desreform, und in der Schweiz bekämpfte er leidenschaftlich politische Ge- danken, die doch schließlich auf dasselbe Ziel hinausgingen. Wie oft hatte sein Vater einst jeden Eingriff der Westmächte in die deutsche Bundespolitik tapfer zurückgewiesen, obgleich die Hauptartikel der Deutschen Bundesver- fassung doch auch in der Wiener Congreßacte verzeichnet standen; und nun verlangte der Sohn gemeinsamen Kampf der Großmächte für die unbe- schränkte Souveränität von Uri, Schwyz und Unterwalden! Selbst General Gerlach, der die "germanomanischen" Bundesreformpläne seines königlichen Herrn schon viel zu kühn fand, konnte die unabweisbare Frage nicht unterdrücken: mit welchem Rechte dürfen wir die Westmächte der deutschen Bundesreform fern halten, wenn wir sie selbst zur Einmischung in die schweizerischen Bundeshändel auffordern?
Während der König also von einem großen Kreuzzuge der europäischen Legitimität wider die radicalen Eidgenossen träumte, verabsäumte er seine nächsten landesherrlichen Pflichten gegen das Juraländchen, das seinem Herzen am theuersten war und seine schweizerische Politik doch wesentlich bestimmte. Mit überschwänglichen Worten lobte er "das wahrhaft erbau- liche Betragen, die herrliche reine christliche Gesinnung, die verehrungs- würdigste Haltung meines theueren geliebten Neuenburger Landes."*) Und er hatte Grund sich dieser Getreuen zu freuen. Das kleine Fürstenthum lebte glücklich dahin, eine Aristokratie mit demokratischen Formen, gleich dem alten Rom, musterhaft verwaltet, mit allgemeinem Stimmrecht für den gesetzgebenden Körper, aber mit unentgeltlichen Aemtern, die dem- nach ganz in den Händen der reichen Herrengeschlechter blieben. Die Freiheit der Niederlassung und des Gewerbebetriebs war so unbeschränkt wie nirgends sonst in der Schweiz; eine Menge von Fremden, zumeist Schweizer, hatten sich in den Fabrikstädten Locle und La Chaux de Fonds angesiedelt; ein volles Drittel der Bevölkerung, mehr als in irgend einem anderen Canton bestand aus Ausländern. Die alten, durch Talent und überlieferte Herrscherkunst ausgezeichneten Familien verdienten sich ihre Machtstellung täglich durch neue Opfer; Armenhäuser, Irrenanstalten, gemeinnützige Stiftungen jeder Art bezeugten den Bürgersinn der Pour- tales, Meuron, Rougemont. Der Führer der Aristokratie, Baron Cham- brier, der langjährige Gesandte des Fürstenthums bei der Tagsatzung, galt bei Freund und Feind für einen der ersten politischen Redner der Schweiz. Mit rührender Liebe hingen diese ehrenfesten Royalisten an ihrem Herr- scherhause; sie brachten den Namen des Legitimismus, der in Frankreich und Spanien durch so mannichfache Sünden entwürdigt war, wieder zu Ansehen, und selbst als sie nachher von ihrem Fürsten preisgegeben wurden, haben sie kaum jemals öffentlich ein Wort des Vorwurfs gegen die Hohen- zollern geäußert. Aber jene so gastfrei aufgenommenen Fremden bildeten
*) König Friedrich Wilhelm an Bunsen, 11. Nov. 1847.
V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
desreform, und in der Schweiz bekämpfte er leidenſchaftlich politiſche Ge- danken, die doch ſchließlich auf daſſelbe Ziel hinausgingen. Wie oft hatte ſein Vater einſt jeden Eingriff der Weſtmächte in die deutſche Bundespolitik tapfer zurückgewieſen, obgleich die Hauptartikel der Deutſchen Bundesver- faſſung doch auch in der Wiener Congreßacte verzeichnet ſtanden; und nun verlangte der Sohn gemeinſamen Kampf der Großmächte für die unbe- ſchränkte Souveränität von Uri, Schwyz und Unterwalden! Selbſt General Gerlach, der die „germanomaniſchen“ Bundesreformpläne ſeines königlichen Herrn ſchon viel zu kühn fand, konnte die unabweisbare Frage nicht unterdrücken: mit welchem Rechte dürfen wir die Weſtmächte der deutſchen Bundesreform fern halten, wenn wir ſie ſelbſt zur Einmiſchung in die ſchweizeriſchen Bundeshändel auffordern?
Während der König alſo von einem großen Kreuzzuge der europäiſchen Legitimität wider die radicalen Eidgenoſſen träumte, verabſäumte er ſeine nächſten landesherrlichen Pflichten gegen das Juraländchen, das ſeinem Herzen am theuerſten war und ſeine ſchweizeriſche Politik doch weſentlich beſtimmte. Mit überſchwänglichen Worten lobte er „das wahrhaft erbau- liche Betragen, die herrliche reine chriſtliche Geſinnung, die verehrungs- würdigſte Haltung meines theueren geliebten Neuenburger Landes.“*) Und er hatte Grund ſich dieſer Getreuen zu freuen. Das kleine Fürſtenthum lebte glücklich dahin, eine Ariſtokratie mit demokratiſchen Formen, gleich dem alten Rom, muſterhaft verwaltet, mit allgemeinem Stimmrecht für den geſetzgebenden Körper, aber mit unentgeltlichen Aemtern, die dem- nach ganz in den Händen der reichen Herrengeſchlechter blieben. Die Freiheit der Niederlaſſung und des Gewerbebetriebs war ſo unbeſchränkt wie nirgends ſonſt in der Schweiz; eine Menge von Fremden, zumeiſt Schweizer, hatten ſich in den Fabrikſtädten Locle und La Chaux de Fonds angeſiedelt; ein volles Drittel der Bevölkerung, mehr als in irgend einem anderen Canton beſtand aus Ausländern. Die alten, durch Talent und überlieferte Herrſcherkunſt ausgezeichneten Familien verdienten ſich ihre Machtſtellung täglich durch neue Opfer; Armenhäuſer, Irrenanſtalten, gemeinnützige Stiftungen jeder Art bezeugten den Bürgerſinn der Pour- talès, Meuron, Rougemont. Der Führer der Ariſtokratie, Baron Cham- brier, der langjährige Geſandte des Fürſtenthums bei der Tagſatzung, galt bei Freund und Feind für einen der erſten politiſchen Redner der Schweiz. Mit rührender Liebe hingen dieſe ehrenfeſten Royaliſten an ihrem Herr- ſcherhauſe; ſie brachten den Namen des Legitimismus, der in Frankreich und Spanien durch ſo mannichfache Sünden entwürdigt war, wieder zu Anſehen, und ſelbſt als ſie nachher von ihrem Fürſten preisgegeben wurden, haben ſie kaum jemals öffentlich ein Wort des Vorwurfs gegen die Hohen- zollern geäußert. Aber jene ſo gaſtfrei aufgenommenen Fremden bildeten
*) König Friedrich Wilhelm an Bunſen, 11. Nov. 1847.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0748"n="734"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.</fw><lb/>
desreform, und in der Schweiz bekämpfte er leidenſchaftlich politiſche Ge-<lb/>
danken, die doch ſchließlich auf daſſelbe Ziel hinausgingen. Wie oft hatte<lb/>ſein Vater einſt jeden Eingriff der Weſtmächte in die deutſche Bundespolitik<lb/>
tapfer zurückgewieſen, obgleich die Hauptartikel der Deutſchen Bundesver-<lb/>
faſſung doch auch in der Wiener Congreßacte verzeichnet ſtanden; und nun<lb/>
verlangte der Sohn gemeinſamen Kampf der Großmächte für die unbe-<lb/>ſchränkte Souveränität von Uri, Schwyz und Unterwalden! Selbſt General<lb/>
Gerlach, der die „germanomaniſchen“ Bundesreformpläne ſeines königlichen<lb/>
Herrn ſchon viel zu kühn fand, konnte die unabweisbare Frage nicht<lb/>
unterdrücken: mit welchem Rechte dürfen wir die Weſtmächte der deutſchen<lb/>
Bundesreform fern halten, wenn wir ſie ſelbſt zur Einmiſchung in die<lb/>ſchweizeriſchen Bundeshändel auffordern?</p><lb/><p>Während der König alſo von einem großen Kreuzzuge der europäiſchen<lb/>
Legitimität wider die radicalen Eidgenoſſen träumte, verabſäumte er ſeine<lb/>
nächſten landesherrlichen Pflichten gegen das Juraländchen, das ſeinem<lb/>
Herzen am theuerſten war und ſeine ſchweizeriſche Politik doch weſentlich<lb/>
beſtimmte. Mit überſchwänglichen Worten lobte er „das wahrhaft erbau-<lb/>
liche Betragen, die herrliche reine chriſtliche Geſinnung, die verehrungs-<lb/>
würdigſte Haltung meines theueren geliebten Neuenburger Landes.“<noteplace="foot"n="*)">König Friedrich Wilhelm an Bunſen, 11. Nov. 1847.</note> Und<lb/>
er hatte Grund ſich dieſer Getreuen zu freuen. Das kleine Fürſtenthum<lb/>
lebte glücklich dahin, eine Ariſtokratie mit demokratiſchen Formen, gleich<lb/>
dem alten Rom, muſterhaft verwaltet, mit allgemeinem Stimmrecht für<lb/>
den geſetzgebenden Körper, aber mit unentgeltlichen Aemtern, die dem-<lb/>
nach ganz in den Händen der reichen Herrengeſchlechter blieben. Die<lb/>
Freiheit der Niederlaſſung und des Gewerbebetriebs war ſo unbeſchränkt<lb/>
wie nirgends ſonſt in der Schweiz; eine Menge von Fremden, zumeiſt<lb/>
Schweizer, hatten ſich in den Fabrikſtädten Locle und La Chaux de Fonds<lb/>
angeſiedelt; ein volles Drittel der Bevölkerung, mehr als in irgend einem<lb/>
anderen Canton beſtand aus Ausländern. Die alten, durch Talent und<lb/>
überlieferte Herrſcherkunſt ausgezeichneten Familien verdienten ſich ihre<lb/>
Machtſtellung täglich durch neue Opfer; Armenhäuſer, Irrenanſtalten,<lb/>
gemeinnützige Stiftungen jeder Art bezeugten den Bürgerſinn der Pour-<lb/>
tal<hirendition="#aq">è</hi>s, Meuron, Rougemont. Der Führer der Ariſtokratie, Baron Cham-<lb/>
brier, der langjährige Geſandte des Fürſtenthums bei der Tagſatzung, galt<lb/>
bei Freund und Feind für einen der erſten politiſchen Redner der Schweiz.<lb/>
Mit rührender Liebe hingen dieſe ehrenfeſten Royaliſten an ihrem Herr-<lb/>ſcherhauſe; ſie brachten den Namen des Legitimismus, der in Frankreich<lb/>
und Spanien durch ſo mannichfache Sünden entwürdigt war, wieder zu<lb/>
Anſehen, und ſelbſt als ſie nachher von ihrem Fürſten preisgegeben wurden,<lb/>
haben ſie kaum jemals öffentlich ein Wort des Vorwurfs gegen die Hohen-<lb/>
zollern geäußert. Aber jene ſo gaſtfrei aufgenommenen Fremden bildeten<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[734/0748]
V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
desreform, und in der Schweiz bekämpfte er leidenſchaftlich politiſche Ge-
danken, die doch ſchließlich auf daſſelbe Ziel hinausgingen. Wie oft hatte
ſein Vater einſt jeden Eingriff der Weſtmächte in die deutſche Bundespolitik
tapfer zurückgewieſen, obgleich die Hauptartikel der Deutſchen Bundesver-
faſſung doch auch in der Wiener Congreßacte verzeichnet ſtanden; und nun
verlangte der Sohn gemeinſamen Kampf der Großmächte für die unbe-
ſchränkte Souveränität von Uri, Schwyz und Unterwalden! Selbſt General
Gerlach, der die „germanomaniſchen“ Bundesreformpläne ſeines königlichen
Herrn ſchon viel zu kühn fand, konnte die unabweisbare Frage nicht
unterdrücken: mit welchem Rechte dürfen wir die Weſtmächte der deutſchen
Bundesreform fern halten, wenn wir ſie ſelbſt zur Einmiſchung in die
ſchweizeriſchen Bundeshändel auffordern?
Während der König alſo von einem großen Kreuzzuge der europäiſchen
Legitimität wider die radicalen Eidgenoſſen träumte, verabſäumte er ſeine
nächſten landesherrlichen Pflichten gegen das Juraländchen, das ſeinem
Herzen am theuerſten war und ſeine ſchweizeriſche Politik doch weſentlich
beſtimmte. Mit überſchwänglichen Worten lobte er „das wahrhaft erbau-
liche Betragen, die herrliche reine chriſtliche Geſinnung, die verehrungs-
würdigſte Haltung meines theueren geliebten Neuenburger Landes.“ *) Und
er hatte Grund ſich dieſer Getreuen zu freuen. Das kleine Fürſtenthum
lebte glücklich dahin, eine Ariſtokratie mit demokratiſchen Formen, gleich
dem alten Rom, muſterhaft verwaltet, mit allgemeinem Stimmrecht für
den geſetzgebenden Körper, aber mit unentgeltlichen Aemtern, die dem-
nach ganz in den Händen der reichen Herrengeſchlechter blieben. Die
Freiheit der Niederlaſſung und des Gewerbebetriebs war ſo unbeſchränkt
wie nirgends ſonſt in der Schweiz; eine Menge von Fremden, zumeiſt
Schweizer, hatten ſich in den Fabrikſtädten Locle und La Chaux de Fonds
angeſiedelt; ein volles Drittel der Bevölkerung, mehr als in irgend einem
anderen Canton beſtand aus Ausländern. Die alten, durch Talent und
überlieferte Herrſcherkunſt ausgezeichneten Familien verdienten ſich ihre
Machtſtellung täglich durch neue Opfer; Armenhäuſer, Irrenanſtalten,
gemeinnützige Stiftungen jeder Art bezeugten den Bürgerſinn der Pour-
talès, Meuron, Rougemont. Der Führer der Ariſtokratie, Baron Cham-
brier, der langjährige Geſandte des Fürſtenthums bei der Tagſatzung, galt
bei Freund und Feind für einen der erſten politiſchen Redner der Schweiz.
Mit rührender Liebe hingen dieſe ehrenfeſten Royaliſten an ihrem Herr-
ſcherhauſe; ſie brachten den Namen des Legitimismus, der in Frankreich
und Spanien durch ſo mannichfache Sünden entwürdigt war, wieder zu
Anſehen, und ſelbſt als ſie nachher von ihrem Fürſten preisgegeben wurden,
haben ſie kaum jemals öffentlich ein Wort des Vorwurfs gegen die Hohen-
zollern geäußert. Aber jene ſo gaſtfrei aufgenommenen Fremden bildeten
*) König Friedrich Wilhelm an Bunſen, 11. Nov. 1847.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/748>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.