Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.Liebesklagen. 1. Der Student. Als ich einst bei Salamanka Früh in einem Garten saß Und bei'm Schlag der Nachtigallen Emsig im Homerus las: Wie in glänzenden Gewanden Helena zur Zinne trat Und so herrlich sich erzeigte Dem trojanischen Senat, Daß vernehmlich Der und Jener Brummt' in seinen grauen Bart: "Solch ein Weib ward nie gesehen, Traun, sie ist von Götterart!" Als ich so mich ganz vertiefet, Wußt' ich nicht, wie mir geschah: In die Blätter fuhr ein Wehen, Daß ich staunend um mich sah. Auf benachbartem Balkone, Welch ein Wunder schaut' ich da! Dort in glänzenden Gewanden Stand ein Weib wie Helena, Und ein Graubart ihr zur Seite, Der so seltsam freundlich that, Daß ich schwören mocht', er wäre Von der Troer hohem Rath. Doch ich selbst ward ein Achäer, Der ich nun seit jenem Tag Vor dem festen Gartenhause, Einer neuen Troja, lag. Liebesklagen. 1. Der Student. Als ich einſt bei Salamanka Früh in einem Garten ſaß Und bei’m Schlag der Nachtigallen Emſig im Homerus las: Wie in glänzenden Gewanden Helena zur Zinne trat Und ſo herrlich ſich erzeigte Dem trojaniſchen Senat, Daß vernehmlich Der und Jener Brummt’ in ſeinen grauen Bart: „Solch ein Weib ward nie geſehen, Traun, ſie iſt von Götterart!“ Als ich ſo mich ganz vertiefet, Wußt’ ich nicht, wie mir geſchah: In die Blätter fuhr ein Wehen, Daß ich ſtaunend um mich ſah. Auf benachbartem Balkone, Welch ein Wunder ſchaut’ ich da! Dort in glänzenden Gewanden Stand ein Weib wie Helena, Und ein Graubart ihr zur Seite, Der ſo ſeltſam freundlich that, Daß ich ſchwören mocht’, er wäre Von der Troer hohem Rath. Doch ich ſelbſt ward ein Achäer, Der ich nun ſeit jenem Tag Vor dem feſten Gartenhauſe, Einer neuen Troja, lag. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0258" n="252"/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Liebesklagen</hi>.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head>1. <hi rendition="#g">Der Student</hi>.</head><lb/> <lg type="poem"> <l>Als ich einſt bei Salamanka</l><lb/> <l>Früh in einem Garten ſaß</l><lb/> <l>Und bei’m Schlag der Nachtigallen</l><lb/> <l>Emſig im Homerus las:</l><lb/> <l>Wie in glänzenden Gewanden</l><lb/> <l>Helena zur Zinne trat</l><lb/> <l>Und ſo herrlich ſich erzeigte</l><lb/> <l>Dem trojaniſchen Senat,</l><lb/> <l>Daß vernehmlich Der und Jener</l><lb/> <l>Brummt’ in ſeinen grauen Bart:</l><lb/> <l>„Solch ein Weib ward nie geſehen,</l><lb/> <l>Traun, ſie iſt von Götterart!“</l><lb/> <l>Als ich ſo mich ganz vertiefet,</l><lb/> <l>Wußt’ ich nicht, wie mir geſchah:</l><lb/> <l>In die Blätter fuhr ein Wehen,</l><lb/> <l>Daß ich ſtaunend um mich ſah.</l><lb/> <l>Auf benachbartem Balkone,</l><lb/> <l>Welch ein Wunder ſchaut’ ich da!</l><lb/> <l>Dort in glänzenden Gewanden</l><lb/> <l>Stand ein Weib wie Helena,</l><lb/> <l>Und ein Graubart ihr zur Seite,</l><lb/> <l>Der ſo ſeltſam freundlich that,</l><lb/> <l>Daß ich ſchwören mocht’, er wäre</l><lb/> <l>Von der Troer hohem Rath.</l><lb/> <l>Doch ich ſelbſt ward ein Achäer,</l><lb/> <l>Der ich nun ſeit jenem Tag</l><lb/> <l>Vor dem feſten Gartenhauſe,</l><lb/> <l>Einer neuen Troja, lag.</l><lb/> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [252/0258]
Liebesklagen.
1. Der Student.
Als ich einſt bei Salamanka
Früh in einem Garten ſaß
Und bei’m Schlag der Nachtigallen
Emſig im Homerus las:
Wie in glänzenden Gewanden
Helena zur Zinne trat
Und ſo herrlich ſich erzeigte
Dem trojaniſchen Senat,
Daß vernehmlich Der und Jener
Brummt’ in ſeinen grauen Bart:
„Solch ein Weib ward nie geſehen,
Traun, ſie iſt von Götterart!“
Als ich ſo mich ganz vertiefet,
Wußt’ ich nicht, wie mir geſchah:
In die Blätter fuhr ein Wehen,
Daß ich ſtaunend um mich ſah.
Auf benachbartem Balkone,
Welch ein Wunder ſchaut’ ich da!
Dort in glänzenden Gewanden
Stand ein Weib wie Helena,
Und ein Graubart ihr zur Seite,
Der ſo ſeltſam freundlich that,
Daß ich ſchwören mocht’, er wäre
Von der Troer hohem Rath.
Doch ich ſelbſt ward ein Achäer,
Der ich nun ſeit jenem Tag
Vor dem feſten Gartenhauſe,
Einer neuen Troja, lag.
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Zitationshilfe: | Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/258>, abgerufen am 16.07.2024. |