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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Simon, Annehmen oder Ablehnen. Gervinus.
von Kurhessen, Norwegen und Belgien" drucken. Diese drei Staaten hatten
bekanntlich dem "Zeitgeiste die ihm gebührenden Zugeständnisse gemacht",
und da der Zeitgeist Alles, die Geschichte nichts galt, so konnte hier jeder
gesinnungstüchtige Leser lernen, wie viel glücklicher der freie Kurhesse
war als der geknechtete Preuße. Auch die Flüchtlinge warfen ein Libell
"das Patent" über die Grenze, das einfach erklärte: "Alle Hoffnungen sind
betrogen, alle Täuschungen sind zu Ende. Keine Volksgeltung ohne Volks-
herrschaft, keine Volksherrschaft ohne Republik! Recht oder -- Blut!"

Bei der besonnenen Mehrheit des preußischen Volks konnte ein so
thörichter, so undankbarer Radicalismus doch nicht durchdringen. Auf
einer Versammlung rheinischer Abgeordneten zu Köln wurde, wenn auch
unter mannichfachen Bedenken, endlich beschlossen den Versuch einer Ver-
ständigung zu wagen, und es zeigte sich bald, daß die Gesammtheit der
Provinzialvertreter entschlossen war in alter Treue dem Rufe des Königs
zu folgen. Die süddeutschen Liberalen meinten ebenfalls, mit dem starren
Verneinen sei nichts gethan. Welcker sogar, der alte grimmige Feind
Preußens, gelangte in einer unförmlichen, mit allen Schlagwörtern des
verendenden Vernunftsrechts ausgeschmückten Abhandlung "Grundgesetz
und Grundvertrag" doch zu dem Schlusse, das preußische Volk müsse diese
große Gelegenheit mit Freuden benutzen: "gründet die ganze Freiheit wie
auch die anderen freien Völker sie haben." Auch Gervinus fühlte sich
wieder verpflichtet mitzureden, obgleich er von preußischen Dingen noch
weniger als Welcker verstand. Ihm fehlte sogar was der ehrlich polternde
Welcker doch einigermaßen besaß, die erste Tugend des Publicisten: die
Freiheit des Gemüths, die Sicherheit des fest dem Ziele zugewandten
Willens. Schwelgend im Genusse seiner eigenen Vollkommenheit redete er
immer nur über die Dinge hin und sagte nicht was er eigentlich wollte.
In seinem übellaunigen Büchlein "das Patent vom 3. Februar" über-
schüttete er Preußen mit einem solchen Gallenergusse, daß sein unschuldiger
Freund Jakob Grimm ganz erschrocken antwortete: wenn das Alles wahr
wäre, wenn bei uns wirklich nur Lug und Trug herrschten, dann müßte
ich "um jeden Preis aus einem solchen Lande weichen"! Im Grunde lief
der ganze Tadel darauf hinaus, daß Preußen unglücklicherweise Preußen
war und nicht Hessen-Darmstadt oder Sachsen-Meiningen; und dabei
glaubte Gervinus doch Preußens treuester Freund zu sein. So viel ließ
sich aus der Masse der Scheltworte immerhin errathen, daß der Ge-
strenge nicht geradezu das kahle Ablehnen empfehlen wollte; aber was
er thun konnte um die Aussöhnung der Parteien zu hintertreiben, das
that er durch sein Zanken redlich. Neben diesen vielgelesenen Schriften
wurde der alte Restaurator Haller kaum beachtet, als er in einer Flug-
schrift tief besorgt die Krone vor allzu freigebigen Gewährungen warnte.

Also war die Partei der unbedingten Verneinung vorläufig über-
wunden, doch wirkliche Eintracht mit nichten hergestellt. Diese Regierung

Simon, Annehmen oder Ablehnen. Gervinus.
von Kurheſſen, Norwegen und Belgien“ drucken. Dieſe drei Staaten hatten
bekanntlich dem „Zeitgeiſte die ihm gebührenden Zugeſtändniſſe gemacht“,
und da der Zeitgeiſt Alles, die Geſchichte nichts galt, ſo konnte hier jeder
geſinnungstüchtige Leſer lernen, wie viel glücklicher der freie Kurheſſe
war als der geknechtete Preuße. Auch die Flüchtlinge warfen ein Libell
„das Patent“ über die Grenze, das einfach erklärte: „Alle Hoffnungen ſind
betrogen, alle Täuſchungen ſind zu Ende. Keine Volksgeltung ohne Volks-
herrſchaft, keine Volksherrſchaft ohne Republik! Recht oder — Blut!“

Bei der beſonnenen Mehrheit des preußiſchen Volks konnte ein ſo
thörichter, ſo undankbarer Radicalismus doch nicht durchdringen. Auf
einer Verſammlung rheiniſcher Abgeordneten zu Köln wurde, wenn auch
unter mannichfachen Bedenken, endlich beſchloſſen den Verſuch einer Ver-
ſtändigung zu wagen, und es zeigte ſich bald, daß die Geſammtheit der
Provinzialvertreter entſchloſſen war in alter Treue dem Rufe des Königs
zu folgen. Die ſüddeutſchen Liberalen meinten ebenfalls, mit dem ſtarren
Verneinen ſei nichts gethan. Welcker ſogar, der alte grimmige Feind
Preußens, gelangte in einer unförmlichen, mit allen Schlagwörtern des
verendenden Vernunftsrechts ausgeſchmückten Abhandlung „Grundgeſetz
und Grundvertrag“ doch zu dem Schluſſe, das preußiſche Volk müſſe dieſe
große Gelegenheit mit Freuden benutzen: „gründet die ganze Freiheit wie
auch die anderen freien Völker ſie haben.“ Auch Gervinus fühlte ſich
wieder verpflichtet mitzureden, obgleich er von preußiſchen Dingen noch
weniger als Welcker verſtand. Ihm fehlte ſogar was der ehrlich polternde
Welcker doch einigermaßen beſaß, die erſte Tugend des Publiciſten: die
Freiheit des Gemüths, die Sicherheit des feſt dem Ziele zugewandten
Willens. Schwelgend im Genuſſe ſeiner eigenen Vollkommenheit redete er
immer nur über die Dinge hin und ſagte nicht was er eigentlich wollte.
In ſeinem übellaunigen Büchlein „das Patent vom 3. Februar“ über-
ſchüttete er Preußen mit einem ſolchen Gallenerguſſe, daß ſein unſchuldiger
Freund Jakob Grimm ganz erſchrocken antwortete: wenn das Alles wahr
wäre, wenn bei uns wirklich nur Lug und Trug herrſchten, dann müßte
ich „um jeden Preis aus einem ſolchen Lande weichen“! Im Grunde lief
der ganze Tadel darauf hinaus, daß Preußen unglücklicherweiſe Preußen
war und nicht Heſſen-Darmſtadt oder Sachſen-Meiningen; und dabei
glaubte Gervinus doch Preußens treueſter Freund zu ſein. So viel ließ
ſich aus der Maſſe der Scheltworte immerhin errathen, daß der Ge-
ſtrenge nicht geradezu das kahle Ablehnen empfehlen wollte; aber was
er thun konnte um die Ausſöhnung der Parteien zu hintertreiben, das
that er durch ſein Zanken redlich. Neben dieſen vielgeleſenen Schriften
wurde der alte Reſtaurator Haller kaum beachtet, als er in einer Flug-
ſchrift tief beſorgt die Krone vor allzu freigebigen Gewährungen warnte.

Alſo war die Partei der unbedingten Verneinung vorläufig über-
wunden, doch wirkliche Eintracht mit nichten hergeſtellt. Dieſe Regierung

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[613/0627] Simon, Annehmen oder Ablehnen. Gervinus. von Kurheſſen, Norwegen und Belgien“ drucken. Dieſe drei Staaten hatten bekanntlich dem „Zeitgeiſte die ihm gebührenden Zugeſtändniſſe gemacht“, und da der Zeitgeiſt Alles, die Geſchichte nichts galt, ſo konnte hier jeder geſinnungstüchtige Leſer lernen, wie viel glücklicher der freie Kurheſſe war als der geknechtete Preuße. Auch die Flüchtlinge warfen ein Libell „das Patent“ über die Grenze, das einfach erklärte: „Alle Hoffnungen ſind betrogen, alle Täuſchungen ſind zu Ende. Keine Volksgeltung ohne Volks- herrſchaft, keine Volksherrſchaft ohne Republik! Recht oder — Blut!“ Bei der beſonnenen Mehrheit des preußiſchen Volks konnte ein ſo thörichter, ſo undankbarer Radicalismus doch nicht durchdringen. Auf einer Verſammlung rheiniſcher Abgeordneten zu Köln wurde, wenn auch unter mannichfachen Bedenken, endlich beſchloſſen den Verſuch einer Ver- ſtändigung zu wagen, und es zeigte ſich bald, daß die Geſammtheit der Provinzialvertreter entſchloſſen war in alter Treue dem Rufe des Königs zu folgen. Die ſüddeutſchen Liberalen meinten ebenfalls, mit dem ſtarren Verneinen ſei nichts gethan. Welcker ſogar, der alte grimmige Feind Preußens, gelangte in einer unförmlichen, mit allen Schlagwörtern des verendenden Vernunftsrechts ausgeſchmückten Abhandlung „Grundgeſetz und Grundvertrag“ doch zu dem Schluſſe, das preußiſche Volk müſſe dieſe große Gelegenheit mit Freuden benutzen: „gründet die ganze Freiheit wie auch die anderen freien Völker ſie haben.“ Auch Gervinus fühlte ſich wieder verpflichtet mitzureden, obgleich er von preußiſchen Dingen noch weniger als Welcker verſtand. Ihm fehlte ſogar was der ehrlich polternde Welcker doch einigermaßen beſaß, die erſte Tugend des Publiciſten: die Freiheit des Gemüths, die Sicherheit des feſt dem Ziele zugewandten Willens. Schwelgend im Genuſſe ſeiner eigenen Vollkommenheit redete er immer nur über die Dinge hin und ſagte nicht was er eigentlich wollte. In ſeinem übellaunigen Büchlein „das Patent vom 3. Februar“ über- ſchüttete er Preußen mit einem ſolchen Gallenerguſſe, daß ſein unſchuldiger Freund Jakob Grimm ganz erſchrocken antwortete: wenn das Alles wahr wäre, wenn bei uns wirklich nur Lug und Trug herrſchten, dann müßte ich „um jeden Preis aus einem ſolchen Lande weichen“! Im Grunde lief der ganze Tadel darauf hinaus, daß Preußen unglücklicherweiſe Preußen war und nicht Heſſen-Darmſtadt oder Sachſen-Meiningen; und dabei glaubte Gervinus doch Preußens treueſter Freund zu ſein. So viel ließ ſich aus der Maſſe der Scheltworte immerhin errathen, daß der Ge- ſtrenge nicht geradezu das kahle Ablehnen empfehlen wollte; aber was er thun konnte um die Ausſöhnung der Parteien zu hintertreiben, das that er durch ſein Zanken redlich. Neben dieſen vielgeleſenen Schriften wurde der alte Reſtaurator Haller kaum beachtet, als er in einer Flug- ſchrift tief beſorgt die Krone vor allzu freigebigen Gewährungen warnte. Alſo war die Partei der unbedingten Verneinung vorläufig über- wunden, doch wirkliche Eintracht mit nichten hergeſtellt. Dieſe Regierung

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/627>, abgerufen am 24.11.2024.