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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Die Disciplinargesetze.
nicht. Er lebte sich immer tiefer ein in die Vorstellung, daß auf die gründliche
wissenschaftliche Durchbildung des Richterstandes Alles ankomme; er ver-
kannte, daß es Zeiten giebt, wo die Gesetzfabrikation, die er so tief ver-
achtete, zum nothwendigen Uebel wird, wo der rasche Wechsel aller socialen
Verhältnisse eine schlagfertige, ja selbst überhastete Thätigkeit der Gesetz-
gebung geradezu erzwingt. Ihm fehlte die starke, das Leben gestaltende
Willenskraft, die den Juristen zum Gesetzgeber macht, der praktische Ehrgeiz
eines Schwarzenberg oder Svarez. Die mannichfachen Entwürfe, die er sich
durch seine Räthe ausarbeiten ließ, stießen stets auf seine Bedenken, weil
das Vollkommene doch nicht erreicht war, und als er nach einigen Jahren
selbst zu seinen geliebten wissenschaftlichen Untersuchungen zurückkehrte, da
stockte die Arbeit in seinem Ministerium so gänzlich, daß der König sogar an
der staatsmännischen Kraft des verehrten Lehrers zu verzweifeln begann.

Zum Unglück wurde auch Savigny von der liberalen öffentlichen
Meinung mit verunglimpft, als im Jahre 1844 die in Mühler's Mini-
sterium ausgearbeiteten neuen Disciplinargesetze für das Beamtenthum
erschienen. Das preußische Landrecht sprach nur von der Unabsetzbarkeit
der Richter, da in den fridericianischen Zeiten jeder Beamte nur für ein
bestimmtes Amt ernannt wurde; auch die Charte der Franzosen verlangte
nicht mehr; erst der Art. 100 der belgischen Verfassung stellte die Regel
auf, daß der Richter nur mit seiner Einwilligung auf eine andere Stelle
versetzt werden dürfe. Dieser völlig neue Grundsatz wurde aber, wie Alles
was aus Belgien kam, von dem rheinischen Richterstande mit Frohlocken
aufgenommen, dann durch den scharfen Westwind dieser Jahre auch in
die alten Provinzen hinübergetragen. Da nun die neuen Disciplinar-
gesetze dem Justizminister die Versetzung der Richter, im Interesse des
Dienstes oder auch zur Strafe, erlaubten, so erhob der Stadtgerichtsrath
Heinrich Simon in Breslau, ein Fanatiker des juristischen Formalismus,
seine donnernde Stimme, um mit dialektischer Kunst und zeitgemäßem
Pathos zu erweisen, diese Neuerung zerstöre einen Grundpfeiler preußischer
Freiheit. Er nahm deshalb seinen Abschied und führte noch einen groben
Federkrieg mit dem alten Kamptz, der, begreiflich genug, für das Mini-
sterium auftrat. Ebenso begreiflich, daß die liberale Presse sich für Simon
begeisterte. Unbekümmert um das Preußische Landrecht, erklärte sie ihre
vernunftrechtlichen Schlagwörter kurzerhand für geltendes Recht, und weil
das Mißtrauen gegen jede Regierung für freisinnig galt, so ward dem
unglücklichen Könige auch noch angedichtet, daß er die Rechtspflege ver-
fälschen wolle. In Wahrheit blieb die Selbständigkeit des preußischen
Richterstandes nach wie vor ganz unangetastet, ja sie wurde nicht selten
schon zu Parteizwecken mißbraucht, seit der Geist der Opposition in alle
Kreise des Beamtenthums unaufhaltsam eindrang. Als das Paderborner
Oberlandesgericht den wegen eines radicalen Gedichtes angeklagten Publi-
cisten Lüning freisprach, da fügten die pflichtvergessenen Richter ihrem

Die Disciplinargeſetze.
nicht. Er lebte ſich immer tiefer ein in die Vorſtellung, daß auf die gründliche
wiſſenſchaftliche Durchbildung des Richterſtandes Alles ankomme; er ver-
kannte, daß es Zeiten giebt, wo die Geſetzfabrikation, die er ſo tief ver-
achtete, zum nothwendigen Uebel wird, wo der raſche Wechſel aller ſocialen
Verhältniſſe eine ſchlagfertige, ja ſelbſt überhaſtete Thätigkeit der Geſetz-
gebung geradezu erzwingt. Ihm fehlte die ſtarke, das Leben geſtaltende
Willenskraft, die den Juriſten zum Geſetzgeber macht, der praktiſche Ehrgeiz
eines Schwarzenberg oder Svarez. Die mannichfachen Entwürfe, die er ſich
durch ſeine Räthe ausarbeiten ließ, ſtießen ſtets auf ſeine Bedenken, weil
das Vollkommene doch nicht erreicht war, und als er nach einigen Jahren
ſelbſt zu ſeinen geliebten wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen zurückkehrte, da
ſtockte die Arbeit in ſeinem Miniſterium ſo gänzlich, daß der König ſogar an
der ſtaatsmänniſchen Kraft des verehrten Lehrers zu verzweifeln begann.

Zum Unglück wurde auch Savigny von der liberalen öffentlichen
Meinung mit verunglimpft, als im Jahre 1844 die in Mühler’s Mini-
ſterium ausgearbeiteten neuen Disciplinargeſetze für das Beamtenthum
erſchienen. Das preußiſche Landrecht ſprach nur von der Unabſetzbarkeit
der Richter, da in den fridericianiſchen Zeiten jeder Beamte nur für ein
beſtimmtes Amt ernannt wurde; auch die Charte der Franzoſen verlangte
nicht mehr; erſt der Art. 100 der belgiſchen Verfaſſung ſtellte die Regel
auf, daß der Richter nur mit ſeiner Einwilligung auf eine andere Stelle
verſetzt werden dürfe. Dieſer völlig neue Grundſatz wurde aber, wie Alles
was aus Belgien kam, von dem rheiniſchen Richterſtande mit Frohlocken
aufgenommen, dann durch den ſcharfen Weſtwind dieſer Jahre auch in
die alten Provinzen hinübergetragen. Da nun die neuen Disciplinar-
geſetze dem Juſtizminiſter die Verſetzung der Richter, im Intereſſe des
Dienſtes oder auch zur Strafe, erlaubten, ſo erhob der Stadtgerichtsrath
Heinrich Simon in Breslau, ein Fanatiker des juriſtiſchen Formalismus,
ſeine donnernde Stimme, um mit dialektiſcher Kunſt und zeitgemäßem
Pathos zu erweiſen, dieſe Neuerung zerſtöre einen Grundpfeiler preußiſcher
Freiheit. Er nahm deshalb ſeinen Abſchied und führte noch einen groben
Federkrieg mit dem alten Kamptz, der, begreiflich genug, für das Mini-
ſterium auftrat. Ebenſo begreiflich, daß die liberale Preſſe ſich für Simon
begeiſterte. Unbekümmert um das Preußiſche Landrecht, erklärte ſie ihre
vernunftrechtlichen Schlagwörter kurzerhand für geltendes Recht, und weil
das Mißtrauen gegen jede Regierung für freiſinnig galt, ſo ward dem
unglücklichen Könige auch noch angedichtet, daß er die Rechtspflege ver-
fälſchen wolle. In Wahrheit blieb die Selbſtändigkeit des preußiſchen
Richterſtandes nach wie vor ganz unangetaſtet, ja ſie wurde nicht ſelten
ſchon zu Parteizwecken mißbraucht, ſeit der Geiſt der Oppoſition in alle
Kreiſe des Beamtenthums unaufhaltſam eindrang. Als das Paderborner
Oberlandesgericht den wegen eines radicalen Gedichtes angeklagten Publi-
ciſten Lüning freiſprach, da fügten die pflichtvergeſſenen Richter ihrem

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[599/0613] Die Disciplinargeſetze. nicht. Er lebte ſich immer tiefer ein in die Vorſtellung, daß auf die gründliche wiſſenſchaftliche Durchbildung des Richterſtandes Alles ankomme; er ver- kannte, daß es Zeiten giebt, wo die Geſetzfabrikation, die er ſo tief ver- achtete, zum nothwendigen Uebel wird, wo der raſche Wechſel aller ſocialen Verhältniſſe eine ſchlagfertige, ja ſelbſt überhaſtete Thätigkeit der Geſetz- gebung geradezu erzwingt. Ihm fehlte die ſtarke, das Leben geſtaltende Willenskraft, die den Juriſten zum Geſetzgeber macht, der praktiſche Ehrgeiz eines Schwarzenberg oder Svarez. Die mannichfachen Entwürfe, die er ſich durch ſeine Räthe ausarbeiten ließ, ſtießen ſtets auf ſeine Bedenken, weil das Vollkommene doch nicht erreicht war, und als er nach einigen Jahren ſelbſt zu ſeinen geliebten wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen zurückkehrte, da ſtockte die Arbeit in ſeinem Miniſterium ſo gänzlich, daß der König ſogar an der ſtaatsmänniſchen Kraft des verehrten Lehrers zu verzweifeln begann. Zum Unglück wurde auch Savigny von der liberalen öffentlichen Meinung mit verunglimpft, als im Jahre 1844 die in Mühler’s Mini- ſterium ausgearbeiteten neuen Disciplinargeſetze für das Beamtenthum erſchienen. Das preußiſche Landrecht ſprach nur von der Unabſetzbarkeit der Richter, da in den fridericianiſchen Zeiten jeder Beamte nur für ein beſtimmtes Amt ernannt wurde; auch die Charte der Franzoſen verlangte nicht mehr; erſt der Art. 100 der belgiſchen Verfaſſung ſtellte die Regel auf, daß der Richter nur mit ſeiner Einwilligung auf eine andere Stelle verſetzt werden dürfe. Dieſer völlig neue Grundſatz wurde aber, wie Alles was aus Belgien kam, von dem rheiniſchen Richterſtande mit Frohlocken aufgenommen, dann durch den ſcharfen Weſtwind dieſer Jahre auch in die alten Provinzen hinübergetragen. Da nun die neuen Disciplinar- geſetze dem Juſtizminiſter die Verſetzung der Richter, im Intereſſe des Dienſtes oder auch zur Strafe, erlaubten, ſo erhob der Stadtgerichtsrath Heinrich Simon in Breslau, ein Fanatiker des juriſtiſchen Formalismus, ſeine donnernde Stimme, um mit dialektiſcher Kunſt und zeitgemäßem Pathos zu erweiſen, dieſe Neuerung zerſtöre einen Grundpfeiler preußiſcher Freiheit. Er nahm deshalb ſeinen Abſchied und führte noch einen groben Federkrieg mit dem alten Kamptz, der, begreiflich genug, für das Mini- ſterium auftrat. Ebenſo begreiflich, daß die liberale Preſſe ſich für Simon begeiſterte. Unbekümmert um das Preußiſche Landrecht, erklärte ſie ihre vernunftrechtlichen Schlagwörter kurzerhand für geltendes Recht, und weil das Mißtrauen gegen jede Regierung für freiſinnig galt, ſo ward dem unglücklichen Könige auch noch angedichtet, daß er die Rechtspflege ver- fälſchen wolle. In Wahrheit blieb die Selbſtändigkeit des preußiſchen Richterſtandes nach wie vor ganz unangetaſtet, ja ſie wurde nicht ſelten ſchon zu Parteizwecken mißbraucht, ſeit der Geiſt der Oppoſition in alle Kreiſe des Beamtenthums unaufhaltſam eindrang. Als das Paderborner Oberlandesgericht den wegen eines radicalen Gedichtes angeklagten Publi- ciſten Lüning freiſprach, da fügten die pflichtvergeſſenen Richter ihrem

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/613>, abgerufen am 24.11.2024.