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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822.

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Der Naturtrieb bestimmt ursprünglich, un-
angeregt von noch nicht gefühlter Lust und Un-
lust, ohne Einmischung der Urtheilskraft, die
zur Darstellung oder Erreichung seines Gegen-
standes nöthige Art von Selbstthätigkeit. Sobald
aber Hindernisse eintreten, deren Wegräumung
oder Umgehung zur Ausübung dieser Thätigkeit
nothwendig ist, verräth sich bey den Thieren
auch Urtheilskraft. In solchen Fällen, wo Maass-
regeln gegen den Zufall zu nehmen sind, kann
nicht mehr der Instinkt, sondern nur Urtheils-
kraft das Thier leiten. Aber dieses verfährt
dann oft ohne Anleitung und ohne Erfahrung,
und doch ist kein Urtheil ohne allgemeine Be-
griffe möglich. Besitzt also etwa das Thier ur-
sprüngliche, nicht aus der Erfahrung abgeleitete
Begriffe? Ohnstreitig hat dasselbe, so gut wie
das Kind, reine Verstandesbegriffe. Warum wür-
den beyde einem Gegenstande ihres Verlangens
nicht in einer krummen Linie zueilen, wenn
nicht der Begriff der geraden Linie, als der kür-
zesten zwischen zwey Punkten, ihre Bewegun-
gen bestimmte? Aber das Thier hat noch mehr
als das Kind; es besitzt auch ererbte Erfahrungs-
begriffe. Denn von welchen andern Ursachen
als solchen Begriffen ist es abzuleiten, dass blosse
Varietäten einer und derselben Thierart, z. B.
der Hühnerhund, das Windspiel, der Dachs-

hund

Der Naturtrieb bestimmt ursprünglich, un-
angeregt von noch nicht gefühlter Lust und Un-
lust, ohne Einmischung der Urtheilskraft, die
zur Darstellung oder Erreichung seines Gegen-
standes nöthige Art von Selbstthätigkeit. Sobald
aber Hindernisse eintreten, deren Wegräumung
oder Umgehung zur Ausübung dieser Thätigkeit
nothwendig ist, verräth sich bey den Thieren
auch Urtheilskraft. In solchen Fällen, wo Maaſs-
regeln gegen den Zufall zu nehmen sind, kann
nicht mehr der Instinkt, sondern nur Urtheils-
kraft das Thier leiten. Aber dieses verfährt
dann oft ohne Anleitung und ohne Erfahrung,
und doch ist kein Urtheil ohne allgemeine Be-
griffe möglich. Besitzt also etwa das Thier ur-
sprüngliche, nicht aus der Erfahrung abgeleitete
Begriffe? Ohnstreitig hat dasselbe, so gut wie
das Kind, reine Verstandesbegriffe. Warum wür-
den beyde einem Gegenstande ihres Verlangens
nicht in einer krummen Linie zueilen, wenn
nicht der Begriff der geraden Linie, als der kür-
zesten zwischen zwey Punkten, ihre Bewegun-
gen bestimmte? Aber das Thier hat noch mehr
als das Kind; es besitzt auch ererbte Erfahrungs-
begriffe. Denn von welchen andern Ursachen
als solchen Begriffen ist es abzuleiten, daſs bloſse
Varietäten einer und derselben Thierart, z. B.
der Hühnerhund, das Windspiel, der Dachs-

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[18/0030] Der Naturtrieb bestimmt ursprünglich, un- angeregt von noch nicht gefühlter Lust und Un- lust, ohne Einmischung der Urtheilskraft, die zur Darstellung oder Erreichung seines Gegen- standes nöthige Art von Selbstthätigkeit. Sobald aber Hindernisse eintreten, deren Wegräumung oder Umgehung zur Ausübung dieser Thätigkeit nothwendig ist, verräth sich bey den Thieren auch Urtheilskraft. In solchen Fällen, wo Maaſs- regeln gegen den Zufall zu nehmen sind, kann nicht mehr der Instinkt, sondern nur Urtheils- kraft das Thier leiten. Aber dieses verfährt dann oft ohne Anleitung und ohne Erfahrung, und doch ist kein Urtheil ohne allgemeine Be- griffe möglich. Besitzt also etwa das Thier ur- sprüngliche, nicht aus der Erfahrung abgeleitete Begriffe? Ohnstreitig hat dasselbe, so gut wie das Kind, reine Verstandesbegriffe. Warum wür- den beyde einem Gegenstande ihres Verlangens nicht in einer krummen Linie zueilen, wenn nicht der Begriff der geraden Linie, als der kür- zesten zwischen zwey Punkten, ihre Bewegun- gen bestimmte? Aber das Thier hat noch mehr als das Kind; es besitzt auch ererbte Erfahrungs- begriffe. Denn von welchen andern Ursachen als solchen Begriffen ist es abzuleiten, daſs bloſse Varietäten einer und derselben Thierart, z. B. der Hühnerhund, das Windspiel, der Dachs- hund

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Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/30>, abgerufen am 21.11.2024.