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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 7. Polen und Schleswigholstein.
traulicher Zureden, bis der Präsidialgesandte am 17. Juni 1847 endlich
wagen konnte, die Erklärung der beiden Großmächte dem Bundestage förm-
lich vorzulegen. Den Abstimmungen ließ sich zumeist deutlich anmerken, wie
ungern sie gegeben wurden; der Beschluß lautete ganz unbestimmt dahin,
daß der Bund "die Darlegung der Grundsätze gewissenhafter Heilighaltung
der Verträge" mit Dank und voller Zustimmung vernommen habe. Die
gereizte Stimmung der Tagenden verschärfte sich noch, als der Vorsitzende
zum Schluß eine Zuschrift des russischen Gesandten verlas, welche die
Zustimmung des Czaren zu den Grundsätzen der deutschen Großmächte
erklärte. So ganz im Veroneser Stile wollte sich der Bundestag doch
nicht mehr mißhandeln lassen. Er begnügte sich, ohne Dank "die volle
Würdigung" der Grundsätze des russischen Kaisers "auszudrücken", und
beschloß schließlich gar, diese ganze Verhandlung in einem geheimen Pro-
tokolle zu vergraben.*) Die Veröffentlichung des Protokolls wurde den
beiden Großmächten anheimgestellt. Sie erfolgte zwar, aber man beachtete
sie kaum. Die Absichten des Wiener Hofes waren fast ganz vereitelt;
statt einer feierlichen Zustimmung des gesammten Deutschlands hatte er
nichts erreicht als eine fast ironisch klingende Erklärung über die Heilig-
haltung der Verträge. Es ging abwärts; Metternich's Künste verfingen
nicht mehr, nicht einmal am Bundestage. Bald nachher wurde das König-
reich Polen in die russischen Zollinien aufgenommen -- eine Gewaltthat,
die sich aus den früheren Ereignissen nothwendig ergab und der polnischen
Volkswirthschaft sogar Vortheil brachte, aber auch von Neuem bewies, was
von der Vertragstreue der Ostmächte zu halten war. --

Im ganzen Verlaufe dieser polnischen Unruhen hatten die drei Thei-
lungsmächte ihren politischen Charakter unzweideutig offenbart. Im russi-
schen Polen regierte die Faust; die Wenigen, die sich einer Schilderhebung
erdreisteten, wurden gehenkt oder sie verschwanden -- vielleicht in Sibirien.
In Oesterreich sah die Regierung stumpfsinnig mit an, wie das wüthende
Landvolk die polnischen Rebellen todtschlug. In Posen wurde der Auf-
stand fast ohne Blutvergießen unterdrückt, und die Masse des Volks blieb
still. Auf Besitz und Bildung gestützt schritt das Deutschthum, trotz allen
polnischen Umtrieben noch immer unaufhaltsam vorwärts. Erst weit später,
etwa seit 1861, trat der tragische Rückschlag ein. Durch Preußens Schu-
len, Preußens Gewerbefreiheit, Preußens Agrargesetze erzogen, wuchs all-
mählich in Stadt und Land ein polnischer Mittelstand empor, der seine
Wohlthäter mit dem unvermeidlichen historischen Undank belohnen sollte.
Vorderhand schien das Deutschthum noch einer großen Zukunft sicher.

Merkwürdig nun, wie die polnischen Wirren jetzt zum zweiten male
in die Geschichte der preußischen Justizgesetzgebung entscheidend eingriffen.
Unter Friedrich Wilhelm II. war einst das längst zurückgelegte frideri-

*) Dönhoff's Bericht, 17. Juni 1847.

V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
traulicher Zureden, bis der Präſidialgeſandte am 17. Juni 1847 endlich
wagen konnte, die Erklärung der beiden Großmächte dem Bundestage förm-
lich vorzulegen. Den Abſtimmungen ließ ſich zumeiſt deutlich anmerken, wie
ungern ſie gegeben wurden; der Beſchluß lautete ganz unbeſtimmt dahin,
daß der Bund „die Darlegung der Grundſätze gewiſſenhafter Heilighaltung
der Verträge“ mit Dank und voller Zuſtimmung vernommen habe. Die
gereizte Stimmung der Tagenden verſchärfte ſich noch, als der Vorſitzende
zum Schluß eine Zuſchrift des ruſſiſchen Geſandten verlas, welche die
Zuſtimmung des Czaren zu den Grundſätzen der deutſchen Großmächte
erklärte. So ganz im Veroneſer Stile wollte ſich der Bundestag doch
nicht mehr mißhandeln laſſen. Er begnügte ſich, ohne Dank „die volle
Würdigung“ der Grundſätze des ruſſiſchen Kaiſers „auszudrücken“, und
beſchloß ſchließlich gar, dieſe ganze Verhandlung in einem geheimen Pro-
tokolle zu vergraben.*) Die Veröffentlichung des Protokolls wurde den
beiden Großmächten anheimgeſtellt. Sie erfolgte zwar, aber man beachtete
ſie kaum. Die Abſichten des Wiener Hofes waren faſt ganz vereitelt;
ſtatt einer feierlichen Zuſtimmung des geſammten Deutſchlands hatte er
nichts erreicht als eine faſt ironiſch klingende Erklärung über die Heilig-
haltung der Verträge. Es ging abwärts; Metternich’s Künſte verfingen
nicht mehr, nicht einmal am Bundestage. Bald nachher wurde das König-
reich Polen in die ruſſiſchen Zollinien aufgenommen — eine Gewaltthat,
die ſich aus den früheren Ereigniſſen nothwendig ergab und der polniſchen
Volkswirthſchaft ſogar Vortheil brachte, aber auch von Neuem bewies, was
von der Vertragstreue der Oſtmächte zu halten war. —

Im ganzen Verlaufe dieſer polniſchen Unruhen hatten die drei Thei-
lungsmächte ihren politiſchen Charakter unzweideutig offenbart. Im ruſſi-
ſchen Polen regierte die Fauſt; die Wenigen, die ſich einer Schilderhebung
erdreiſteten, wurden gehenkt oder ſie verſchwanden — vielleicht in Sibirien.
In Oeſterreich ſah die Regierung ſtumpfſinnig mit an, wie das wüthende
Landvolk die polniſchen Rebellen todtſchlug. In Poſen wurde der Auf-
ſtand faſt ohne Blutvergießen unterdrückt, und die Maſſe des Volks blieb
ſtill. Auf Beſitz und Bildung geſtützt ſchritt das Deutſchthum, trotz allen
polniſchen Umtrieben noch immer unaufhaltſam vorwärts. Erſt weit ſpäter,
etwa ſeit 1861, trat der tragiſche Rückſchlag ein. Durch Preußens Schu-
len, Preußens Gewerbefreiheit, Preußens Agrargeſetze erzogen, wuchs all-
mählich in Stadt und Land ein polniſcher Mittelſtand empor, der ſeine
Wohlthäter mit dem unvermeidlichen hiſtoriſchen Undank belohnen ſollte.
Vorderhand ſchien das Deutſchthum noch einer großen Zukunft ſicher.

Merkwürdig nun, wie die polniſchen Wirren jetzt zum zweiten male
in die Geſchichte der preußiſchen Juſtizgeſetzgebung entſcheidend eingriffen.
Unter Friedrich Wilhelm II. war einſt das längſt zurückgelegte frideri-

*) Dönhoff’s Bericht, 17. Juni 1847.
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[560/0574] V. 7. Polen und Schleswigholſtein. traulicher Zureden, bis der Präſidialgeſandte am 17. Juni 1847 endlich wagen konnte, die Erklärung der beiden Großmächte dem Bundestage förm- lich vorzulegen. Den Abſtimmungen ließ ſich zumeiſt deutlich anmerken, wie ungern ſie gegeben wurden; der Beſchluß lautete ganz unbeſtimmt dahin, daß der Bund „die Darlegung der Grundſätze gewiſſenhafter Heilighaltung der Verträge“ mit Dank und voller Zuſtimmung vernommen habe. Die gereizte Stimmung der Tagenden verſchärfte ſich noch, als der Vorſitzende zum Schluß eine Zuſchrift des ruſſiſchen Geſandten verlas, welche die Zuſtimmung des Czaren zu den Grundſätzen der deutſchen Großmächte erklärte. So ganz im Veroneſer Stile wollte ſich der Bundestag doch nicht mehr mißhandeln laſſen. Er begnügte ſich, ohne Dank „die volle Würdigung“ der Grundſätze des ruſſiſchen Kaiſers „auszudrücken“, und beſchloß ſchließlich gar, dieſe ganze Verhandlung in einem geheimen Pro- tokolle zu vergraben. *) Die Veröffentlichung des Protokolls wurde den beiden Großmächten anheimgeſtellt. Sie erfolgte zwar, aber man beachtete ſie kaum. Die Abſichten des Wiener Hofes waren faſt ganz vereitelt; ſtatt einer feierlichen Zuſtimmung des geſammten Deutſchlands hatte er nichts erreicht als eine faſt ironiſch klingende Erklärung über die Heilig- haltung der Verträge. Es ging abwärts; Metternich’s Künſte verfingen nicht mehr, nicht einmal am Bundestage. Bald nachher wurde das König- reich Polen in die ruſſiſchen Zollinien aufgenommen — eine Gewaltthat, die ſich aus den früheren Ereigniſſen nothwendig ergab und der polniſchen Volkswirthſchaft ſogar Vortheil brachte, aber auch von Neuem bewies, was von der Vertragstreue der Oſtmächte zu halten war. — Im ganzen Verlaufe dieſer polniſchen Unruhen hatten die drei Thei- lungsmächte ihren politiſchen Charakter unzweideutig offenbart. Im ruſſi- ſchen Polen regierte die Fauſt; die Wenigen, die ſich einer Schilderhebung erdreiſteten, wurden gehenkt oder ſie verſchwanden — vielleicht in Sibirien. In Oeſterreich ſah die Regierung ſtumpfſinnig mit an, wie das wüthende Landvolk die polniſchen Rebellen todtſchlug. In Poſen wurde der Auf- ſtand faſt ohne Blutvergießen unterdrückt, und die Maſſe des Volks blieb ſtill. Auf Beſitz und Bildung geſtützt ſchritt das Deutſchthum, trotz allen polniſchen Umtrieben noch immer unaufhaltſam vorwärts. Erſt weit ſpäter, etwa ſeit 1861, trat der tragiſche Rückſchlag ein. Durch Preußens Schu- len, Preußens Gewerbefreiheit, Preußens Agrargeſetze erzogen, wuchs all- mählich in Stadt und Land ein polniſcher Mittelſtand empor, der ſeine Wohlthäter mit dem unvermeidlichen hiſtoriſchen Undank belohnen ſollte. Vorderhand ſchien das Deutſchthum noch einer großen Zukunft ſicher. Merkwürdig nun, wie die polniſchen Wirren jetzt zum zweiten male in die Geſchichte der preußiſchen Juſtizgeſetzgebung entſcheidend eingriffen. Unter Friedrich Wilhelm II. war einſt das längſt zurückgelegte frideri- *) Dönhoff’s Bericht, 17. Juni 1847.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/574>, abgerufen am 22.11.2024.