um diese Empfindungen zu vervielfältigen, eine Menge Oh- ren und Augen hätte anlegen müssen. Um deswillen mu- sten wir mit den wenigsten fürlieb nehmen, und wenn uns von diesen Sinnen nur zween Nerven verderben, so kann sie kein andrer ersetzen, und wir sind ihrer völlig beraubt.
§. 63.
Man darf sich eben so wenig wundern, warum wir mit zweyen Augen nur einen Stral, mit zweyen Ohren nur ei- nen Ton empfinden, als warum wir ein Salz nicht eben so oft schmecken, als Nervenwärzgen auf der Zunge sind, u. s. w. Der äußere sinnliche Eindruck in jeden Nerven giebt der Seele eine besondre äußere Empfindung; allein diese Eindrücke sind sich unmöglich völlig in der Stärke gleich, sondern die materiellen Jdeen davon sind stärker und schwächer, und eine davon die die stärkste ist, übertrifft und verdunkelt die übrigen, so daß sie neben ihr gleichsam ver- schwinden. §. 53. Wir sehen also alles eigentlich nur mit Einem Auge und hören mit Einem Ohre. Wenn man von der Empfindung des lebhaftesten äußern sinnlichen Ein- drucks abstrahirt, so kann man leicht die schwächere Em- pfindung von dem andern bemerken und unterscheiden.
§. 64.
Da die äußern Empfindungen Vorstellungen der See- le, mithin ganz etwas anders, als die äußern sinnlichen Eindrücke in die Nerven (§. 32.) und materiellen Jdeen im Gehirne sind, §. 40. 41. so ist es hieraus allein zu be- antworten, warum wir nicht die Bilder, die sich im Auge abmahlen, warum wir sie nicht so, wie sie sich abschildern, und warum wir die Lichtstralen nicht selbst sehen, die Schwin- gungen der Lufttheilchen nicht hören, die Figur der Salz- theilchen nicht schmecken, u. s. w. Kurz, die meisten schwie- rig scheinenden Fragen über die äußern Sinne lassen sich aus diesen Gründen beantworten. Da dieses schon in den physiologischen Lehrbüchern hinlänglich geschehen, und hier
nichts
I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr.
um dieſe Empfindungen zu vervielfaͤltigen, eine Menge Oh- ren und Augen haͤtte anlegen muͤſſen. Um deswillen mu- ſten wir mit den wenigſten fuͤrlieb nehmen, und wenn uns von dieſen Sinnen nur zween Nerven verderben, ſo kann ſie kein andrer erſetzen, und wir ſind ihrer voͤllig beraubt.
§. 63.
Man darf ſich eben ſo wenig wundern, warum wir mit zweyen Augen nur einen Stral, mit zweyen Ohren nur ei- nen Ton empfinden, als warum wir ein Salz nicht eben ſo oft ſchmecken, als Nervenwaͤrzgen auf der Zunge ſind, u. ſ. w. Der aͤußere ſinnliche Eindruck in jeden Nerven giebt der Seele eine beſondre aͤußere Empfindung; allein dieſe Eindruͤcke ſind ſich unmoͤglich voͤllig in der Staͤrke gleich, ſondern die materiellen Jdeen davon ſind ſtaͤrker und ſchwaͤcher, und eine davon die die ſtaͤrkſte iſt, uͤbertrifft und verdunkelt die uͤbrigen, ſo daß ſie neben ihr gleichſam ver- ſchwinden. §. 53. Wir ſehen alſo alles eigentlich nur mit Einem Auge und hoͤren mit Einem Ohre. Wenn man von der Empfindung des lebhafteſten aͤußern ſinnlichen Ein- drucks abſtrahirt, ſo kann man leicht die ſchwaͤchere Em- pfindung von dem andern bemerken und unterſcheiden.
§. 64.
Da die aͤußern Empfindungen Vorſtellungen der See- le, mithin ganz etwas anders, als die aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke in die Nerven (§. 32.) und materiellen Jdeen im Gehirne ſind, §. 40. 41. ſo iſt es hieraus allein zu be- antworten, warum wir nicht die Bilder, die ſich im Auge abmahlen, warum wir ſie nicht ſo, wie ſie ſich abſchildern, und warum wir die Lichtſtralen nicht ſelbſt ſehen, die Schwin- gungen der Lufttheilchen nicht hoͤren, die Figur der Salz- theilchen nicht ſchmecken, u. ſ. w. Kurz, die meiſten ſchwie- rig ſcheinenden Fragen uͤber die aͤußern Sinne laſſen ſich aus dieſen Gruͤnden beantworten. Da dieſes ſchon in den phyſiologiſchen Lehrbuͤchern hinlaͤnglich geſchehen, und hier
nichts
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I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr.
um dieſe Empfindungen zu vervielfaͤltigen, eine Menge Oh-
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ſten wir mit den wenigſten fuͤrlieb nehmen, und wenn uns
von dieſen Sinnen nur zween Nerven verderben, ſo kann ſie
kein andrer erſetzen, und wir ſind ihrer voͤllig beraubt.
§. 63.
Man darf ſich eben ſo wenig wundern, warum wir mit
zweyen Augen nur einen Stral, mit zweyen Ohren nur ei-
nen Ton empfinden, als warum wir ein Salz nicht eben ſo
oft ſchmecken, als Nervenwaͤrzgen auf der Zunge ſind,
u. ſ. w. Der aͤußere ſinnliche Eindruck in jeden Nerven
giebt der Seele eine beſondre aͤußere Empfindung; allein
dieſe Eindruͤcke ſind ſich unmoͤglich voͤllig in der Staͤrke
gleich, ſondern die materiellen Jdeen davon ſind ſtaͤrker und
ſchwaͤcher, und eine davon die die ſtaͤrkſte iſt, uͤbertrifft und
verdunkelt die uͤbrigen, ſo daß ſie neben ihr gleichſam ver-
ſchwinden. §. 53. Wir ſehen alſo alles eigentlich nur mit
Einem Auge und hoͤren mit Einem Ohre. Wenn man von
der Empfindung des lebhafteſten aͤußern ſinnlichen Ein-
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pfindung von dem andern bemerken und unterſcheiden.
§. 64.
Da die aͤußern Empfindungen Vorſtellungen der See-
le, mithin ganz etwas anders, als die aͤußern ſinnlichen
Eindruͤcke in die Nerven (§. 32.) und materiellen Jdeen
im Gehirne ſind, §. 40. 41. ſo iſt es hieraus allein zu be-
antworten, warum wir nicht die Bilder, die ſich im Auge
abmahlen, warum wir ſie nicht ſo, wie ſie ſich abſchildern,
und warum wir die Lichtſtralen nicht ſelbſt ſehen, die Schwin-
gungen der Lufttheilchen nicht hoͤren, die Figur der Salz-
theilchen nicht ſchmecken, u. ſ. w. Kurz, die meiſten ſchwie-
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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/102>, abgerufen am 21.11.2024.
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