Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

Charakter des Vereinigten Landtags.
Männern. Metternich selbst war erstaunt über die "parlamentarische Ge-
diegenheit" dieser jungen Versammlung; man wußte im Auslande nicht,
daß die meisten der Abgeordneten keine Neulinge waren, sondern schon
seit Jahren in der bescheidenen Schule der Provinziallandtage die Kunst
der Rede und der parlamentarischen Taktik gelernt hatten und jetzt die
Fülle der dort gesammelten Erfahrungen zur gemeinsamen Arbeit herbei-
trugen. Noch überwog die schöne Beredsamkeit des Herzens, wie es in
einer Zeit der Erwartung nicht anders sein konnte; aber auch die Leiden-
schaft hielt sich fast immer in den Schranken der guten Sitte, und nie-
mals wieder hat Preußen ein so würdevolles Parlament gesehen. Von
dem Monarchen sprachen Alle mit tiefer Ehrfurcht, Manche mit über-
schwänglicher Bewunderung, ein Redner der Opposition nannte Friedrich II.
den größten König, welcher Preußen vor dem Jahre 1840 beherrscht hätte;
bei Hofe galt der Name Friedrich der Große fast für unschicklich, die
neue Zeit friedlicher Weisheit sollte ja alle Kriegsthaten der heldenhaften
Altvordern verdunkeln.

Von vornherein zeigten die Männer der Oppositionsparteien das Ge-
fühl entschiedener Ueberlegenheit; sie trugen in sich das Bewußtsein einer
großen Bestimmung, sie hofften den preußischen Staat durch die Aus-
bildung der ständischen Institutionen mit dem übrigen Deutschland zu be-
freunden und ihm also die Führung der Nation zu sichern. In den Sälen
des Russischen und des Französischen Hofes, wo die Opposition, noch ganz
ohne Fractionszwang, ihre freien Vorbesprechungen zu halten pflegte, fanden
sich auch manche Liberale von auswärts ein: Jacoby aus Königsberg, Graf
Reichenbach, H. Simon und Stein aus Schlesien, Biedermann aus Leipzig,
Beseler und andere Schleswigholsteiner. Sie alle erwarteten von Preußens
erstem Reichstage eine Wendung der deutschen Geschicke, auch der junge
Julian Schmidt wurde durch die Bewegung dieser Tage von der Literatur
zur Politik hinübergeführt. Zu den Sitzungen des Landtags selbst ließ
der König keine Hörer zu, aber die Verhandlungen wurden vollständig
gedruckt, jetzt endlich mit Nennung der Redner, und obgleich die noch un-
beholfenen Stenographen ihren Bericht meistens erst nach acht Tagen fertig
stellten, so folgten doch alle Gebildeten dem parlamentarischen Kampfe mit
reger Theilnahme. Die Kölnische Zeitung ließ sich ihre Berliner Zeitungs-
packete von Minden an durch eigene Stafetten zusenden nur um den
Rheinländern den Landtagsbericht einen Tag vor den anderen Blättern
darzubieten.

Neben der Zuversicht der Opposition erschien die Haltung der Re-
gierung von Haus aus schwächlich und unsicher; die Minister befolgten
getreulich die Befehle ihres königlichen Herrn, obgleich kein einziger unter
ihnen mit den wunderlichen Plänen des Monarchen ganz einverstanden
war. Und so fühlten sich auch die conservativen Abgeordneten, die im
Englischen Hofe zusammenkamen, beim besten Willen die Krone zu unter-

Charakter des Vereinigten Landtags.
Männern. Metternich ſelbſt war erſtaunt über die „parlamentariſche Ge-
diegenheit“ dieſer jungen Verſammlung; man wußte im Auslande nicht,
daß die meiſten der Abgeordneten keine Neulinge waren, ſondern ſchon
ſeit Jahren in der beſcheidenen Schule der Provinziallandtage die Kunſt
der Rede und der parlamentariſchen Taktik gelernt hatten und jetzt die
Fülle der dort geſammelten Erfahrungen zur gemeinſamen Arbeit herbei-
trugen. Noch überwog die ſchöne Beredſamkeit des Herzens, wie es in
einer Zeit der Erwartung nicht anders ſein konnte; aber auch die Leiden-
ſchaft hielt ſich faſt immer in den Schranken der guten Sitte, und nie-
mals wieder hat Preußen ein ſo würdevolles Parlament geſehen. Von
dem Monarchen ſprachen Alle mit tiefer Ehrfurcht, Manche mit über-
ſchwänglicher Bewunderung, ein Redner der Oppoſition nannte Friedrich II.
den größten König, welcher Preußen vor dem Jahre 1840 beherrſcht hätte;
bei Hofe galt der Name Friedrich der Große faſt für unſchicklich, die
neue Zeit friedlicher Weisheit ſollte ja alle Kriegsthaten der heldenhaften
Altvordern verdunkeln.

Von vornherein zeigten die Männer der Oppoſitionsparteien das Ge-
fühl entſchiedener Ueberlegenheit; ſie trugen in ſich das Bewußtſein einer
großen Beſtimmung, ſie hofften den preußiſchen Staat durch die Aus-
bildung der ſtändiſchen Inſtitutionen mit dem übrigen Deutſchland zu be-
freunden und ihm alſo die Führung der Nation zu ſichern. In den Sälen
des Ruſſiſchen und des Franzöſiſchen Hofes, wo die Oppoſition, noch ganz
ohne Fractionszwang, ihre freien Vorbeſprechungen zu halten pflegte, fanden
ſich auch manche Liberale von auswärts ein: Jacoby aus Königsberg, Graf
Reichenbach, H. Simon und Stein aus Schleſien, Biedermann aus Leipzig,
Beſeler und andere Schleswigholſteiner. Sie alle erwarteten von Preußens
erſtem Reichstage eine Wendung der deutſchen Geſchicke, auch der junge
Julian Schmidt wurde durch die Bewegung dieſer Tage von der Literatur
zur Politik hinübergeführt. Zu den Sitzungen des Landtags ſelbſt ließ
der König keine Hörer zu, aber die Verhandlungen wurden vollſtändig
gedruckt, jetzt endlich mit Nennung der Redner, und obgleich die noch un-
beholfenen Stenographen ihren Bericht meiſtens erſt nach acht Tagen fertig
ſtellten, ſo folgten doch alle Gebildeten dem parlamentariſchen Kampfe mit
reger Theilnahme. Die Kölniſche Zeitung ließ ſich ihre Berliner Zeitungs-
packete von Minden an durch eigene Stafetten zuſenden nur um den
Rheinländern den Landtagsbericht einen Tag vor den anderen Blättern
darzubieten.

Neben der Zuverſicht der Oppoſition erſchien die Haltung der Re-
gierung von Haus aus ſchwächlich und unſicher; die Miniſter befolgten
getreulich die Befehle ihres königlichen Herrn, obgleich kein einziger unter
ihnen mit den wunderlichen Plänen des Monarchen ganz einverſtanden
war. Und ſo fühlten ſich auch die conſervativen Abgeordneten, die im
Engliſchen Hofe zuſammenkamen, beim beſten Willen die Krone zu unter-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0631" n="617"/><fw place="top" type="header">Charakter des Vereinigten Landtags.</fw><lb/>
Männern. Metternich &#x017F;elb&#x017F;t war er&#x017F;taunt über die &#x201E;parlamentari&#x017F;che Ge-<lb/>
diegenheit&#x201C; die&#x017F;er jungen Ver&#x017F;ammlung; man wußte im Auslande nicht,<lb/>
daß die mei&#x017F;ten der Abgeordneten keine Neulinge waren, &#x017F;ondern &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;eit Jahren in der be&#x017F;cheidenen Schule der Provinziallandtage die Kun&#x017F;t<lb/>
der Rede und der parlamentari&#x017F;chen Taktik gelernt hatten und jetzt die<lb/>
Fülle der dort ge&#x017F;ammelten Erfahrungen zur gemein&#x017F;amen Arbeit herbei-<lb/>
trugen. Noch überwog die &#x017F;chöne Bered&#x017F;amkeit des Herzens, wie es in<lb/>
einer Zeit der Erwartung nicht anders &#x017F;ein konnte; aber auch die Leiden-<lb/>
&#x017F;chaft hielt &#x017F;ich fa&#x017F;t immer in den Schranken der guten Sitte, und nie-<lb/>
mals wieder hat Preußen ein &#x017F;o würdevolles Parlament ge&#x017F;ehen. Von<lb/>
dem Monarchen &#x017F;prachen Alle mit tiefer Ehrfurcht, Manche mit über-<lb/>
&#x017F;chwänglicher Bewunderung, ein Redner der Oppo&#x017F;ition nannte Friedrich <hi rendition="#aq">II.</hi><lb/>
den größten König, welcher Preußen vor dem Jahre 1840 beherr&#x017F;cht hätte;<lb/>
bei Hofe galt der Name Friedrich der Große fa&#x017F;t für un&#x017F;chicklich, die<lb/>
neue Zeit friedlicher Weisheit &#x017F;ollte ja alle Kriegsthaten der heldenhaften<lb/>
Altvordern verdunkeln.</p><lb/>
          <p>Von vornherein zeigten die Männer der Oppo&#x017F;itionsparteien das Ge-<lb/>
fühl ent&#x017F;chiedener Ueberlegenheit; &#x017F;ie trugen in &#x017F;ich das Bewußt&#x017F;ein einer<lb/>
großen Be&#x017F;timmung, &#x017F;ie hofften den preußi&#x017F;chen Staat durch die Aus-<lb/>
bildung der &#x017F;tändi&#x017F;chen In&#x017F;titutionen mit dem übrigen Deut&#x017F;chland zu be-<lb/>
freunden und ihm al&#x017F;o die Führung der Nation zu &#x017F;ichern. In den Sälen<lb/>
des Ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen und des Franzö&#x017F;i&#x017F;chen Hofes, wo die Oppo&#x017F;ition, noch ganz<lb/>
ohne Fractionszwang, ihre freien Vorbe&#x017F;prechungen zu halten pflegte, fanden<lb/>
&#x017F;ich auch manche Liberale von auswärts ein: Jacoby aus Königsberg, Graf<lb/>
Reichenbach, H. Simon und Stein aus Schle&#x017F;ien, Biedermann aus Leipzig,<lb/>
Be&#x017F;eler und andere Schleswighol&#x017F;teiner. Sie alle erwarteten von Preußens<lb/>
er&#x017F;tem Reichstage eine Wendung der deut&#x017F;chen Ge&#x017F;chicke, auch der junge<lb/>
Julian Schmidt wurde durch die Bewegung die&#x017F;er Tage von der Literatur<lb/>
zur Politik hinübergeführt. Zu den Sitzungen des Landtags &#x017F;elb&#x017F;t ließ<lb/>
der König keine Hörer zu, aber die Verhandlungen wurden voll&#x017F;tändig<lb/>
gedruckt, jetzt endlich mit Nennung der Redner, und obgleich die noch un-<lb/>
beholfenen Stenographen ihren Bericht mei&#x017F;tens er&#x017F;t nach acht Tagen fertig<lb/>
&#x017F;tellten, &#x017F;o folgten doch alle Gebildeten dem parlamentari&#x017F;chen Kampfe mit<lb/>
reger Theilnahme. Die Kölni&#x017F;che Zeitung ließ &#x017F;ich ihre Berliner Zeitungs-<lb/>
packete von Minden an durch eigene Stafetten zu&#x017F;enden nur um den<lb/>
Rheinländern den Landtagsbericht einen Tag vor den anderen Blättern<lb/>
darzubieten.</p><lb/>
          <p>Neben der Zuver&#x017F;icht der Oppo&#x017F;ition er&#x017F;chien die Haltung der Re-<lb/>
gierung von Haus aus &#x017F;chwächlich und un&#x017F;icher; die Mini&#x017F;ter befolgten<lb/>
getreulich die Befehle ihres königlichen Herrn, obgleich kein einziger unter<lb/>
ihnen mit den wunderlichen Plänen des Monarchen ganz einver&#x017F;tanden<lb/>
war. Und &#x017F;o fühlten &#x017F;ich auch die con&#x017F;ervativen Abgeordneten, die im<lb/>
Engli&#x017F;chen Hofe zu&#x017F;ammenkamen, beim be&#x017F;ten Willen die Krone zu unter-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[617/0631] Charakter des Vereinigten Landtags. Männern. Metternich ſelbſt war erſtaunt über die „parlamentariſche Ge- diegenheit“ dieſer jungen Verſammlung; man wußte im Auslande nicht, daß die meiſten der Abgeordneten keine Neulinge waren, ſondern ſchon ſeit Jahren in der beſcheidenen Schule der Provinziallandtage die Kunſt der Rede und der parlamentariſchen Taktik gelernt hatten und jetzt die Fülle der dort geſammelten Erfahrungen zur gemeinſamen Arbeit herbei- trugen. Noch überwog die ſchöne Beredſamkeit des Herzens, wie es in einer Zeit der Erwartung nicht anders ſein konnte; aber auch die Leiden- ſchaft hielt ſich faſt immer in den Schranken der guten Sitte, und nie- mals wieder hat Preußen ein ſo würdevolles Parlament geſehen. Von dem Monarchen ſprachen Alle mit tiefer Ehrfurcht, Manche mit über- ſchwänglicher Bewunderung, ein Redner der Oppoſition nannte Friedrich II. den größten König, welcher Preußen vor dem Jahre 1840 beherrſcht hätte; bei Hofe galt der Name Friedrich der Große faſt für unſchicklich, die neue Zeit friedlicher Weisheit ſollte ja alle Kriegsthaten der heldenhaften Altvordern verdunkeln. Von vornherein zeigten die Männer der Oppoſitionsparteien das Ge- fühl entſchiedener Ueberlegenheit; ſie trugen in ſich das Bewußtſein einer großen Beſtimmung, ſie hofften den preußiſchen Staat durch die Aus- bildung der ſtändiſchen Inſtitutionen mit dem übrigen Deutſchland zu be- freunden und ihm alſo die Führung der Nation zu ſichern. In den Sälen des Ruſſiſchen und des Franzöſiſchen Hofes, wo die Oppoſition, noch ganz ohne Fractionszwang, ihre freien Vorbeſprechungen zu halten pflegte, fanden ſich auch manche Liberale von auswärts ein: Jacoby aus Königsberg, Graf Reichenbach, H. Simon und Stein aus Schleſien, Biedermann aus Leipzig, Beſeler und andere Schleswigholſteiner. Sie alle erwarteten von Preußens erſtem Reichstage eine Wendung der deutſchen Geſchicke, auch der junge Julian Schmidt wurde durch die Bewegung dieſer Tage von der Literatur zur Politik hinübergeführt. Zu den Sitzungen des Landtags ſelbſt ließ der König keine Hörer zu, aber die Verhandlungen wurden vollſtändig gedruckt, jetzt endlich mit Nennung der Redner, und obgleich die noch un- beholfenen Stenographen ihren Bericht meiſtens erſt nach acht Tagen fertig ſtellten, ſo folgten doch alle Gebildeten dem parlamentariſchen Kampfe mit reger Theilnahme. Die Kölniſche Zeitung ließ ſich ihre Berliner Zeitungs- packete von Minden an durch eigene Stafetten zuſenden nur um den Rheinländern den Landtagsbericht einen Tag vor den anderen Blättern darzubieten. Neben der Zuverſicht der Oppoſition erſchien die Haltung der Re- gierung von Haus aus ſchwächlich und unſicher; die Miniſter befolgten getreulich die Befehle ihres königlichen Herrn, obgleich kein einziger unter ihnen mit den wunderlichen Plänen des Monarchen ganz einverſtanden war. Und ſo fühlten ſich auch die conſervativen Abgeordneten, die im Engliſchen Hofe zuſammenkamen, beim beſten Willen die Krone zu unter-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/631
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/631>, abgerufen am 24.11.2024.