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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Preußen und dem gesammten Staatsministerium gegengezeichnete königliche
Verordnungen über den Vereinigten Landtag, den Vereinigten Ausschuß
und die Staatsschuldendeputation. Darnach sollten die gesammten Pro-
vinzialstände künftighin zu einem Vereinigten Landtage zusammentreten,
so oft der König sie in Friedenszeiten zur Genehmigung von Staats-
anleihen oder zur Erhöhung der Steuern oder auch aus anderen Grün-
den einberiefe. Der Vereinigte Landtag erhielt das Recht der freien Be-
willigung neuer oder erhöhter Steuern und das Petitionsrecht in allen
inneren Angelegenheiten; er hatte auch, wenn es dem Könige gefiel, über
Gesetzentwürfe zu berathen. Innerhalb des Vereinigten Landtags ward
ein Herrenstand eingerichtet, der vorläufig aus den königlichen Prinzen
und den 72 vornehmsten Mitgliedern der Provinzialstände bestehen und
späterhin, nach königlichem Ermessen, noch verstärkt werden sollte; er berieth
und beschloß über Finanzsachen mit den drei anderen Ständen gemeinsam,
über alle anderen Angelegenheiten für sich allein. Daneben aber blieben
die Vereinigten Ausschüsse fortbestehen; sie wurden fortan periodisch, aller
vier Jahre, versammelt und erhielten der Regel nach die neuen Gesetze
zur Berathung vorgelegt, konnten auch in einzelnen Finanzsachen den
Vereinigten Landtag vertreten; und zudem behielt die Krone sich noch
vor, allgemeine Gesetze nach Gutdünken den Provinziallandtagen vorzu-
legen. Die Genehmigung der Kriegsanleihen endlich und die regelmäßige
Prüfung der Staatsschulden-Rechnungen wurde einer ständischen Staats-
schuldendeputation zugewiesen, die aus acht Mitgliedern -- je einem für
jeden Provinziallandtag -- bestehen und jährlich mindestens einmal tagen
sollte.

Also traten des Königs ursprüngliche Entwürfe fast Wort für Wort
in's Leben, die langen Verhandlungen seiner Räthe hatten an diesem
seinem eigensten Werke nichts Wesentliches geändert. Es war ein großer
Schritt, größer als der König selbst glaubte. Friedrich Wilhelm wähnte
die Zukunft seines Verfassungswerkes noch ganz in seiner Herrscherhand
zu halten. Jedoch eine so starke ständische Vertretung mußte, einmal
berufen, kraft ihrer eigenen Schwere fortbestehen, und sie besaß schon
zwei verbriefte wirksame Rechte; denn ohne Eisenbahn-Anleihen konnte der
Staat nicht mehr auskommen, und nach der gewaltigen Aenderung aller
socialen Verhältnisse wurde auch eine Umgestaltung des Steuersystems,
obgleich der König davon noch nichts ahnte, in naher Zukunft unvermeid-
lich. Wider Wissen und Willen führte Friedrich Wilhelm seinen Staat
in die Bahnen des constitutionellen Lebens hinüber.

Aber wie eigensinnig verdarb sich der Gesetzgeber sein edel gedachtes
Werk durch Künstelei und Willkür! Schien es doch fast, als wollte er
absichtlich Rechtsbedenken und Proteste hervorrufen. Weshalb wurde die
Verordnung vom Mai 1815, die doch unzweifelhaft noch zu Recht bestand
und den späteren ständischen Gesetzen keineswegs widersprach, fast muthwillig

V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Preußen und dem geſammten Staatsminiſterium gegengezeichnete königliche
Verordnungen über den Vereinigten Landtag, den Vereinigten Ausſchuß
und die Staatsſchuldendeputation. Darnach ſollten die geſammten Pro-
vinzialſtände künftighin zu einem Vereinigten Landtage zuſammentreten,
ſo oft der König ſie in Friedenszeiten zur Genehmigung von Staats-
anleihen oder zur Erhöhung der Steuern oder auch aus anderen Grün-
den einberiefe. Der Vereinigte Landtag erhielt das Recht der freien Be-
willigung neuer oder erhöhter Steuern und das Petitionsrecht in allen
inneren Angelegenheiten; er hatte auch, wenn es dem Könige gefiel, über
Geſetzentwürfe zu berathen. Innerhalb des Vereinigten Landtags ward
ein Herrenſtand eingerichtet, der vorläufig aus den königlichen Prinzen
und den 72 vornehmſten Mitgliedern der Provinzialſtände beſtehen und
ſpäterhin, nach königlichem Ermeſſen, noch verſtärkt werden ſollte; er berieth
und beſchloß über Finanzſachen mit den drei anderen Ständen gemeinſam,
über alle anderen Angelegenheiten für ſich allein. Daneben aber blieben
die Vereinigten Ausſchüſſe fortbeſtehen; ſie wurden fortan periodiſch, aller
vier Jahre, verſammelt und erhielten der Regel nach die neuen Geſetze
zur Berathung vorgelegt, konnten auch in einzelnen Finanzſachen den
Vereinigten Landtag vertreten; und zudem behielt die Krone ſich noch
vor, allgemeine Geſetze nach Gutdünken den Provinziallandtagen vorzu-
legen. Die Genehmigung der Kriegsanleihen endlich und die regelmäßige
Prüfung der Staatsſchulden-Rechnungen wurde einer ſtändiſchen Staats-
ſchuldendeputation zugewieſen, die aus acht Mitgliedern — je einem für
jeden Provinziallandtag — beſtehen und jährlich mindeſtens einmal tagen
ſollte.

Alſo traten des Königs urſprüngliche Entwürfe faſt Wort für Wort
in’s Leben, die langen Verhandlungen ſeiner Räthe hatten an dieſem
ſeinem eigenſten Werke nichts Weſentliches geändert. Es war ein großer
Schritt, größer als der König ſelbſt glaubte. Friedrich Wilhelm wähnte
die Zukunft ſeines Verfaſſungswerkes noch ganz in ſeiner Herrſcherhand
zu halten. Jedoch eine ſo ſtarke ſtändiſche Vertretung mußte, einmal
berufen, kraft ihrer eigenen Schwere fortbeſtehen, und ſie beſaß ſchon
zwei verbriefte wirkſame Rechte; denn ohne Eiſenbahn-Anleihen konnte der
Staat nicht mehr auskommen, und nach der gewaltigen Aenderung aller
ſocialen Verhältniſſe wurde auch eine Umgeſtaltung des Steuerſyſtems,
obgleich der König davon noch nichts ahnte, in naher Zukunft unvermeid-
lich. Wider Wiſſen und Willen führte Friedrich Wilhelm ſeinen Staat
in die Bahnen des conſtitutionellen Lebens hinüber.

Aber wie eigenſinnig verdarb ſich der Geſetzgeber ſein edel gedachtes
Werk durch Künſtelei und Willkür! Schien es doch faſt, als wollte er
abſichtlich Rechtsbedenken und Proteſte hervorrufen. Weshalb wurde die
Verordnung vom Mai 1815, die doch unzweifelhaft noch zu Recht beſtand
und den ſpäteren ſtändiſchen Geſetzen keineswegs widerſprach, faſt muthwillig

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[610/0624] V. 8. Der Vereinigte Landtag. Preußen und dem geſammten Staatsminiſterium gegengezeichnete königliche Verordnungen über den Vereinigten Landtag, den Vereinigten Ausſchuß und die Staatsſchuldendeputation. Darnach ſollten die geſammten Pro- vinzialſtände künftighin zu einem Vereinigten Landtage zuſammentreten, ſo oft der König ſie in Friedenszeiten zur Genehmigung von Staats- anleihen oder zur Erhöhung der Steuern oder auch aus anderen Grün- den einberiefe. Der Vereinigte Landtag erhielt das Recht der freien Be- willigung neuer oder erhöhter Steuern und das Petitionsrecht in allen inneren Angelegenheiten; er hatte auch, wenn es dem Könige gefiel, über Geſetzentwürfe zu berathen. Innerhalb des Vereinigten Landtags ward ein Herrenſtand eingerichtet, der vorläufig aus den königlichen Prinzen und den 72 vornehmſten Mitgliedern der Provinzialſtände beſtehen und ſpäterhin, nach königlichem Ermeſſen, noch verſtärkt werden ſollte; er berieth und beſchloß über Finanzſachen mit den drei anderen Ständen gemeinſam, über alle anderen Angelegenheiten für ſich allein. Daneben aber blieben die Vereinigten Ausſchüſſe fortbeſtehen; ſie wurden fortan periodiſch, aller vier Jahre, verſammelt und erhielten der Regel nach die neuen Geſetze zur Berathung vorgelegt, konnten auch in einzelnen Finanzſachen den Vereinigten Landtag vertreten; und zudem behielt die Krone ſich noch vor, allgemeine Geſetze nach Gutdünken den Provinziallandtagen vorzu- legen. Die Genehmigung der Kriegsanleihen endlich und die regelmäßige Prüfung der Staatsſchulden-Rechnungen wurde einer ſtändiſchen Staats- ſchuldendeputation zugewieſen, die aus acht Mitgliedern — je einem für jeden Provinziallandtag — beſtehen und jährlich mindeſtens einmal tagen ſollte. Alſo traten des Königs urſprüngliche Entwürfe faſt Wort für Wort in’s Leben, die langen Verhandlungen ſeiner Räthe hatten an dieſem ſeinem eigenſten Werke nichts Weſentliches geändert. Es war ein großer Schritt, größer als der König ſelbſt glaubte. Friedrich Wilhelm wähnte die Zukunft ſeines Verfaſſungswerkes noch ganz in ſeiner Herrſcherhand zu halten. Jedoch eine ſo ſtarke ſtändiſche Vertretung mußte, einmal berufen, kraft ihrer eigenen Schwere fortbeſtehen, und ſie beſaß ſchon zwei verbriefte wirkſame Rechte; denn ohne Eiſenbahn-Anleihen konnte der Staat nicht mehr auskommen, und nach der gewaltigen Aenderung aller ſocialen Verhältniſſe wurde auch eine Umgeſtaltung des Steuerſyſtems, obgleich der König davon noch nichts ahnte, in naher Zukunft unvermeid- lich. Wider Wiſſen und Willen führte Friedrich Wilhelm ſeinen Staat in die Bahnen des conſtitutionellen Lebens hinüber. Aber wie eigenſinnig verdarb ſich der Geſetzgeber ſein edel gedachtes Werk durch Künſtelei und Willkür! Schien es doch faſt, als wollte er abſichtlich Rechtsbedenken und Proteſte hervorrufen. Weshalb wurde die Verordnung vom Mai 1815, die doch unzweifelhaft noch zu Recht beſtand und den ſpäteren ſtändiſchen Geſetzen keineswegs widerſprach, faſt muthwillig

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/624>, abgerufen am 24.11.2024.