden,
weil die neuen, durch die Theilung Polens erworbenen Provinzen ſchlechter-
dings ſofort einer geordneten Rechtspflege bedurften. Dem jetzigen Könige
lag das Schickſal der 254 angeklagten Polen, welche die Unterſuchungs-
commiſſion aus der Maſſe der Verhafteten ausgeſondert hatte, ſchwer auf
dem Herzen; er wollte ihnen die Wohlthat einer öffentlichen und münd-
lichen Verhandlung gewähren, um das Verfahren abzukürzen und vor
aller Welt zu zeigen, daß in Preußen allein das Recht entſcheide. Be-
rathungen über die Einführung des öffentlichen Strafverfahrens ſchwebten
in den beiden Juſtizminiſterien ſchon ſeit Jahren; aber erſt der polniſche
Aufruhr erzwang die längſt als nothwendig erkannte Reform. Auf Wunſch
des Monarchen ließ der zweite Juſtizminiſter Uhden, während Savigny
in ſeinen gelehrten Forſchungen verſunken war, einen Geſetzentwurf aus-
arbeiten, kraft deſſen das öffentliche Verfahren zunächſt bei den Berliner
Gerichten eingeführt werden ſollte. Unzweifelhaft war es freilich nicht,
ob dies geplante Geſetz auf den Polenproceß, der vor das Kammergericht
gehörte, alsbald angewendet werden konnte; er war ja ſchon vor Monaten
in Poſen eingeleitet, und durfte man Geſetze mit rückwirkender Kraft er-
laſſen? Der Prinz von Preußen, dem jede Verdunkelung des Rechts
entſetzlich war, ſprach denn auch ſeine Bedenken lebhaft aus: „Dergleichen
übereilte Schritte, die ſogar nach Willkür ausſehen, haben in unſeren
Tagen unberechenbaren Einfluß und ſind auf’s Sorgfältigſte zu vermeiden.“
In gleichem Sinne äußerte ſich der alte Kammergerichts-Präſident Kleiſt.*)
Der König aber ward in ſeinen großmüthigen Abſichten nicht beirrt und
unterzeichnete das Geſetz am 17. Juli 1846. Er wünſchte die Entſchei-
dung zu beſchleunigen, und ſeine Miniſter ſahen voraus, daß die pol-
niſchen Verſchwörer in der Achtung der Welt nur verlieren konnten wenn
ſie ſich öffentlich verantworten mußten.**)

Im März 1847 wurden die Ergebniſſe der ſchwierigen Unterſuchung
dem Staatsanwalt des Kammergerichts mitgetheilt, und am 2. Auguſt be-
gann im Saale des neuen Moabiter Zellengefängniſſes der große Polen-
proceß, die erſte öffentliche Gerichtsverhandlung in Preußens alten Pro-
vinzen, ein Ereigniß von „beſonderer Bedeutung für uns, für Europa,
für die Welt“, wie der Vertheidiger Deycks pathetiſch ſagte. Die Zuhörer
drängten ſich in Maſſen ſchon zur frühen Morgenſtunde herbei und er-
wieſen nach Kräften den Angeklagten ihre Huld, da jeder aufgeklärte Ber-
liner verpflichtet war die polniſchen Rebellen zu lieben. Der Hauptſchul-
dige Mieroslawski hatte ſich ſchon in der Unterſuchungshaft durch den
klugen Polizeidirector Duncker, den Schrecken der Berliner Spitzbuben,
umfaſſende Geſtändniſſe entlocken laſſen und mußte nun vor dem Gerichte

*) Prinz von Preußen an König Friedrich Wilhelm, 23. Mai; Kleiſt’s Promemoria,
April 1846.
**) Uhden, Denkſchrift über den Polenproceß, 8. Oct. 1847.
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 36
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[561/0575] Oeffentliches Verfahren. Der Polenproceß. cianiſche Allgemeine Landrecht ſchließlich nur darum veröffentlicht worden, weil die neuen, durch die Theilung Polens erworbenen Provinzen ſchlechter- dings ſofort einer geordneten Rechtspflege bedurften. Dem jetzigen Könige lag das Schickſal der 254 angeklagten Polen, welche die Unterſuchungs- commiſſion aus der Maſſe der Verhafteten ausgeſondert hatte, ſchwer auf dem Herzen; er wollte ihnen die Wohlthat einer öffentlichen und münd- lichen Verhandlung gewähren, um das Verfahren abzukürzen und vor aller Welt zu zeigen, daß in Preußen allein das Recht entſcheide. Be- rathungen über die Einführung des öffentlichen Strafverfahrens ſchwebten in den beiden Juſtizminiſterien ſchon ſeit Jahren; aber erſt der polniſche Aufruhr erzwang die längſt als nothwendig erkannte Reform. Auf Wunſch des Monarchen ließ der zweite Juſtizminiſter Uhden, während Savigny in ſeinen gelehrten Forſchungen verſunken war, einen Geſetzentwurf aus- arbeiten, kraft deſſen das öffentliche Verfahren zunächſt bei den Berliner Gerichten eingeführt werden ſollte. Unzweifelhaft war es freilich nicht, ob dies geplante Geſetz auf den Polenproceß, der vor das Kammergericht gehörte, alsbald angewendet werden konnte; er war ja ſchon vor Monaten in Poſen eingeleitet, und durfte man Geſetze mit rückwirkender Kraft er- laſſen? Der Prinz von Preußen, dem jede Verdunkelung des Rechts entſetzlich war, ſprach denn auch ſeine Bedenken lebhaft aus: „Dergleichen übereilte Schritte, die ſogar nach Willkür ausſehen, haben in unſeren Tagen unberechenbaren Einfluß und ſind auf’s Sorgfältigſte zu vermeiden.“ In gleichem Sinne äußerte ſich der alte Kammergerichts-Präſident Kleiſt. *) Der König aber ward in ſeinen großmüthigen Abſichten nicht beirrt und unterzeichnete das Geſetz am 17. Juli 1846. Er wünſchte die Entſchei- dung zu beſchleunigen, und ſeine Miniſter ſahen voraus, daß die pol- niſchen Verſchwörer in der Achtung der Welt nur verlieren konnten wenn ſie ſich öffentlich verantworten mußten. **) Im März 1847 wurden die Ergebniſſe der ſchwierigen Unterſuchung dem Staatsanwalt des Kammergerichts mitgetheilt, und am 2. Auguſt be- gann im Saale des neuen Moabiter Zellengefängniſſes der große Polen- proceß, die erſte öffentliche Gerichtsverhandlung in Preußens alten Pro- vinzen, ein Ereigniß von „beſonderer Bedeutung für uns, für Europa, für die Welt“, wie der Vertheidiger Deycks pathetiſch ſagte. Die Zuhörer drängten ſich in Maſſen ſchon zur frühen Morgenſtunde herbei und er- wieſen nach Kräften den Angeklagten ihre Huld, da jeder aufgeklärte Ber- liner verpflichtet war die polniſchen Rebellen zu lieben. Der Hauptſchul- dige Mieroslawski hatte ſich ſchon in der Unterſuchungshaft durch den klugen Polizeidirector Duncker, den Schrecken der Berliner Spitzbuben, umfaſſende Geſtändniſſe entlocken laſſen und mußte nun vor dem Gerichte *) Prinz von Preußen an König Friedrich Wilhelm, 23. Mai; Kleiſt’s Promemoria, April 1846. **) Uhden, Denkſchrift über den Polenproceß, 8. Oct. 1847. v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 36

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/575>, abgerufen am 22.11.2024.