Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

V. 2. Die Kriegsgefahr.
ihn zu erneuern schien unmöglich da die Eifersucht der Westmächte längst
erwacht war. Die friedliche Schutzherrschaft Rußlands in der Türkei ließ
sich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem englischen Hofe und
den beiden deutschen Mächten eine bescheidene Mitwirkung bei der Rettung
des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünschte man die Macht
des Aegypters also zu schwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als
Hausmeier des Sultans das osmanische Reich von innen heraus zu ver-
jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen lassen, weil sein
halbselbständiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleische der Türkei
blieb. Seit der Schlacht von Nisib mußte auch Palmerston einsehen, daß man
Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin bestand keine ernstliche Mei-
nungsverschiedenheit zwischen den beiden Mächten; sie mußten sich nur noch
verständigen über die beiden Fragen, welche Stücke syrischen Landes dem be-
trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be-
waffnete Einmischung ausführen sollten. Da Rußlands Streitkräfte durch
die kaukasischen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geschwächt
waren, so wünschte Nikolaus im Augenblicke keinen europäischen Krieg;
er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu besiegen, indem er sich erst mit
England, dann mit den beiden deutschen Mächten vereinigte.

Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entschieden ab,
weil er befürchtete dort durch Oesterreich und die Westmächte überstimmt
zu werden Metternich empfand diese Absage als eine schwere persön-
liche Beleidigung und erging sich in Schmähreden wider die Schwäche
und die Thorheit des Czaren -- ganz wie im Jahre 1826, als sich Ruß-
land und England über die griechische Frage verständigten. Auch dies-
mal mußte er erfahren, daß in den orientalischen Händeln Rußland, nicht
Oesterreich die führende Macht des Ostbundes war. Im September 1839
wurde einer der jüngeren russischen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach
London gesendet, ein sanfter, feiner, geschmeidiger Mann, der alsbald
eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Gesellschaft
Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits-
concerten eifrig theilnahm. In der diplomatischen Welt hieß er der rus-
sische Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiste
und der schriftstellerischen Größe des österreichischen Staatsmannes konnte
er sich nicht von fern vergleichen, in den Künsten schlauer Unterhandlung
war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britischen Minister:
der Czar habe nichts dawider, wenn England durch seine Flotte den Aegyp-
ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann
nöthigenfalls seine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinasien gegen
Ibrahim Pascha vorgehen lassen. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen
nahm Palmerston diese Anerbietungen entgegen; sie genügten ihm nicht,
da ihm vor Allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi
zu beseitigen, der britischen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen

V. 2. Die Kriegsgefahr.
ihn zu erneuern ſchien unmöglich da die Eiferſucht der Weſtmächte längſt
erwacht war. Die friedliche Schutzherrſchaft Rußlands in der Türkei ließ
ſich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engliſchen Hofe und
den beiden deutſchen Mächten eine beſcheidene Mitwirkung bei der Rettung
des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünſchte man die Macht
des Aegypters alſo zu ſchwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als
Hausmeier des Sultans das osmaniſche Reich von innen heraus zu ver-
jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen laſſen, weil ſein
halbſelbſtändiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleiſche der Türkei
blieb. Seit der Schlacht von Niſib mußte auch Palmerſton einſehen, daß man
Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin beſtand keine ernſtliche Mei-
nungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden Mächten; ſie mußten ſich nur noch
verſtändigen über die beiden Fragen, welche Stücke ſyriſchen Landes dem be-
trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be-
waffnete Einmiſchung ausführen ſollten. Da Rußlands Streitkräfte durch
die kaukaſiſchen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geſchwächt
waren, ſo wünſchte Nikolaus im Augenblicke keinen europäiſchen Krieg;
er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu beſiegen, indem er ſich erſt mit
England, dann mit den beiden deutſchen Mächten vereinigte.

Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entſchieden ab,
weil er befürchtete dort durch Oeſterreich und die Weſtmächte überſtimmt
zu werden Metternich empfand dieſe Abſage als eine ſchwere perſön-
liche Beleidigung und erging ſich in Schmähreden wider die Schwäche
und die Thorheit des Czaren — ganz wie im Jahre 1826, als ſich Ruß-
land und England über die griechiſche Frage verſtändigten. Auch dies-
mal mußte er erfahren, daß in den orientaliſchen Händeln Rußland, nicht
Oeſterreich die führende Macht des Oſtbundes war. Im September 1839
wurde einer der jüngeren ruſſiſchen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach
London geſendet, ein ſanfter, feiner, geſchmeidiger Mann, der alsbald
eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Geſellſchaft
Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits-
concerten eifrig theilnahm. In der diplomatiſchen Welt hieß er der ruſ-
ſiſche Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiſte
und der ſchriftſtelleriſchen Größe des öſterreichiſchen Staatsmannes konnte
er ſich nicht von fern vergleichen, in den Künſten ſchlauer Unterhandlung
war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britiſchen Miniſter:
der Czar habe nichts dawider, wenn England durch ſeine Flotte den Aegyp-
ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann
nöthigenfalls ſeine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinaſien gegen
Ibrahim Paſcha vorgehen laſſen. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen
nahm Palmerſton dieſe Anerbietungen entgegen; ſie genügten ihm nicht,
da ihm vor Allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi
zu beſeitigen, der britiſchen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="70"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 2. Die Kriegsgefahr.</fw><lb/>
ihn zu erneuern &#x017F;chien unmöglich da die Eifer&#x017F;ucht der We&#x017F;tmächte läng&#x017F;t<lb/>
erwacht war. Die friedliche Schutzherr&#x017F;chaft Rußlands in der Türkei ließ<lb/>
&#x017F;ich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engli&#x017F;chen Hofe und<lb/>
den beiden deut&#x017F;chen Mächten eine be&#x017F;cheidene Mitwirkung bei der Rettung<lb/>
des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wün&#x017F;chte man die Macht<lb/>
des Aegypters al&#x017F;o zu &#x017F;chwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als<lb/>
Hausmeier des Sultans das osmani&#x017F;che Reich von innen heraus zu ver-<lb/>
jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen la&#x017F;&#x017F;en, weil &#x017F;ein<lb/>
halb&#x017F;elb&#x017F;tändiger Staat doch immer ein Pfahl im Flei&#x017F;che der Türkei<lb/>
blieb. Seit der Schlacht von Ni&#x017F;ib mußte auch Palmer&#x017F;ton ein&#x017F;ehen, daß man<lb/>
Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin be&#x017F;tand keine ern&#x017F;tliche Mei-<lb/>
nungsver&#x017F;chiedenheit zwi&#x017F;chen den beiden Mächten; &#x017F;ie mußten &#x017F;ich nur noch<lb/>
ver&#x017F;tändigen über die beiden Fragen, welche Stücke &#x017F;yri&#x017F;chen Landes dem be-<lb/>
trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be-<lb/>
waffnete Einmi&#x017F;chung ausführen &#x017F;ollten. Da Rußlands Streitkräfte durch<lb/>
die kauka&#x017F;i&#x017F;chen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich ge&#x017F;chwächt<lb/>
waren, &#x017F;o wün&#x017F;chte Nikolaus im Augenblicke keinen europäi&#x017F;chen Krieg;<lb/>
er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu be&#x017F;iegen, indem er &#x017F;ich er&#x017F;t mit<lb/>
England, dann mit den beiden deut&#x017F;chen Mächten vereinigte.</p><lb/>
          <p>Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er ent&#x017F;chieden ab,<lb/>
weil er befürchtete dort durch Oe&#x017F;terreich und die We&#x017F;tmächte über&#x017F;timmt<lb/>
zu werden Metternich empfand die&#x017F;e Ab&#x017F;age als eine &#x017F;chwere per&#x017F;ön-<lb/>
liche Beleidigung und erging &#x017F;ich in Schmähreden wider die Schwäche<lb/>
und die Thorheit des Czaren &#x2014; ganz wie im Jahre 1826, als &#x017F;ich Ruß-<lb/>
land und England über die griechi&#x017F;che Frage ver&#x017F;tändigten. Auch dies-<lb/>
mal mußte er erfahren, daß in den orientali&#x017F;chen Händeln Rußland, nicht<lb/>
Oe&#x017F;terreich die führende Macht des O&#x017F;tbundes war. Im September 1839<lb/>
wurde einer der jüngeren ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach<lb/>
London ge&#x017F;endet, ein &#x017F;anfter, feiner, ge&#x017F;chmeidiger Mann, der alsbald<lb/>
eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits-<lb/>
concerten eifrig theilnahm. In der diplomati&#x017F;chen Welt hieß er der ru&#x017F;-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;che Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Gei&#x017F;te<lb/>
und der &#x017F;chrift&#x017F;telleri&#x017F;chen Größe des ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen Staatsmannes konnte<lb/>
er &#x017F;ich nicht von fern vergleichen, in den Kün&#x017F;ten &#x017F;chlauer Unterhandlung<lb/>
war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem briti&#x017F;chen Mini&#x017F;ter:<lb/>
der Czar habe nichts dawider, wenn England durch &#x017F;eine Flotte den Aegyp-<lb/>
ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann<lb/>
nöthigenfalls &#x017F;eine eigenen Truppen über Sinope durch Kleina&#x017F;ien gegen<lb/>
Ibrahim Pa&#x017F;cha vorgehen la&#x017F;&#x017F;en. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen<lb/>
nahm Palmer&#x017F;ton die&#x017F;e Anerbietungen entgegen; &#x017F;ie genügten ihm nicht,<lb/>
da ihm vor Allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskele&#x017F;&#x017F;i<lb/>
zu be&#x017F;eitigen, der briti&#x017F;chen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0084] V. 2. Die Kriegsgefahr. ihn zu erneuern ſchien unmöglich da die Eiferſucht der Weſtmächte längſt erwacht war. Die friedliche Schutzherrſchaft Rußlands in der Türkei ließ ſich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engliſchen Hofe und den beiden deutſchen Mächten eine beſcheidene Mitwirkung bei der Rettung des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünſchte man die Macht des Aegypters alſo zu ſchwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als Hausmeier des Sultans das osmaniſche Reich von innen heraus zu ver- jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen laſſen, weil ſein halbſelbſtändiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleiſche der Türkei blieb. Seit der Schlacht von Niſib mußte auch Palmerſton einſehen, daß man Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin beſtand keine ernſtliche Mei- nungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden Mächten; ſie mußten ſich nur noch verſtändigen über die beiden Fragen, welche Stücke ſyriſchen Landes dem be- trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be- waffnete Einmiſchung ausführen ſollten. Da Rußlands Streitkräfte durch die kaukaſiſchen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geſchwächt waren, ſo wünſchte Nikolaus im Augenblicke keinen europäiſchen Krieg; er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu beſiegen, indem er ſich erſt mit England, dann mit den beiden deutſchen Mächten vereinigte. Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entſchieden ab, weil er befürchtete dort durch Oeſterreich und die Weſtmächte überſtimmt zu werden Metternich empfand dieſe Abſage als eine ſchwere perſön- liche Beleidigung und erging ſich in Schmähreden wider die Schwäche und die Thorheit des Czaren — ganz wie im Jahre 1826, als ſich Ruß- land und England über die griechiſche Frage verſtändigten. Auch dies- mal mußte er erfahren, daß in den orientaliſchen Händeln Rußland, nicht Oeſterreich die führende Macht des Oſtbundes war. Im September 1839 wurde einer der jüngeren ruſſiſchen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach London geſendet, ein ſanfter, feiner, geſchmeidiger Mann, der alsbald eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Geſellſchaft Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits- concerten eifrig theilnahm. In der diplomatiſchen Welt hieß er der ruſ- ſiſche Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiſte und der ſchriftſtelleriſchen Größe des öſterreichiſchen Staatsmannes konnte er ſich nicht von fern vergleichen, in den Künſten ſchlauer Unterhandlung war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britiſchen Miniſter: der Czar habe nichts dawider, wenn England durch ſeine Flotte den Aegyp- ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann nöthigenfalls ſeine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinaſien gegen Ibrahim Paſcha vorgehen laſſen. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen nahm Palmerſton dieſe Anerbietungen entgegen; ſie genügten ihm nicht, da ihm vor Allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi zu beſeitigen, der britiſchen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/84
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/84>, abgerufen am 04.12.2024.