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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.
zelnen Cantonen feindlichen Bünde ausdrücklich verbot, und noch mehr
der durch so viele bürgerliche Kriege theuer errungenen kirchlichen Parität.
Dieselben Cantone, welche einst den Kampf gegen Zwingli geführt und nach-
her unter Oesterreichs Schutze den Borromäischen Bund gestiftet hatten,
bildeten den Kern des neuen Sonderbundes, und an ihrer Spitze standen
die fanatischen Luzerner Clericalen Siegwart Müller und Bernhard Meyer.
Es zeigte sich wieder, daß die Schweiz in manchem Sinne das conservativste
Land Europas ist; der Eidgenossenschaft drohte ein Religionskrieg, wie er
bei anderen Völkern des Welttheils längst nicht mehr möglich war. Wider
den Sonderbund bot nun die radicale Partei jedes Mittel auf; Bluntschli
und seine Züricher Conservativ-Liberalen unterlagen, für Vermittler war
kein Raum mehr, Ochsenbein und die radicalen Berner behaupteten die
Führung, und nach einer Staatsumwälzung im Canton St. Gallen ward
endlich die knappe Mehrheit der Tagsatzung für die Gegner des Sonder-
bundes gewonnen. Douze voix font loi, jubelten die Radicalen.

Die zwölf Stimmen der Mehrheit waren entschlossen, die Jesuiten als
Störer des confessionellen Friedens aus der Eidgenossenschaft zu vertreiben,
den Sonderbund aufzulösen, die Bundesgewalt zu verstärken. Zu so durch-
greifenden Beschlüssen verlangte aber das Bundesrecht Einstimmigkeit oder
Dreiviertelmehrheit der Tagsatzung; hier wie im Deutschen Bunde ward
jede ernste gesetzliche Reform durch ein unvernünftiges Grundgesetz ver-
hindert. Auf den Buchstaben des Bundesrechts konnte sich mithin keine
der beiden Parteien berufen; die Radicalen kämpften jedoch, was sie auch
durch Parteihaß gesündigt haben mochten, für den berechtigten, conservativen
Gedanken der schweizerischen Bundeseinheit, die durch den Sonderbund
unfehlbar zerstört werden mußte. Darum boten auch, als der Bürger-
krieg nahte, der conservative General Dufour von Genf und die gleich-
gesinnten Obersten Burckhardt, Ziegler, Donats der radicalen Zwölfer-
mehrheit sofort ihre Dienste an; und zu den erklärten Radicalen, Ochsen-
bein von Bern, Druey vom Waadtlande gesellten sich republikanische
Staatsmänner von gemäßigter bürgerlich-demokratischer Gesinnung, wie
Munzinger von Solothurn, Furrer von Zürich, Näff von St. Gallen,
Kern und Andere. Einheit oder Zerfall? -- so stand die Frage. Der
Ausgang des Krieges konnte kaum zweifelhaft sei, da die Cantone der
Zwölfermehrheit den Sonderbund von allen Seiten her umklammert hielten,
an Geldmitteln und Kopfzahl ihn fast um das Vierfache übertrafen; die
Zeit war auch längst dahin, da die vier Waldstädte in den Schaaren ihrer
kampferfahrenen alten Reisläufer die beste kriegerische Kraft der Schweiz
besessen hatten.

Mit einer blinden Gehässigkeit, die an die Tage der Karlsbader
Beschlüsse erinnerte, beurtheilten die Höfe von Wien, Berlin und Paris
diese für Ausländer wahrlich schwer verständlichen schweizerischen Wirren.
Der Czar hielt sich etwas zurück, er wollte mit England nicht brechen,

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
zelnen Cantonen feindlichen Bünde ausdrücklich verbot, und noch mehr
der durch ſo viele bürgerliche Kriege theuer errungenen kirchlichen Parität.
Dieſelben Cantone, welche einſt den Kampf gegen Zwingli geführt und nach-
her unter Oeſterreichs Schutze den Borromäiſchen Bund geſtiftet hatten,
bildeten den Kern des neuen Sonderbundes, und an ihrer Spitze ſtanden
die fanatiſchen Luzerner Clericalen Siegwart Müller und Bernhard Meyer.
Es zeigte ſich wieder, daß die Schweiz in manchem Sinne das conſervativſte
Land Europas iſt; der Eidgenoſſenſchaft drohte ein Religionskrieg, wie er
bei anderen Völkern des Welttheils längſt nicht mehr möglich war. Wider
den Sonderbund bot nun die radicale Partei jedes Mittel auf; Bluntſchli
und ſeine Züricher Conſervativ-Liberalen unterlagen, für Vermittler war
kein Raum mehr, Ochſenbein und die radicalen Berner behaupteten die
Führung, und nach einer Staatsumwälzung im Canton St. Gallen ward
endlich die knappe Mehrheit der Tagſatzung für die Gegner des Sonder-
bundes gewonnen. Douze voix font loi, jubelten die Radicalen.

Die zwölf Stimmen der Mehrheit waren entſchloſſen, die Jeſuiten als
Störer des confeſſionellen Friedens aus der Eidgenoſſenſchaft zu vertreiben,
den Sonderbund aufzulöſen, die Bundesgewalt zu verſtärken. Zu ſo durch-
greifenden Beſchlüſſen verlangte aber das Bundesrecht Einſtimmigkeit oder
Dreiviertelmehrheit der Tagſatzung; hier wie im Deutſchen Bunde ward
jede ernſte geſetzliche Reform durch ein unvernünftiges Grundgeſetz ver-
hindert. Auf den Buchſtaben des Bundesrechts konnte ſich mithin keine
der beiden Parteien berufen; die Radicalen kämpften jedoch, was ſie auch
durch Parteihaß geſündigt haben mochten, für den berechtigten, conſervativen
Gedanken der ſchweizeriſchen Bundeseinheit, die durch den Sonderbund
unfehlbar zerſtört werden mußte. Darum boten auch, als der Bürger-
krieg nahte, der conſervative General Dufour von Genf und die gleich-
geſinnten Oberſten Burckhardt, Ziegler, Donats der radicalen Zwölfer-
mehrheit ſofort ihre Dienſte an; und zu den erklärten Radicalen, Ochſen-
bein von Bern, Druey vom Waadtlande geſellten ſich republikaniſche
Staatsmänner von gemäßigter bürgerlich-demokratiſcher Geſinnung, wie
Munzinger von Solothurn, Furrer von Zürich, Näff von St. Gallen,
Kern und Andere. Einheit oder Zerfall? — ſo ſtand die Frage. Der
Ausgang des Krieges konnte kaum zweifelhaft ſei, da die Cantone der
Zwölfermehrheit den Sonderbund von allen Seiten her umklammert hielten,
an Geldmitteln und Kopfzahl ihn faſt um das Vierfache übertrafen; die
Zeit war auch längſt dahin, da die vier Waldſtädte in den Schaaren ihrer
kampferfahrenen alten Reisläufer die beſte kriegeriſche Kraft der Schweiz
beſeſſen hatten.

Mit einer blinden Gehäſſigkeit, die an die Tage der Karlsbader
Beſchlüſſe erinnerte, beurtheilten die Höfe von Wien, Berlin und Paris
dieſe für Ausländer wahrlich ſchwer verſtändlichen ſchweizeriſchen Wirren.
Der Czar hielt ſich etwas zurück, er wollte mit England nicht brechen,

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[728/0742] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. zelnen Cantonen feindlichen Bünde ausdrücklich verbot, und noch mehr der durch ſo viele bürgerliche Kriege theuer errungenen kirchlichen Parität. Dieſelben Cantone, welche einſt den Kampf gegen Zwingli geführt und nach- her unter Oeſterreichs Schutze den Borromäiſchen Bund geſtiftet hatten, bildeten den Kern des neuen Sonderbundes, und an ihrer Spitze ſtanden die fanatiſchen Luzerner Clericalen Siegwart Müller und Bernhard Meyer. Es zeigte ſich wieder, daß die Schweiz in manchem Sinne das conſervativſte Land Europas iſt; der Eidgenoſſenſchaft drohte ein Religionskrieg, wie er bei anderen Völkern des Welttheils längſt nicht mehr möglich war. Wider den Sonderbund bot nun die radicale Partei jedes Mittel auf; Bluntſchli und ſeine Züricher Conſervativ-Liberalen unterlagen, für Vermittler war kein Raum mehr, Ochſenbein und die radicalen Berner behaupteten die Führung, und nach einer Staatsumwälzung im Canton St. Gallen ward endlich die knappe Mehrheit der Tagſatzung für die Gegner des Sonder- bundes gewonnen. Douze voix font loi, jubelten die Radicalen. Die zwölf Stimmen der Mehrheit waren entſchloſſen, die Jeſuiten als Störer des confeſſionellen Friedens aus der Eidgenoſſenſchaft zu vertreiben, den Sonderbund aufzulöſen, die Bundesgewalt zu verſtärken. Zu ſo durch- greifenden Beſchlüſſen verlangte aber das Bundesrecht Einſtimmigkeit oder Dreiviertelmehrheit der Tagſatzung; hier wie im Deutſchen Bunde ward jede ernſte geſetzliche Reform durch ein unvernünftiges Grundgeſetz ver- hindert. Auf den Buchſtaben des Bundesrechts konnte ſich mithin keine der beiden Parteien berufen; die Radicalen kämpften jedoch, was ſie auch durch Parteihaß geſündigt haben mochten, für den berechtigten, conſervativen Gedanken der ſchweizeriſchen Bundeseinheit, die durch den Sonderbund unfehlbar zerſtört werden mußte. Darum boten auch, als der Bürger- krieg nahte, der conſervative General Dufour von Genf und die gleich- geſinnten Oberſten Burckhardt, Ziegler, Donats der radicalen Zwölfer- mehrheit ſofort ihre Dienſte an; und zu den erklärten Radicalen, Ochſen- bein von Bern, Druey vom Waadtlande geſellten ſich republikaniſche Staatsmänner von gemäßigter bürgerlich-demokratiſcher Geſinnung, wie Munzinger von Solothurn, Furrer von Zürich, Näff von St. Gallen, Kern und Andere. Einheit oder Zerfall? — ſo ſtand die Frage. Der Ausgang des Krieges konnte kaum zweifelhaft ſei, da die Cantone der Zwölfermehrheit den Sonderbund von allen Seiten her umklammert hielten, an Geldmitteln und Kopfzahl ihn faſt um das Vierfache übertrafen; die Zeit war auch längſt dahin, da die vier Waldſtädte in den Schaaren ihrer kampferfahrenen alten Reisläufer die beſte kriegeriſche Kraft der Schweiz beſeſſen hatten. Mit einer blinden Gehäſſigkeit, die an die Tage der Karlsbader Beſchlüſſe erinnerte, beurtheilten die Höfe von Wien, Berlin und Paris dieſe für Ausländer wahrlich ſchwer verſtändlichen ſchweizeriſchen Wirren. Der Czar hielt ſich etwas zurück, er wollte mit England nicht brechen,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 728. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/742>, abgerufen am 22.11.2024.