sich von vornherein in einer ungünstigen Defensive; siegreich in der Kritik glaubten sie doch selbst nicht recht an die Lebenskraft der halbfertigen ständischen Institutionen. Nun gar die gelehrten Bücher des ehrlichen Lancizolle über Preußens Königthum und Landstände klangen schon fast wie eine Stimme aus dem Grabe; der treue Hallerianer sprach wie vor Zeiten Schmalz und Marwitz, von den verschiedenen "Staaten" des könig- lichen Hauses, den modernen Staat und seine Rechtseinheit hielt er für eine leere Abstraction. Schwereren Schaden brachte der Sache des Königs der alte Todfeind der Liberalen Kamptz, der jetzt im Ruhestande seiner schreibseligen Feder freien Lauf ließ und in einer ganzen Reihe staats- rechtlicher Abhandlungen, auch in einer wohlfeilen, für die Masse be- stimmten Flugschrift "das wahre königliche Wort Friedrich Wilhelm's III." immer wieder bewies: nichts, gar nichts hätte der alte König seinem Volke versprochen. Wußte der ergraute Minister wirklich nicht mehr, daß Harden- berg, der Urheber der Verordnung vom 22. Mai, auf das Bestimmteste erklärt hatte, diese Verordnung enthalte eine feierliche königliche Zusage?*) Möglich immerhin, daß er in seinem wilden Fanatismus die Wahrheit zu sagen glaubte; noch gewisser aber, daß die unsäglich groben Schriften des verwünschten Demagogenjägers, der sich eigenmächtig zum Vertheidiger der Krone aufwarf, die Liberalen gegen den Monarchen selbst erbitterten.
Zugleich bekundete sich der ungeduldige politische Thatendrang in unzäh- ligen Versammlungen. In Königsberg entstand ein großer Bürgerverein, der zum ersten male die Handwerker mit den Gelehrten zusammenführte. Als er aufgelöst wurde, da zogen die Genossen, 6000 Köpfe oder mehr, all- wöchentlich nach dem Böttchershöfchen draußen vor den Thoren, und Jeder den der Geist trieb hielt unter freiem Himmel eine europäische Rede. Als die Polizei auch dawider einschritt, ließ Jacoby eine grimmige "Pro- vocation auf rechtliches Gehör" drucken. In Breslau versammelten sich die Liberalen auf den neuen Bahnhöfen, nachher in einer städtischen Res- source; auch hier fehlte es nicht an Auflösungen und Protesten, aber hinter diesen harmlosen Kundgebungen stand schon eine radicale Partei, die ein- mal, zur Feier des königlichen Geburtstags, durch zuchtlose Frechheit ihr Dasein bekundete. In Halle pflegte die ehrenfeste Bürgerschaft auf der Giebichensteiner Weintraube nationale Erinnerungstage zu feiern; die licht- freundliche Bewegung begann schon zu ebben, das politische Pathos aber erklang mächtig aus den begeisternden Reden Max Duncker's. In Stralsund hielt der geistreiche Arzt v. Haselberg Vorträge über die Zu- stände der Gegenwart. Der Kölnische Carneval von 1844 war nichts als eine politische Satire auf die Regierung, die Censur, die Gesetzbücher, und selbst der furchtlose, liberale General Friedrich Gagern fand, eine solche Anarchie der Geister und der Tendenzen könne nicht lange dauern. Und so
*) S. o. III. 236.
Liberale Schriften und Verſammlungen.
ſich von vornherein in einer ungünſtigen Defenſive; ſiegreich in der Kritik glaubten ſie doch ſelbſt nicht recht an die Lebenskraft der halbfertigen ſtändiſchen Inſtitutionen. Nun gar die gelehrten Bücher des ehrlichen Lancizolle über Preußens Königthum und Landſtände klangen ſchon faſt wie eine Stimme aus dem Grabe; der treue Hallerianer ſprach wie vor Zeiten Schmalz und Marwitz, von den verſchiedenen „Staaten“ des könig- lichen Hauſes, den modernen Staat und ſeine Rechtseinheit hielt er für eine leere Abſtraction. Schwereren Schaden brachte der Sache des Königs der alte Todfeind der Liberalen Kamptz, der jetzt im Ruheſtande ſeiner ſchreibſeligen Feder freien Lauf ließ und in einer ganzen Reihe ſtaats- rechtlicher Abhandlungen, auch in einer wohlfeilen, für die Maſſe be- ſtimmten Flugſchrift „das wahre königliche Wort Friedrich Wilhelm’s III.“ immer wieder bewies: nichts, gar nichts hätte der alte König ſeinem Volke verſprochen. Wußte der ergraute Miniſter wirklich nicht mehr, daß Harden- berg, der Urheber der Verordnung vom 22. Mai, auf das Beſtimmteſte erklärt hatte, dieſe Verordnung enthalte eine feierliche königliche Zuſage?*) Möglich immerhin, daß er in ſeinem wilden Fanatismus die Wahrheit zu ſagen glaubte; noch gewiſſer aber, daß die unſäglich groben Schriften des verwünſchten Demagogenjägers, der ſich eigenmächtig zum Vertheidiger der Krone aufwarf, die Liberalen gegen den Monarchen ſelbſt erbitterten.
Zugleich bekundete ſich der ungeduldige politiſche Thatendrang in unzäh- ligen Verſammlungen. In Königsberg entſtand ein großer Bürgerverein, der zum erſten male die Handwerker mit den Gelehrten zuſammenführte. Als er aufgelöſt wurde, da zogen die Genoſſen, 6000 Köpfe oder mehr, all- wöchentlich nach dem Böttchershöfchen draußen vor den Thoren, und Jeder den der Geiſt trieb hielt unter freiem Himmel eine europäiſche Rede. Als die Polizei auch dawider einſchritt, ließ Jacoby eine grimmige „Pro- vocation auf rechtliches Gehör“ drucken. In Breslau verſammelten ſich die Liberalen auf den neuen Bahnhöfen, nachher in einer ſtädtiſchen Reſ- ſource; auch hier fehlte es nicht an Auflöſungen und Proteſten, aber hinter dieſen harmloſen Kundgebungen ſtand ſchon eine radicale Partei, die ein- mal, zur Feier des königlichen Geburtstags, durch zuchtloſe Frechheit ihr Daſein bekundete. In Halle pflegte die ehrenfeſte Bürgerſchaft auf der Giebichenſteiner Weintraube nationale Erinnerungstage zu feiern; die licht- freundliche Bewegung begann ſchon zu ebben, das politiſche Pathos aber erklang mächtig aus den begeiſternden Reden Max Duncker’s. In Stralſund hielt der geiſtreiche Arzt v. Haſelberg Vorträge über die Zu- ſtände der Gegenwart. Der Kölniſche Carneval von 1844 war nichts als eine politiſche Satire auf die Regierung, die Cenſur, die Geſetzbücher, und ſelbſt der furchtloſe, liberale General Friedrich Gagern fand, eine ſolche Anarchie der Geiſter und der Tendenzen könne nicht lange dauern. Und ſo
*) S. o. III. 236.
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[603/0617]
Liberale Schriften und Verſammlungen.
ſich von vornherein in einer ungünſtigen Defenſive; ſiegreich in der Kritik
glaubten ſie doch ſelbſt nicht recht an die Lebenskraft der halbfertigen
ſtändiſchen Inſtitutionen. Nun gar die gelehrten Bücher des ehrlichen
Lancizolle über Preußens Königthum und Landſtände klangen ſchon faſt
wie eine Stimme aus dem Grabe; der treue Hallerianer ſprach wie vor
Zeiten Schmalz und Marwitz, von den verſchiedenen „Staaten“ des könig-
lichen Hauſes, den modernen Staat und ſeine Rechtseinheit hielt er für
eine leere Abſtraction. Schwereren Schaden brachte der Sache des Königs
der alte Todfeind der Liberalen Kamptz, der jetzt im Ruheſtande ſeiner
ſchreibſeligen Feder freien Lauf ließ und in einer ganzen Reihe ſtaats-
rechtlicher Abhandlungen, auch in einer wohlfeilen, für die Maſſe be-
ſtimmten Flugſchrift „das wahre königliche Wort Friedrich Wilhelm’s III.“
immer wieder bewies: nichts, gar nichts hätte der alte König ſeinem Volke
verſprochen. Wußte der ergraute Miniſter wirklich nicht mehr, daß Harden-
berg, der Urheber der Verordnung vom 22. Mai, auf das Beſtimmteſte
erklärt hatte, dieſe Verordnung enthalte eine feierliche königliche Zuſage? *)
Möglich immerhin, daß er in ſeinem wilden Fanatismus die Wahrheit
zu ſagen glaubte; noch gewiſſer aber, daß die unſäglich groben Schriften
des verwünſchten Demagogenjägers, der ſich eigenmächtig zum Vertheidiger
der Krone aufwarf, die Liberalen gegen den Monarchen ſelbſt erbitterten.
Zugleich bekundete ſich der ungeduldige politiſche Thatendrang in unzäh-
ligen Verſammlungen. In Königsberg entſtand ein großer Bürgerverein,
der zum erſten male die Handwerker mit den Gelehrten zuſammenführte.
Als er aufgelöſt wurde, da zogen die Genoſſen, 6000 Köpfe oder mehr, all-
wöchentlich nach dem Böttchershöfchen draußen vor den Thoren, und Jeder
den der Geiſt trieb hielt unter freiem Himmel eine europäiſche Rede.
Als die Polizei auch dawider einſchritt, ließ Jacoby eine grimmige „Pro-
vocation auf rechtliches Gehör“ drucken. In Breslau verſammelten ſich
die Liberalen auf den neuen Bahnhöfen, nachher in einer ſtädtiſchen Reſ-
ſource; auch hier fehlte es nicht an Auflöſungen und Proteſten, aber hinter
dieſen harmloſen Kundgebungen ſtand ſchon eine radicale Partei, die ein-
mal, zur Feier des königlichen Geburtstags, durch zuchtloſe Frechheit ihr
Daſein bekundete. In Halle pflegte die ehrenfeſte Bürgerſchaft auf der
Giebichenſteiner Weintraube nationale Erinnerungstage zu feiern; die licht-
freundliche Bewegung begann ſchon zu ebben, das politiſche Pathos
aber erklang mächtig aus den begeiſternden Reden Max Duncker’s. In
Stralſund hielt der geiſtreiche Arzt v. Haſelberg Vorträge über die Zu-
ſtände der Gegenwart. Der Kölniſche Carneval von 1844 war nichts als
eine politiſche Satire auf die Regierung, die Cenſur, die Geſetzbücher, und
ſelbſt der furchtloſe, liberale General Friedrich Gagern fand, eine ſolche
Anarchie der Geiſter und der Tendenzen könne nicht lange dauern. Und ſo
*) S. o. III. 236.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/617>, abgerufen am 18.06.2024.
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