Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lieder der Vorzeit.

1807.


Als Knabe stieg ich in die Hallen
Verlaßner Burgen oft hinan;
Durch alte Städte thät ich wallen,
Und sah die hohen Münster an.
Da war es, daß mit stillem Mahnen
Der Geist der Vorwelt bei mir stand,
Da ließ er frühe schon mich ahnen,
Was später ich in Büchern fand:
Daß Jungfraun dort von ew'gem Preise,
Die heil'gen Lieder, einst gewohnt,
Und in der Edelfrauen Kreise
Bei'm Feste des Gesangs gethront.
Da kam der Krieger wild Geschlechte
Und warf den Brand in's frohe Haus.
Die Schwestern flohn im Graun der Nächte
Nach allen Seiten zagend aus.
Wie manche schmachtet, hart gefangen,
In eines Kerkers dunklem Grund!
Zu keinem milden Ohr gelangen
Die Kläng' aus ihrem zarten Mund.
Ach! Jene, die auf öden Wegen
Umhergeirret, krank und müd,
Sie ist dem schweren Gram erlegen,
Und sang noch einmal, eh sie schied.
Die Lieder der Vorzeit.

1807.


Als Knabe ſtieg ich in die Hallen
Verlaßner Burgen oft hinan;
Durch alte Städte thät ich wallen,
Und ſah die hohen Münſter an.
Da war es, daß mit ſtillem Mahnen
Der Geiſt der Vorwelt bei mir ſtand,
Da ließ er frühe ſchon mich ahnen,
Was ſpäter ich in Büchern fand:
Daß Jungfraun dort von ew’gem Preiſe,
Die heil’gen Lieder, einſt gewohnt,
Und in der Edelfrauen Kreiſe
Bei’m Feſte des Geſangs gethront.
Da kam der Krieger wild Geſchlechte
Und warf den Brand in’s frohe Haus.
Die Schweſtern flohn im Graun der Nächte
Nach allen Seiten zagend aus.
Wie manche ſchmachtet, hart gefangen,
In eines Kerkers dunklem Grund!
Zu keinem milden Ohr gelangen
Die Kläng’ aus ihrem zarten Mund.
Ach! Jene, die auf öden Wegen
Umhergeirret, krank und müd,
Sie iſt dem ſchweren Gram erlegen,
Und ſang noch einmal, eh ſie ſchied.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0197" n="191"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Die Lieder der Vorzeit</hi>.</head><lb/>
          <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">1807</hi>.</hi> </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Als Knabe &#x017F;tieg ich in die Hallen</l><lb/>
              <l>Verlaßner Burgen oft hinan;</l><lb/>
              <l>Durch alte Städte thät ich wallen,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;ah die hohen Mün&#x017F;ter an.</l><lb/>
              <l>Da war es, daß mit &#x017F;tillem Mahnen</l><lb/>
              <l>Der Gei&#x017F;t der Vorwelt bei mir &#x017F;tand,</l><lb/>
              <l>Da ließ er frühe &#x017F;chon mich ahnen,</l><lb/>
              <l>Was &#x017F;päter ich in Büchern fand:</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Daß Jungfraun dort von ew&#x2019;gem Prei&#x017F;e,</l><lb/>
              <l>Die heil&#x2019;gen Lieder, ein&#x017F;t gewohnt,</l><lb/>
              <l>Und in der Edelfrauen Krei&#x017F;e</l><lb/>
              <l>Bei&#x2019;m Fe&#x017F;te des Ge&#x017F;angs gethront.</l><lb/>
              <l>Da kam der Krieger wild Ge&#x017F;chlechte</l><lb/>
              <l>Und warf den Brand in&#x2019;s frohe Haus.</l><lb/>
              <l>Die Schwe&#x017F;tern flohn im Graun der Nächte</l><lb/>
              <l>Nach allen Seiten zagend aus.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Wie manche &#x017F;chmachtet, hart gefangen,</l><lb/>
              <l>In eines Kerkers dunklem Grund!</l><lb/>
              <l>Zu keinem milden Ohr gelangen</l><lb/>
              <l>Die Kläng&#x2019; aus ihrem zarten Mund.</l><lb/>
              <l>Ach! Jene, die auf öden Wegen</l><lb/>
              <l>Umhergeirret, krank und müd,</l><lb/>
              <l>Sie i&#x017F;t dem &#x017F;chweren Gram erlegen,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;ang noch einmal, eh &#x017F;ie &#x017F;chied.</l>
            </lg><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0197] Die Lieder der Vorzeit. 1807. Als Knabe ſtieg ich in die Hallen Verlaßner Burgen oft hinan; Durch alte Städte thät ich wallen, Und ſah die hohen Münſter an. Da war es, daß mit ſtillem Mahnen Der Geiſt der Vorwelt bei mir ſtand, Da ließ er frühe ſchon mich ahnen, Was ſpäter ich in Büchern fand: Daß Jungfraun dort von ew’gem Preiſe, Die heil’gen Lieder, einſt gewohnt, Und in der Edelfrauen Kreiſe Bei’m Feſte des Geſangs gethront. Da kam der Krieger wild Geſchlechte Und warf den Brand in’s frohe Haus. Die Schweſtern flohn im Graun der Nächte Nach allen Seiten zagend aus. Wie manche ſchmachtet, hart gefangen, In eines Kerkers dunklem Grund! Zu keinem milden Ohr gelangen Die Kläng’ aus ihrem zarten Mund. Ach! Jene, die auf öden Wegen Umhergeirret, krank und müd, Sie iſt dem ſchweren Gram erlegen, Und ſang noch einmal, eh ſie ſchied.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/197
Zitationshilfe: Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/197>, abgerufen am 22.11.2024.