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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 8. Der Vereinigte Landtag.

Auch die Presse befaßte sich wieder lebhaft mit der Verfassungsfrage,
seit Johann Jacoby dem jüngsten preußischen Provinziallandtage seine
alten Forderungen in einer neuen Druckschrift vorgehalten hatte. Die
Sprache des Königsberger Demagogen ward immer gehässiger. Wie ein
zeternder Wucherer hielt er der Krone seinen Schuldschein vor; er be-
hauptete, die Verordnung vom 22. Mai, die bekanntlich erst nach der
Schlacht von Belle-Alliance erschienen war, sei dem preußischen Volke ge-
geben worden als "Aufforderung zu neuem Kampfe" und als Preis für
frühere Opfer; er erdreistete sich sogar zu versichern, der alte König hätte,
seiner Zusage ungeachtet, die provinzialständische Verfassung niemals den
Eingesessenen der Provinzen zur Berathung vorgelegt. Die Notabeln-
Versammlungen der Jahre 1822 und 23 waren diesem gefeierten Publi-
cisten mithin ganz unbekannt. Ueberall in der Presse zeigte sich eine
erschreckende Unkenntniß der preußischen Verfassungsgeschichte, so tief hatte
das öffentliche Leben in den letzten Jahrzehnten geschlummert. Ein liberaler
Buchhändler veranstaltete eine Uebersetzung der Schrift Benjamin Con-
stant's über den Triumph des constitutionellen Princips in Preußen;
weder der Verleger noch der Uebersetzer noch die Leser wußten, daß dies
Büchlein Constant's selber nichts anderes war als eine Uebersetzung der
einst so viel genannten Benzenbergischen Schrift über Hardenberg's Staats-
verwaltung.*)

In solcher Lage erwarben sich die schlesischen Historiker Röpell und
Wuttke immerhin ein Verdienst als sie einige Aktenstücke zur Geschichte
des verschollenen ersten preußischen Verfassungskampfes veröffentlichten.
Daraus ließ sich für die Gegenwart doch mehr lernen als aus der
Sammelschrift des radicalen Nauwerk, der in wunderbarer politischer
Unschuld alle die alten Freiheitsbriefe der Hochmeister und der Herzoge
Preußens herausgab, um daraufhin die Nothwendigkeit des Repräsen-
tativsystems zu erweisen. Den Grundgedanken der liberalen Oppo-
sition sprach der Kammergerichtsrath W. v. Merckel drastisch aus, ein
gemäßigter Mann, der in den späteren parlamentarischen Kämpfen stets
den Mittelparteien angehörte. Er sagte in seiner Flugschrift "das Ge-
rücht von einer Constitution in Preußen" (1845) kurzab: "bis jetzt gehören
wir der That nach blos der Gnade Anderer, also dem Sachenrecht an."
Wie ungeheuerlich auch dieser Satz erscheinen mochte, so dachte die liberale
Jugend wirklich; sie empfand es als eine Beleidigung der Würde, der
Freiheit, der Cultur des preußischen Volks, daß die Verfassung noch aus-
blieb, und in dieser sittlichen Entrüstung lag die Stärke der Opposition.

Die Anhänger der ständischen Monarchie, die sich gegen Jacoby's
Genossen wendeten, der allezeit kampflustige Heinrich Leo, der Althege-
lianer Henning, der geistreiche Bonner Geograph Mendelssohn befanden

*) S. o. III. 227.
V. 8. Der Vereinigte Landtag.

Auch die Preſſe befaßte ſich wieder lebhaft mit der Verfaſſungsfrage,
ſeit Johann Jacoby dem jüngſten preußiſchen Provinziallandtage ſeine
alten Forderungen in einer neuen Druckſchrift vorgehalten hatte. Die
Sprache des Königsberger Demagogen ward immer gehäſſiger. Wie ein
zeternder Wucherer hielt er der Krone ſeinen Schuldſchein vor; er be-
hauptete, die Verordnung vom 22. Mai, die bekanntlich erſt nach der
Schlacht von Belle-Alliance erſchienen war, ſei dem preußiſchen Volke ge-
geben worden als „Aufforderung zu neuem Kampfe“ und als Preis für
frühere Opfer; er erdreiſtete ſich ſogar zu verſichern, der alte König hätte,
ſeiner Zuſage ungeachtet, die provinzialſtändiſche Verfaſſung niemals den
Eingeſeſſenen der Provinzen zur Berathung vorgelegt. Die Notabeln-
Verſammlungen der Jahre 1822 und 23 waren dieſem gefeierten Publi-
ciſten mithin ganz unbekannt. Ueberall in der Preſſe zeigte ſich eine
erſchreckende Unkenntniß der preußiſchen Verfaſſungsgeſchichte, ſo tief hatte
das öffentliche Leben in den letzten Jahrzehnten geſchlummert. Ein liberaler
Buchhändler veranſtaltete eine Ueberſetzung der Schrift Benjamin Con-
ſtant’s über den Triumph des conſtitutionellen Princips in Preußen;
weder der Verleger noch der Ueberſetzer noch die Leſer wußten, daß dies
Büchlein Conſtant’s ſelber nichts anderes war als eine Ueberſetzung der
einſt ſo viel genannten Benzenbergiſchen Schrift über Hardenberg’s Staats-
verwaltung.*)

In ſolcher Lage erwarben ſich die ſchleſiſchen Hiſtoriker Röpell und
Wuttke immerhin ein Verdienſt als ſie einige Aktenſtücke zur Geſchichte
des verſchollenen erſten preußiſchen Verfaſſungskampfes veröffentlichten.
Daraus ließ ſich für die Gegenwart doch mehr lernen als aus der
Sammelſchrift des radicalen Nauwerk, der in wunderbarer politiſcher
Unſchuld alle die alten Freiheitsbriefe der Hochmeiſter und der Herzoge
Preußens herausgab, um daraufhin die Nothwendigkeit des Repräſen-
tativſyſtems zu erweiſen. Den Grundgedanken der liberalen Oppo-
ſition ſprach der Kammergerichtsrath W. v. Merckel draſtiſch aus, ein
gemäßigter Mann, der in den ſpäteren parlamentariſchen Kämpfen ſtets
den Mittelparteien angehörte. Er ſagte in ſeiner Flugſchrift „das Ge-
rücht von einer Conſtitution in Preußen“ (1845) kurzab: „bis jetzt gehören
wir der That nach blos der Gnade Anderer, alſo dem Sachenrecht an.“
Wie ungeheuerlich auch dieſer Satz erſcheinen mochte, ſo dachte die liberale
Jugend wirklich; ſie empfand es als eine Beleidigung der Würde, der
Freiheit, der Cultur des preußiſchen Volks, daß die Verfaſſung noch aus-
blieb, und in dieſer ſittlichen Entrüſtung lag die Stärke der Oppoſition.

Die Anhänger der ſtändiſchen Monarchie, die ſich gegen Jacoby’s
Genoſſen wendeten, der allezeit kampfluſtige Heinrich Leo, der Althege-
lianer Henning, der geiſtreiche Bonner Geograph Mendelsſohn befanden

*) S. o. III. 227.
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[602/0616] V. 8. Der Vereinigte Landtag. Auch die Preſſe befaßte ſich wieder lebhaft mit der Verfaſſungsfrage, ſeit Johann Jacoby dem jüngſten preußiſchen Provinziallandtage ſeine alten Forderungen in einer neuen Druckſchrift vorgehalten hatte. Die Sprache des Königsberger Demagogen ward immer gehäſſiger. Wie ein zeternder Wucherer hielt er der Krone ſeinen Schuldſchein vor; er be- hauptete, die Verordnung vom 22. Mai, die bekanntlich erſt nach der Schlacht von Belle-Alliance erſchienen war, ſei dem preußiſchen Volke ge- geben worden als „Aufforderung zu neuem Kampfe“ und als Preis für frühere Opfer; er erdreiſtete ſich ſogar zu verſichern, der alte König hätte, ſeiner Zuſage ungeachtet, die provinzialſtändiſche Verfaſſung niemals den Eingeſeſſenen der Provinzen zur Berathung vorgelegt. Die Notabeln- Verſammlungen der Jahre 1822 und 23 waren dieſem gefeierten Publi- ciſten mithin ganz unbekannt. Ueberall in der Preſſe zeigte ſich eine erſchreckende Unkenntniß der preußiſchen Verfaſſungsgeſchichte, ſo tief hatte das öffentliche Leben in den letzten Jahrzehnten geſchlummert. Ein liberaler Buchhändler veranſtaltete eine Ueberſetzung der Schrift Benjamin Con- ſtant’s über den Triumph des conſtitutionellen Princips in Preußen; weder der Verleger noch der Ueberſetzer noch die Leſer wußten, daß dies Büchlein Conſtant’s ſelber nichts anderes war als eine Ueberſetzung der einſt ſo viel genannten Benzenbergiſchen Schrift über Hardenberg’s Staats- verwaltung. *) In ſolcher Lage erwarben ſich die ſchleſiſchen Hiſtoriker Röpell und Wuttke immerhin ein Verdienſt als ſie einige Aktenſtücke zur Geſchichte des verſchollenen erſten preußiſchen Verfaſſungskampfes veröffentlichten. Daraus ließ ſich für die Gegenwart doch mehr lernen als aus der Sammelſchrift des radicalen Nauwerk, der in wunderbarer politiſcher Unſchuld alle die alten Freiheitsbriefe der Hochmeiſter und der Herzoge Preußens herausgab, um daraufhin die Nothwendigkeit des Repräſen- tativſyſtems zu erweiſen. Den Grundgedanken der liberalen Oppo- ſition ſprach der Kammergerichtsrath W. v. Merckel draſtiſch aus, ein gemäßigter Mann, der in den ſpäteren parlamentariſchen Kämpfen ſtets den Mittelparteien angehörte. Er ſagte in ſeiner Flugſchrift „das Ge- rücht von einer Conſtitution in Preußen“ (1845) kurzab: „bis jetzt gehören wir der That nach blos der Gnade Anderer, alſo dem Sachenrecht an.“ Wie ungeheuerlich auch dieſer Satz erſcheinen mochte, ſo dachte die liberale Jugend wirklich; ſie empfand es als eine Beleidigung der Würde, der Freiheit, der Cultur des preußiſchen Volks, daß die Verfaſſung noch aus- blieb, und in dieſer ſittlichen Entrüſtung lag die Stärke der Oppoſition. Die Anhänger der ſtändiſchen Monarchie, die ſich gegen Jacoby’s Genoſſen wendeten, der allezeit kampfluſtige Heinrich Leo, der Althege- lianer Henning, der geiſtreiche Bonner Geograph Mendelsſohn befanden *) S. o. III. 227.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 602. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/616>, abgerufen am 24.11.2024.