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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 8. Der Vereinigte Landtag.
der Mißverständnisse blieb ihrem Charakter treu: der König wähnte mit
dem Patente für lange Zeit sein letztes Wort gesprochen zu haben, die
öffentliche Meinung sah darin nur den ersten Anfang eines freieren
politischen Lebens, und schon jetzt zeigte sich daß der Gegensatz sich zuspitzen
mußte zu der einen Frage der periodischen Landtagsberufung. War der
Vereinigte Landtag erst seiner regelmäßigen Wiederkehr sicher, dann konnte
er sich mit Fug und Recht für die gesetzliche Landesvertretung ansehen;
die Vereinigten Ausschüsse verloren dann jede Bedeutung, und auch der
Nebenstreit um die Kriegsanleihen und die Schuldendeputation ließ sich
leichter erledigen. In der Forderung periodischer Reichsstände fanden sich
drei ganz verschiedene Parteien zusammen: zunächst alle die besonnenen
Männer, die der Unsicherheit des öffentlichen Rechts ein Ende machen
wollten; sodann die entschiedenen Liberalen, die von einem vielköpfigen
Parlamente für ihre Parteizwecke mehr erwarteten als von einem kleinen
Ausschuß; dazu endlich die hohe Aristokratie, denn durch den Herrenstand
des Vereinigten Landtags hoffte sie politische Macht zu gewinnen, während
sie in den Vereinigten Ausschüssen nur durch wenige Stimmen vertreten
war. Dies erkannte Kühne, er befürchtete eine Coalition monstreuse
zwischen den extremen Liberalen und Aristokraten. Mündlich und brief-
lich stellte er seinem alten Freunde Bodelschwingh vor: diese große Ver-
sammlung würde nur dann in Frieden zu Ende gehen, wenn der König
rechtzeitig, bevor man ihn zwänge, in der einen entscheidenden Frage nach-
gäbe und dem Vereinigten Landtage, ebenso wie schon den Vereinigten
Ausschüssen, die periodische Einberufung zusagte.*)

Welch' eine Last lag jetzt auf Bodelschwingh. Einst im Befreiungs-
kriege hatte eine französische Kugel dem tapferen Kriegsmanne die Lunge
durchbohrt, und gerade jetzt packte ihn wieder eine jener schweren Lungen-
entzündungen, die ihn seitdem schon mehrmals heimgesucht hatten. Er
rang mit dem Tode; den ganzen März hindurch blieb er unfähig zur
Arbeit. Kaum halb genesen raffte er sich dann auf, um heldenhaft, fast
allein, selber ein parlamentarischer Neuling, dieser stürmischen Versamm-
lung die Stirne zu bieten. Als Minister des Innern und Cabinets-
minister zugleich, mußte er die Sache der Krone zunächst vertreten, und
es ergab sich auch bald, daß er allein unter allen Ministern ein ungewöhn-
liches Rednertalent besaß. Er war ein Sohn jenes stolzen Freiherrn
Bodelschwingh-Plettenberg, der einst so hartnäckig die ständischen Rechte
der Grafschaft Mark vertheidigt hatte, ein Liebling Stein's und des alten
Vincke, Westphale durch und durch, und hatte sich doch in den mannich-
fachen Stellungen einer beispiellos raschen Beamtenlaufbahn überall Liebe,
selbst in der bösen Zeit des Kölnischen Bischofsstreites die Achtung der
Rheinländer gewonnen. Die älteren westphälischen Landsleute erinnerte

*) Kühne an Bodelschwingh, 3. April 1847. S. Beilage 35.

V. 8. Der Vereinigte Landtag.
der Mißverſtändniſſe blieb ihrem Charakter treu: der König wähnte mit
dem Patente für lange Zeit ſein letztes Wort geſprochen zu haben, die
öffentliche Meinung ſah darin nur den erſten Anfang eines freieren
politiſchen Lebens, und ſchon jetzt zeigte ſich daß der Gegenſatz ſich zuſpitzen
mußte zu der einen Frage der periodiſchen Landtagsberufung. War der
Vereinigte Landtag erſt ſeiner regelmäßigen Wiederkehr ſicher, dann konnte
er ſich mit Fug und Recht für die geſetzliche Landesvertretung anſehen;
die Vereinigten Ausſchüſſe verloren dann jede Bedeutung, und auch der
Nebenſtreit um die Kriegsanleihen und die Schuldendeputation ließ ſich
leichter erledigen. In der Forderung periodiſcher Reichsſtände fanden ſich
drei ganz verſchiedene Parteien zuſammen: zunächſt alle die beſonnenen
Männer, die der Unſicherheit des öffentlichen Rechts ein Ende machen
wollten; ſodann die entſchiedenen Liberalen, die von einem vielköpfigen
Parlamente für ihre Parteizwecke mehr erwarteten als von einem kleinen
Ausſchuß; dazu endlich die hohe Ariſtokratie, denn durch den Herrenſtand
des Vereinigten Landtags hoffte ſie politiſche Macht zu gewinnen, während
ſie in den Vereinigten Ausſchüſſen nur durch wenige Stimmen vertreten
war. Dies erkannte Kühne, er befürchtete eine Coalition monstreuse
zwiſchen den extremen Liberalen und Ariſtokraten. Mündlich und brief-
lich ſtellte er ſeinem alten Freunde Bodelſchwingh vor: dieſe große Ver-
ſammlung würde nur dann in Frieden zu Ende gehen, wenn der König
rechtzeitig, bevor man ihn zwänge, in der einen entſcheidenden Frage nach-
gäbe und dem Vereinigten Landtage, ebenſo wie ſchon den Vereinigten
Ausſchüſſen, die periodiſche Einberufung zuſagte.*)

Welch’ eine Laſt lag jetzt auf Bodelſchwingh. Einſt im Befreiungs-
kriege hatte eine franzöſiſche Kugel dem tapferen Kriegsmanne die Lunge
durchbohrt, und gerade jetzt packte ihn wieder eine jener ſchweren Lungen-
entzündungen, die ihn ſeitdem ſchon mehrmals heimgeſucht hatten. Er
rang mit dem Tode; den ganzen März hindurch blieb er unfähig zur
Arbeit. Kaum halb geneſen raffte er ſich dann auf, um heldenhaft, faſt
allein, ſelber ein parlamentariſcher Neuling, dieſer ſtürmiſchen Verſamm-
lung die Stirne zu bieten. Als Miniſter des Innern und Cabinets-
miniſter zugleich, mußte er die Sache der Krone zunächſt vertreten, und
es ergab ſich auch bald, daß er allein unter allen Miniſtern ein ungewöhn-
liches Rednertalent beſaß. Er war ein Sohn jenes ſtolzen Freiherrn
Bodelſchwingh-Plettenberg, der einſt ſo hartnäckig die ſtändiſchen Rechte
der Grafſchaft Mark vertheidigt hatte, ein Liebling Stein’s und des alten
Vincke, Weſtphale durch und durch, und hatte ſich doch in den mannich-
fachen Stellungen einer beiſpiellos raſchen Beamtenlaufbahn überall Liebe,
ſelbſt in der böſen Zeit des Kölniſchen Biſchofsſtreites die Achtung der
Rheinländer gewonnen. Die älteren weſtphäliſchen Landsleute erinnerte

*) Kühne an Bodelſchwingh, 3. April 1847. S. Beilage 35.
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[614/0628] V. 8. Der Vereinigte Landtag. der Mißverſtändniſſe blieb ihrem Charakter treu: der König wähnte mit dem Patente für lange Zeit ſein letztes Wort geſprochen zu haben, die öffentliche Meinung ſah darin nur den erſten Anfang eines freieren politiſchen Lebens, und ſchon jetzt zeigte ſich daß der Gegenſatz ſich zuſpitzen mußte zu der einen Frage der periodiſchen Landtagsberufung. War der Vereinigte Landtag erſt ſeiner regelmäßigen Wiederkehr ſicher, dann konnte er ſich mit Fug und Recht für die geſetzliche Landesvertretung anſehen; die Vereinigten Ausſchüſſe verloren dann jede Bedeutung, und auch der Nebenſtreit um die Kriegsanleihen und die Schuldendeputation ließ ſich leichter erledigen. In der Forderung periodiſcher Reichsſtände fanden ſich drei ganz verſchiedene Parteien zuſammen: zunächſt alle die beſonnenen Männer, die der Unſicherheit des öffentlichen Rechts ein Ende machen wollten; ſodann die entſchiedenen Liberalen, die von einem vielköpfigen Parlamente für ihre Parteizwecke mehr erwarteten als von einem kleinen Ausſchuß; dazu endlich die hohe Ariſtokratie, denn durch den Herrenſtand des Vereinigten Landtags hoffte ſie politiſche Macht zu gewinnen, während ſie in den Vereinigten Ausſchüſſen nur durch wenige Stimmen vertreten war. Dies erkannte Kühne, er befürchtete eine Coalition monstreuse zwiſchen den extremen Liberalen und Ariſtokraten. Mündlich und brief- lich ſtellte er ſeinem alten Freunde Bodelſchwingh vor: dieſe große Ver- ſammlung würde nur dann in Frieden zu Ende gehen, wenn der König rechtzeitig, bevor man ihn zwänge, in der einen entſcheidenden Frage nach- gäbe und dem Vereinigten Landtage, ebenſo wie ſchon den Vereinigten Ausſchüſſen, die periodiſche Einberufung zuſagte. *) Welch’ eine Laſt lag jetzt auf Bodelſchwingh. Einſt im Befreiungs- kriege hatte eine franzöſiſche Kugel dem tapferen Kriegsmanne die Lunge durchbohrt, und gerade jetzt packte ihn wieder eine jener ſchweren Lungen- entzündungen, die ihn ſeitdem ſchon mehrmals heimgeſucht hatten. Er rang mit dem Tode; den ganzen März hindurch blieb er unfähig zur Arbeit. Kaum halb geneſen raffte er ſich dann auf, um heldenhaft, faſt allein, ſelber ein parlamentariſcher Neuling, dieſer ſtürmiſchen Verſamm- lung die Stirne zu bieten. Als Miniſter des Innern und Cabinets- miniſter zugleich, mußte er die Sache der Krone zunächſt vertreten, und es ergab ſich auch bald, daß er allein unter allen Miniſtern ein ungewöhn- liches Rednertalent beſaß. Er war ein Sohn jenes ſtolzen Freiherrn Bodelſchwingh-Plettenberg, der einſt ſo hartnäckig die ſtändiſchen Rechte der Grafſchaft Mark vertheidigt hatte, ein Liebling Stein’s und des alten Vincke, Weſtphale durch und durch, und hatte ſich doch in den mannich- fachen Stellungen einer beiſpiellos raſchen Beamtenlaufbahn überall Liebe, ſelbſt in der böſen Zeit des Kölniſchen Biſchofsſtreites die Achtung der Rheinländer gewonnen. Die älteren weſtphäliſchen Landsleute erinnerte *) Kühne an Bodelſchwingh, 3. April 1847. S. Beilage 35.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/628>, abgerufen am 24.11.2024.