Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

V. 8. Der Vereinigte Landtag.
gebildeten, germanisirten Juden nicht wünschen konnten als eine selb-
ständige Nation neben ihren deutschen Mitbürgern aufzutreten. Wurde
dieser Fehler noch ausgemerzt, so bot der Gesetzentwurf den Juden in
der Mehrzahl der neuen Provinzen unleugbar eine dankenswerthe Er-
leichterung. Sie erlangten fortan vollständige Gleichheit der bürger-
lichen Rechte und Pflichten; nur die landständischen Rechte, die eigentlich
obrigkeitlichen Aemter und ein Theil der Lehrerstellen blieben ihnen noch
versagt.

Preußens Judenschaft bestand aus sehr ungleichen Schichten. Zu ihr
zählten die großen und kleinen Geschäftsleute, darunter viele hochgeachtete;
sodann die buntgemischte Schaar der Gelehrten, Aerzte und Literaten, die
zum Theil durch ihre radicale Gesinnung den Behörden lästig, aber bürger-
lich achtbar waren. Dazu endlich ein entsetzlicher Pöbel, der außer einigen
ehrlichen armen Leuten eine Unzahl von Wucherern und Güterschlächtern,
Trödlern und Roßtäuschern, Schnaps- und Bordellwirthen, Factoren und
Schadchen, Hausirern und Schnorrern, Hehlern und Stehlern umfaßte;
die deutsche Gaunersprache war ja mit hebräischen Worten überladen.
Diese Hefe des Judenthums saß vornehmlich im Großherzogthum Posen,
in ihr hatte sich aller Schmutz der polnischen Geschichte abgelagert; deutsch
war an diesen Leuten mit dem stinkenden Kaftan und den Locken des
Gesetzes noch nichts als ihre abscheulich verhunzte Sprache. Darum hatte
der preußische Staat die Judenschaft Posens von jeher nach besonderen
Gesetzen behandelt und sie neuerdings (1833) förmlich in naturalisirte
Juden und Schutzjuden eingetheilt. Der Schutzjude durfte weder das
Bürgerrecht in den Gemeinden erwerben noch in eine andere Provinz
übersiedeln; wenn er aber ein ehrbares bürgerliches Gewerbe trieb oder
ein kleines Landgut bewirthschaftete oder seine Wehrpflicht untadelhaft
erfüllte oder auch nur von den Ortsbehörden ein Zeugniß der Würdigkeit
erhielt, dann erlangte er leicht die Naturalisation und damit alle Rechte
der Juden in den alten Provinzen. Diese auf Betrieb des liberalen Ober-
präsidenten Flottwell ergangene Verordnung wirkte sehr wohlthätig; die
besseren der kleinen Posenschen Juden suchten sich an deutsche Sitte und
geregelte Arbeit zu gewöhnen um dadurch zur Naturalisation zu gelangen.
Währte diese heilsame Beschränkung noch eine Reihe von Jahren hindurch,
dann konnte man vielleicht hoffen, die jüdische Einwanderung nach Berlin
und den Nachbarprovinzen, die sich auf die Dauer doch nicht abwenden ließ,
einigermaßen zu regeln, so daß sie nicht zur offenbaren Landplage wurde.
Die Schranke plötzlich hinwegzunehmen war schon darum unrathsam,
weil die Juden aus dem russischen Polen, die noch viel tiefer standen
als ihre Posener Stammgenossen, bereits gierig nachdrängten und ihr
Einbruch schwer zu hindern war. Auch die Ausschließung der Juden
von den Staatsämtern entsprach unzweifelhaft der im Volke vorherrschen-
den Gesinnung, denn alle Obrigkeit bedarf des Ansehens und des Ver-

V. 8. Der Vereinigte Landtag.
gebildeten, germaniſirten Juden nicht wünſchen konnten als eine ſelb-
ſtändige Nation neben ihren deutſchen Mitbürgern aufzutreten. Wurde
dieſer Fehler noch ausgemerzt, ſo bot der Geſetzentwurf den Juden in
der Mehrzahl der neuen Provinzen unleugbar eine dankenswerthe Er-
leichterung. Sie erlangten fortan vollſtändige Gleichheit der bürger-
lichen Rechte und Pflichten; nur die landſtändiſchen Rechte, die eigentlich
obrigkeitlichen Aemter und ein Theil der Lehrerſtellen blieben ihnen noch
verſagt.

Preußens Judenſchaft beſtand aus ſehr ungleichen Schichten. Zu ihr
zählten die großen und kleinen Geſchäftsleute, darunter viele hochgeachtete;
ſodann die buntgemiſchte Schaar der Gelehrten, Aerzte und Literaten, die
zum Theil durch ihre radicale Geſinnung den Behörden läſtig, aber bürger-
lich achtbar waren. Dazu endlich ein entſetzlicher Pöbel, der außer einigen
ehrlichen armen Leuten eine Unzahl von Wucherern und Güterſchlächtern,
Trödlern und Roßtäuſchern, Schnaps- und Bordellwirthen, Factoren und
Schadchen, Hauſirern und Schnorrern, Hehlern und Stehlern umfaßte;
die deutſche Gaunerſprache war ja mit hebräiſchen Worten überladen.
Dieſe Hefe des Judenthums ſaß vornehmlich im Großherzogthum Poſen,
in ihr hatte ſich aller Schmutz der polniſchen Geſchichte abgelagert; deutſch
war an dieſen Leuten mit dem ſtinkenden Kaftan und den Locken des
Geſetzes noch nichts als ihre abſcheulich verhunzte Sprache. Darum hatte
der preußiſche Staat die Judenſchaft Poſens von jeher nach beſonderen
Geſetzen behandelt und ſie neuerdings (1833) förmlich in naturaliſirte
Juden und Schutzjuden eingetheilt. Der Schutzjude durfte weder das
Bürgerrecht in den Gemeinden erwerben noch in eine andere Provinz
überſiedeln; wenn er aber ein ehrbares bürgerliches Gewerbe trieb oder
ein kleines Landgut bewirthſchaftete oder ſeine Wehrpflicht untadelhaft
erfüllte oder auch nur von den Ortsbehörden ein Zeugniß der Würdigkeit
erhielt, dann erlangte er leicht die Naturaliſation und damit alle Rechte
der Juden in den alten Provinzen. Dieſe auf Betrieb des liberalen Ober-
präſidenten Flottwell ergangene Verordnung wirkte ſehr wohlthätig; die
beſſeren der kleinen Poſenſchen Juden ſuchten ſich an deutſche Sitte und
geregelte Arbeit zu gewöhnen um dadurch zur Naturaliſation zu gelangen.
Währte dieſe heilſame Beſchränkung noch eine Reihe von Jahren hindurch,
dann konnte man vielleicht hoffen, die jüdiſche Einwanderung nach Berlin
und den Nachbarprovinzen, die ſich auf die Dauer doch nicht abwenden ließ,
einigermaßen zu regeln, ſo daß ſie nicht zur offenbaren Landplage wurde.
Die Schranke plötzlich hinwegzunehmen war ſchon darum unrathſam,
weil die Juden aus dem ruſſiſchen Polen, die noch viel tiefer ſtanden
als ihre Poſener Stammgenoſſen, bereits gierig nachdrängten und ihr
Einbruch ſchwer zu hindern war. Auch die Ausſchließung der Juden
von den Staatsämtern entſprach unzweifelhaft der im Volke vorherrſchen-
den Geſinnung, denn alle Obrigkeit bedarf des Anſehens und des Ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0644" n="630"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 8. Der Vereinigte Landtag.</fw><lb/>
gebildeten, germani&#x017F;irten Juden nicht wün&#x017F;chen konnten als eine &#x017F;elb-<lb/>
&#x017F;tändige Nation neben ihren deut&#x017F;chen Mitbürgern aufzutreten. Wurde<lb/>
die&#x017F;er Fehler noch ausgemerzt, &#x017F;o bot der Ge&#x017F;etzentwurf den Juden in<lb/>
der Mehrzahl der neuen Provinzen unleugbar eine dankenswerthe Er-<lb/>
leichterung. Sie erlangten fortan voll&#x017F;tändige Gleichheit der bürger-<lb/>
lichen Rechte und Pflichten; nur die land&#x017F;tändi&#x017F;chen Rechte, die eigentlich<lb/>
obrigkeitlichen Aemter und ein Theil der Lehrer&#x017F;tellen blieben ihnen noch<lb/>
ver&#x017F;agt.</p><lb/>
          <p>Preußens Juden&#x017F;chaft be&#x017F;tand aus &#x017F;ehr ungleichen Schichten. Zu ihr<lb/>
zählten die großen und kleinen Ge&#x017F;chäftsleute, darunter viele hochgeachtete;<lb/>
&#x017F;odann die buntgemi&#x017F;chte Schaar der Gelehrten, Aerzte und Literaten, die<lb/>
zum Theil durch ihre radicale Ge&#x017F;innung den Behörden lä&#x017F;tig, aber bürger-<lb/>
lich achtbar waren. Dazu endlich ein ent&#x017F;etzlicher Pöbel, der außer einigen<lb/>
ehrlichen armen Leuten eine Unzahl von Wucherern und Güter&#x017F;chlächtern,<lb/>
Trödlern und Roßtäu&#x017F;chern, Schnaps- und Bordellwirthen, Factoren und<lb/>
Schadchen, Hau&#x017F;irern und Schnorrern, Hehlern und Stehlern umfaßte;<lb/>
die deut&#x017F;che Gauner&#x017F;prache war ja mit hebräi&#x017F;chen Worten überladen.<lb/>
Die&#x017F;e Hefe des Judenthums &#x017F;aß vornehmlich im Großherzogthum Po&#x017F;en,<lb/>
in ihr hatte &#x017F;ich aller Schmutz der polni&#x017F;chen Ge&#x017F;chichte abgelagert; deut&#x017F;ch<lb/>
war an die&#x017F;en Leuten mit dem &#x017F;tinkenden Kaftan und den Locken des<lb/>
Ge&#x017F;etzes noch nichts als ihre ab&#x017F;cheulich verhunzte Sprache. Darum hatte<lb/>
der preußi&#x017F;che Staat die Juden&#x017F;chaft Po&#x017F;ens von jeher nach be&#x017F;onderen<lb/>
Ge&#x017F;etzen behandelt und &#x017F;ie neuerdings (1833) förmlich in naturali&#x017F;irte<lb/>
Juden und Schutzjuden eingetheilt. Der Schutzjude durfte weder das<lb/>
Bürgerrecht in den Gemeinden erwerben noch in eine andere Provinz<lb/>
über&#x017F;iedeln; wenn er aber ein ehrbares bürgerliches Gewerbe trieb oder<lb/>
ein kleines Landgut bewirth&#x017F;chaftete oder &#x017F;eine Wehrpflicht untadelhaft<lb/>
erfüllte oder auch nur von den Ortsbehörden ein Zeugniß der Würdigkeit<lb/>
erhielt, dann erlangte er leicht die Naturali&#x017F;ation und damit alle Rechte<lb/>
der Juden in den alten Provinzen. Die&#x017F;e auf Betrieb des liberalen Ober-<lb/>
prä&#x017F;identen Flottwell ergangene Verordnung wirkte &#x017F;ehr wohlthätig; die<lb/>
be&#x017F;&#x017F;eren der kleinen Po&#x017F;en&#x017F;chen Juden &#x017F;uchten &#x017F;ich an deut&#x017F;che Sitte und<lb/>
geregelte Arbeit zu gewöhnen um dadurch zur Naturali&#x017F;ation zu gelangen.<lb/>
Währte die&#x017F;e heil&#x017F;ame Be&#x017F;chränkung noch eine Reihe von Jahren hindurch,<lb/>
dann konnte man vielleicht hoffen, die jüdi&#x017F;che Einwanderung nach Berlin<lb/>
und den Nachbarprovinzen, die &#x017F;ich auf die Dauer doch nicht abwenden ließ,<lb/>
einigermaßen zu regeln, &#x017F;o daß &#x017F;ie nicht zur offenbaren Landplage wurde.<lb/>
Die Schranke plötzlich hinwegzunehmen war &#x017F;chon darum unrath&#x017F;am,<lb/>
weil die Juden aus dem ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Polen, die noch viel tiefer &#x017F;tanden<lb/>
als ihre Po&#x017F;ener Stammgeno&#x017F;&#x017F;en, bereits gierig nachdrängten und ihr<lb/>
Einbruch &#x017F;chwer zu hindern war. Auch die Aus&#x017F;chließung der Juden<lb/>
von den Staatsämtern ent&#x017F;prach unzweifelhaft der im Volke vorherr&#x017F;chen-<lb/>
den Ge&#x017F;innung, denn alle Obrigkeit bedarf des An&#x017F;ehens und des Ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[630/0644] V. 8. Der Vereinigte Landtag. gebildeten, germaniſirten Juden nicht wünſchen konnten als eine ſelb- ſtändige Nation neben ihren deutſchen Mitbürgern aufzutreten. Wurde dieſer Fehler noch ausgemerzt, ſo bot der Geſetzentwurf den Juden in der Mehrzahl der neuen Provinzen unleugbar eine dankenswerthe Er- leichterung. Sie erlangten fortan vollſtändige Gleichheit der bürger- lichen Rechte und Pflichten; nur die landſtändiſchen Rechte, die eigentlich obrigkeitlichen Aemter und ein Theil der Lehrerſtellen blieben ihnen noch verſagt. Preußens Judenſchaft beſtand aus ſehr ungleichen Schichten. Zu ihr zählten die großen und kleinen Geſchäftsleute, darunter viele hochgeachtete; ſodann die buntgemiſchte Schaar der Gelehrten, Aerzte und Literaten, die zum Theil durch ihre radicale Geſinnung den Behörden läſtig, aber bürger- lich achtbar waren. Dazu endlich ein entſetzlicher Pöbel, der außer einigen ehrlichen armen Leuten eine Unzahl von Wucherern und Güterſchlächtern, Trödlern und Roßtäuſchern, Schnaps- und Bordellwirthen, Factoren und Schadchen, Hauſirern und Schnorrern, Hehlern und Stehlern umfaßte; die deutſche Gaunerſprache war ja mit hebräiſchen Worten überladen. Dieſe Hefe des Judenthums ſaß vornehmlich im Großherzogthum Poſen, in ihr hatte ſich aller Schmutz der polniſchen Geſchichte abgelagert; deutſch war an dieſen Leuten mit dem ſtinkenden Kaftan und den Locken des Geſetzes noch nichts als ihre abſcheulich verhunzte Sprache. Darum hatte der preußiſche Staat die Judenſchaft Poſens von jeher nach beſonderen Geſetzen behandelt und ſie neuerdings (1833) förmlich in naturaliſirte Juden und Schutzjuden eingetheilt. Der Schutzjude durfte weder das Bürgerrecht in den Gemeinden erwerben noch in eine andere Provinz überſiedeln; wenn er aber ein ehrbares bürgerliches Gewerbe trieb oder ein kleines Landgut bewirthſchaftete oder ſeine Wehrpflicht untadelhaft erfüllte oder auch nur von den Ortsbehörden ein Zeugniß der Würdigkeit erhielt, dann erlangte er leicht die Naturaliſation und damit alle Rechte der Juden in den alten Provinzen. Dieſe auf Betrieb des liberalen Ober- präſidenten Flottwell ergangene Verordnung wirkte ſehr wohlthätig; die beſſeren der kleinen Poſenſchen Juden ſuchten ſich an deutſche Sitte und geregelte Arbeit zu gewöhnen um dadurch zur Naturaliſation zu gelangen. Währte dieſe heilſame Beſchränkung noch eine Reihe von Jahren hindurch, dann konnte man vielleicht hoffen, die jüdiſche Einwanderung nach Berlin und den Nachbarprovinzen, die ſich auf die Dauer doch nicht abwenden ließ, einigermaßen zu regeln, ſo daß ſie nicht zur offenbaren Landplage wurde. Die Schranke plötzlich hinwegzunehmen war ſchon darum unrathſam, weil die Juden aus dem ruſſiſchen Polen, die noch viel tiefer ſtanden als ihre Poſener Stammgenoſſen, bereits gierig nachdrängten und ihr Einbruch ſchwer zu hindern war. Auch die Ausſchließung der Juden von den Staatsämtern entſprach unzweifelhaft der im Volke vorherrſchen- den Geſinnung, denn alle Obrigkeit bedarf des Anſehens und des Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/644
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/644>, abgerufen am 24.11.2024.