neue Erzbischof Vicari um diese Zeit zuerst nach Constanz kam, da ge- riethen seine Anhänger mit den Gegnern in wüste Raufhändel.
Erstaunt über den Sturm der clericalen Petitionen aus dem Ober- lande, entschloß sich der Großherzog nunmehr zu einem unbegreiflichen Mißgriff. Er löste im Febr. 1846 die Kammer auf, ohne jeden genügen- den Grund, wohl in der Hoffnung die liberale Opposition zu schwächen. Die Rechnung trog gänzlich. Nach einem abermaligen heftigen Wahl- kampfe gewannen die Clericalen nur einen einzigen neuen Abgeordneten, den unglücklichen Buß; der aber wurde durch Mathy an seine radicale Vergangenheit so nachdrücklich erinnert, und als er dreist ableugnete, so schmählich überführt, daß ihn die Kammer fortan kaum noch anhören mochte. Stärker denn je zuvor kehrten die Liberalen in den Landtag zurück, und sie traten, wie billig, der rathlosen Regierung sehr scharf entgegen. Mit der nahenden Revolution zu drohen war in dieser Kammer schon von langeher üblich, Welcker vornehmlich pflegte solche Schreckbilder fast in jeder Rede vorzuführen. Jetzt aber warnte auch Mathy, der nie ein unbedachtes Wort sprach, als der Antrag auf Preßfreiheit zum neunten male gestellt wurde: "Ich kann mich der Ahnung nicht entschlagen, daß diesem neunten Antrage nicht eine gleiche Anzahl folgen, daß die Zeit nicht mehr fern sein werde, wo über Tag oder Nacht, über Leben oder Tod die Ent- scheidung fällt." Mochte auch Nebenius diesen "unwürdigen Ton" entrüstet zurückweisen, am Hofe selbst ahnte man doch endlich, daß die unverkenn- bar liberale Gesinnung des Landes nur durch ein liberales Ministerium befriedigt werden konnte. Das wohlhabende Land blieb von den Hunger- krawallen dieser Theuerungsjahre fast ganz verschont, gleichwohl fühlte Jeder- mann die allgemeine Aufregung. Sogar Blittersdorff äußerte sich von Frankfurt her in diesem Sinne; seine Hoffnung war freilich, die Liberalen würden ihre Unfähigkeit zum Regieren bald zeigen und dann, rasch ver- nutzt, einem reactionären Ministerium weichen müssen. Auch Radowitz, dessen Rath der Großherzog immer wieder einholte, widersprach nicht grade- zu, obgleich er auch jetzt noch in dem Wahne lebte, man könne auf ge- setzlichem Wege zu einer Verfassungsänderung gelangen.*) Entscheidend jedoch war, daß Nebenius selbst wünschte, das Ruder des Staates an kräftigere Hände abzugeben.
So wurde denn endlich (Dec. 1846) Staatsrath Bekk, der schon seit einiger Zeit dem Ministerium angehörte, an die Spitze der Regierung gestellt, ein tüchtiger Jurist und wirksamer Kammerredner von gemäßigt liberaler, aufrichtig katholischer Gesinnung; er gehörte zu der alten guten Winter'schen Beamtenschule und hatte sich durch Gerechtigkeit und Milde allgemeine Achtung erworben. Die gröbste Willkür der Censoren und der Polizeibehörden hörte nunmehr auf; es war Bekk's Verdienst, daß die Ge-
*) Radowitz's Bericht, 10. Dec. 1846.
V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
neue Erzbiſchof Vicari um dieſe Zeit zuerſt nach Conſtanz kam, da ge- riethen ſeine Anhänger mit den Gegnern in wüſte Raufhändel.
Erſtaunt über den Sturm der clericalen Petitionen aus dem Ober- lande, entſchloß ſich der Großherzog nunmehr zu einem unbegreiflichen Mißgriff. Er löſte im Febr. 1846 die Kammer auf, ohne jeden genügen- den Grund, wohl in der Hoffnung die liberale Oppoſition zu ſchwächen. Die Rechnung trog gänzlich. Nach einem abermaligen heftigen Wahl- kampfe gewannen die Clericalen nur einen einzigen neuen Abgeordneten, den unglücklichen Buß; der aber wurde durch Mathy an ſeine radicale Vergangenheit ſo nachdrücklich erinnert, und als er dreiſt ableugnete, ſo ſchmählich überführt, daß ihn die Kammer fortan kaum noch anhören mochte. Stärker denn je zuvor kehrten die Liberalen in den Landtag zurück, und ſie traten, wie billig, der rathloſen Regierung ſehr ſcharf entgegen. Mit der nahenden Revolution zu drohen war in dieſer Kammer ſchon von langeher üblich, Welcker vornehmlich pflegte ſolche Schreckbilder faſt in jeder Rede vorzuführen. Jetzt aber warnte auch Mathy, der nie ein unbedachtes Wort ſprach, als der Antrag auf Preßfreiheit zum neunten male geſtellt wurde: „Ich kann mich der Ahnung nicht entſchlagen, daß dieſem neunten Antrage nicht eine gleiche Anzahl folgen, daß die Zeit nicht mehr fern ſein werde, wo über Tag oder Nacht, über Leben oder Tod die Ent- ſcheidung fällt.“ Mochte auch Nebenius dieſen „unwürdigen Ton“ entrüſtet zurückweiſen, am Hofe ſelbſt ahnte man doch endlich, daß die unverkenn- bar liberale Geſinnung des Landes nur durch ein liberales Miniſterium befriedigt werden konnte. Das wohlhabende Land blieb von den Hunger- krawallen dieſer Theuerungsjahre faſt ganz verſchont, gleichwohl fühlte Jeder- mann die allgemeine Aufregung. Sogar Blittersdorff äußerte ſich von Frankfurt her in dieſem Sinne; ſeine Hoffnung war freilich, die Liberalen würden ihre Unfähigkeit zum Regieren bald zeigen und dann, raſch ver- nutzt, einem reactionären Miniſterium weichen müſſen. Auch Radowitz, deſſen Rath der Großherzog immer wieder einholte, widerſprach nicht grade- zu, obgleich er auch jetzt noch in dem Wahne lebte, man könne auf ge- ſetzlichem Wege zu einer Verfaſſungsänderung gelangen.*) Entſcheidend jedoch war, daß Nebenius ſelbſt wünſchte, das Ruder des Staates an kräftigere Hände abzugeben.
So wurde denn endlich (Dec. 1846) Staatsrath Bekk, der ſchon ſeit einiger Zeit dem Miniſterium angehörte, an die Spitze der Regierung geſtellt, ein tüchtiger Juriſt und wirkſamer Kammerredner von gemäßigt liberaler, aufrichtig katholiſcher Geſinnung; er gehörte zu der alten guten Winter’ſchen Beamtenſchule und hatte ſich durch Gerechtigkeit und Milde allgemeine Achtung erworben. Die gröbſte Willkür der Cenſoren und der Polizeibehörden hörte nunmehr auf; es war Bekk’s Verdienſt, daß die Ge-
*) Radowitz’s Bericht, 10. Dec. 1846.
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neue Erzbiſchof Vicari um dieſe Zeit zuerſt nach Conſtanz kam, da ge-
riethen ſeine Anhänger mit den Gegnern in wüſte Raufhändel.
Erſtaunt über den Sturm der clericalen Petitionen aus dem Ober-
lande, entſchloß ſich der Großherzog nunmehr zu einem unbegreiflichen
Mißgriff. Er löſte im Febr. 1846 die Kammer auf, ohne jeden genügen-
den Grund, wohl in der Hoffnung die liberale Oppoſition zu ſchwächen.
Die Rechnung trog gänzlich. Nach einem abermaligen heftigen Wahl-
kampfe gewannen die Clericalen nur einen einzigen neuen Abgeordneten,
den unglücklichen Buß; der aber wurde durch Mathy an ſeine radicale
Vergangenheit ſo nachdrücklich erinnert, und als er dreiſt ableugnete,
ſo ſchmählich überführt, daß ihn die Kammer fortan kaum noch anhören
mochte. Stärker denn je zuvor kehrten die Liberalen in den Landtag
zurück, und ſie traten, wie billig, der rathloſen Regierung ſehr ſcharf
entgegen. Mit der nahenden Revolution zu drohen war in dieſer Kammer
ſchon von langeher üblich, Welcker vornehmlich pflegte ſolche Schreckbilder
faſt in jeder Rede vorzuführen. Jetzt aber warnte auch Mathy, der nie ein
unbedachtes Wort ſprach, als der Antrag auf Preßfreiheit zum neunten male
geſtellt wurde: „Ich kann mich der Ahnung nicht entſchlagen, daß dieſem
neunten Antrage nicht eine gleiche Anzahl folgen, daß die Zeit nicht mehr
fern ſein werde, wo über Tag oder Nacht, über Leben oder Tod die Ent-
ſcheidung fällt.“ Mochte auch Nebenius dieſen „unwürdigen Ton“ entrüſtet
zurückweiſen, am Hofe ſelbſt ahnte man doch endlich, daß die unverkenn-
bar liberale Geſinnung des Landes nur durch ein liberales Miniſterium
befriedigt werden konnte. Das wohlhabende Land blieb von den Hunger-
krawallen dieſer Theuerungsjahre faſt ganz verſchont, gleichwohl fühlte Jeder-
mann die allgemeine Aufregung. Sogar Blittersdorff äußerte ſich von
Frankfurt her in dieſem Sinne; ſeine Hoffnung war freilich, die Liberalen
würden ihre Unfähigkeit zum Regieren bald zeigen und dann, raſch ver-
nutzt, einem reactionären Miniſterium weichen müſſen. Auch Radowitz,
deſſen Rath der Großherzog immer wieder einholte, widerſprach nicht grade-
zu, obgleich er auch jetzt noch in dem Wahne lebte, man könne auf ge-
ſetzlichem Wege zu einer Verfaſſungsänderung gelangen. *) Entſcheidend
jedoch war, daß Nebenius ſelbſt wünſchte, das Ruder des Staates an
kräftigere Hände abzugeben.
So wurde denn endlich (Dec. 1846) Staatsrath Bekk, der ſchon ſeit
einiger Zeit dem Miniſterium angehörte, an die Spitze der Regierung
geſtellt, ein tüchtiger Juriſt und wirkſamer Kammerredner von gemäßigt
liberaler, aufrichtig katholiſcher Geſinnung; er gehörte zu der alten guten
Winter’ſchen Beamtenſchule und hatte ſich durch Gerechtigkeit und Milde
allgemeine Achtung erworben. Die gröbſte Willkür der Cenſoren und der
Polizeibehörden hörte nunmehr auf; es war Bekk’s Verdienſt, daß die Ge-
*) Radowitz’s Bericht, 10. Dec. 1846.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/692>, abgerufen am 22.11.2024.
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