Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

1 Abschn. Ersetz. der Seelenw. durch Nervenw.
Thier bey seinem Leben durch einen solchen Schlag er-
schreckt, oder durch einen solchen Fall hingeworfen worden,
so würde es sein Trieb zu eben denselben willkührlichen Be-
wegungen gereizet haben, die itzt nichts anders als Nerven-
wirkungen seyn können: denn beyde Thiere betragen sich
auf einerley Art. Die Bewegungen einer enthaupteten
Schnecke oder Schildkröte, wenn sie auskriecht, um Nah-
rung zu suchen, sind willkührliche Seelenwirkungen des
Nahrungstriebes bey unenthaupteten: bey ihnen aber bloße
Nervenwirkungen. Wenn eine enthauptete Fliege eben so,
wie eine gesunde, ihre Vorderbeine gebrauchet, in der
scheinbaren Absicht, wie wenn sie nicht klar sieht, den Staub
von ihren Augen zu wischen, so sind dieß bey der enthaup-
teten nothwendig nur Nervenwirkungen von einem ähnli-
chen sinnlichen Eindrucke in ihr Nervenmark, so vorsetzlich
und willkührlich sie auch immer zu seyn scheinen. Eben
dieß ist unstreitig, wenn ein zerschnittener Vielfuß mit der
Hälfte ohne Kopf fortkriecht, und überall, wo er an etwas
anstößt, sich wendet, ausweicht, es zu befühlen, von einer
Berührung zu erschrecken und sie zu fliehen scheint, rück-
wärts davon geht, und wenn er stark gereizet wird, sich
windet, zusammenrollet, und von allen Seiten zu entrin-
nen suchet. Es ließen sich unzählige solcher Beyspiele bey-
bringen: aber es muß an diesen genug seyn. Viele, z. E.
das Singen, Seufzen, etc. kurz, alle Veränderungen des
Athemholens, das Einspinnen, das Reisen, etc. lassen sich
an enthaupteten Thieren unmöglich versuchen, weil sie durch
die Enthauptung dazu unfähig gemachet werden. Auch die
Veränderungen der Lebensbewegungen lassen sich theils um
eben derselben Ursache willen, theils wegen der großen Ver-
änderungen, die ohnedem die Enthauptung auf eine mecha-
nische Weise darinn verursachet, nicht beobachten.

§. 556.

Wie die unempfundenen äußern sinnlichen Eindrücke
vermögend sind, solche sonst wirklich willkührliche Seelen-

wirkun-
M m 5

1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
Thier bey ſeinem Leben durch einen ſolchen Schlag er-
ſchreckt, oder durch einen ſolchen Fall hingeworfen worden,
ſo wuͤrde es ſein Trieb zu eben denſelben willkuͤhrlichen Be-
wegungen gereizet haben, die itzt nichts anders als Nerven-
wirkungen ſeyn koͤnnen: denn beyde Thiere betragen ſich
auf einerley Art. Die Bewegungen einer enthaupteten
Schnecke oder Schildkroͤte, wenn ſie auskriecht, um Nah-
rung zu ſuchen, ſind willkuͤhrliche Seelenwirkungen des
Nahrungstriebes bey unenthaupteten: bey ihnen aber bloße
Nervenwirkungen. Wenn eine enthauptete Fliege eben ſo,
wie eine geſunde, ihre Vorderbeine gebrauchet, in der
ſcheinbaren Abſicht, wie wenn ſie nicht klar ſieht, den Staub
von ihren Augen zu wiſchen, ſo ſind dieß bey der enthaup-
teten nothwendig nur Nervenwirkungen von einem aͤhnli-
chen ſinnlichen Eindrucke in ihr Nervenmark, ſo vorſetzlich
und willkuͤhrlich ſie auch immer zu ſeyn ſcheinen. Eben
dieß iſt unſtreitig, wenn ein zerſchnittener Vielfuß mit der
Haͤlfte ohne Kopf fortkriecht, und uͤberall, wo er an etwas
anſtoͤßt, ſich wendet, ausweicht, es zu befuͤhlen, von einer
Beruͤhrung zu erſchrecken und ſie zu fliehen ſcheint, ruͤck-
waͤrts davon geht, und wenn er ſtark gereizet wird, ſich
windet, zuſammenrollet, und von allen Seiten zu entrin-
nen ſuchet. Es ließen ſich unzaͤhlige ſolcher Beyſpiele bey-
bringen: aber es muß an dieſen genug ſeyn. Viele, z. E.
das Singen, Seufzen, ꝛc. kurz, alle Veraͤnderungen des
Athemholens, das Einſpinnen, das Reiſen, ꝛc. laſſen ſich
an enthaupteten Thieren unmoͤglich verſuchen, weil ſie durch
die Enthauptung dazu unfaͤhig gemachet werden. Auch die
Veraͤnderungen der Lebensbewegungen laſſen ſich theils um
eben derſelben Urſache willen, theils wegen der großen Ver-
aͤnderungen, die ohnedem die Enthauptung auf eine mecha-
niſche Weiſe darinn verurſachet, nicht beobachten.

§. 556.

Wie die unempfundenen aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke
vermoͤgend ſind, ſolche ſonſt wirklich willkuͤhrliche Seelen-

wirkun-
M m 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0577" n="553"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">1 Ab&#x017F;chn. Er&#x017F;etz. der Seelenw. durch Nervenw.</hi></fw><lb/>
Thier bey &#x017F;einem Leben durch einen &#x017F;olchen Schlag er-<lb/>
&#x017F;chreckt, oder durch einen &#x017F;olchen Fall hingeworfen worden,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde es &#x017F;ein Trieb zu eben den&#x017F;elben willku&#x0364;hrlichen Be-<lb/>
wegungen gereizet haben, die itzt nichts anders als Nerven-<lb/>
wirkungen &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen: denn beyde Thiere betragen &#x017F;ich<lb/>
auf einerley Art. Die Bewegungen einer enthaupteten<lb/>
Schnecke oder Schildkro&#x0364;te, wenn &#x017F;ie auskriecht, um Nah-<lb/>
rung zu &#x017F;uchen, &#x017F;ind willku&#x0364;hrliche Seelenwirkungen des<lb/>
Nahrungstriebes bey unenthaupteten: bey ihnen aber bloße<lb/>
Nervenwirkungen. Wenn eine enthauptete Fliege eben &#x017F;o,<lb/>
wie eine ge&#x017F;unde, ihre Vorderbeine gebrauchet, in der<lb/>
&#x017F;cheinbaren Ab&#x017F;icht, wie wenn &#x017F;ie nicht klar &#x017F;ieht, den Staub<lb/>
von ihren Augen zu wi&#x017F;chen, &#x017F;o &#x017F;ind dieß bey der enthaup-<lb/>
teten nothwendig nur Nervenwirkungen von einem a&#x0364;hnli-<lb/>
chen &#x017F;innlichen Eindrucke in ihr Nervenmark, &#x017F;o vor&#x017F;etzlich<lb/>
und willku&#x0364;hrlich &#x017F;ie auch immer zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen. Eben<lb/>
dieß i&#x017F;t un&#x017F;treitig, wenn ein zer&#x017F;chnittener Vielfuß mit der<lb/>
Ha&#x0364;lfte ohne Kopf fortkriecht, und u&#x0364;berall, wo er an etwas<lb/>
an&#x017F;to&#x0364;ßt, &#x017F;ich wendet, ausweicht, es zu befu&#x0364;hlen, von einer<lb/>
Beru&#x0364;hrung zu er&#x017F;chrecken und &#x017F;ie zu fliehen &#x017F;cheint, ru&#x0364;ck-<lb/>
wa&#x0364;rts davon geht, und wenn er &#x017F;tark gereizet wird, &#x017F;ich<lb/>
windet, zu&#x017F;ammenrollet, und von allen Seiten zu entrin-<lb/>
nen &#x017F;uchet. Es ließen &#x017F;ich unza&#x0364;hlige &#x017F;olcher Bey&#x017F;piele bey-<lb/>
bringen: aber es muß an die&#x017F;en genug &#x017F;eyn. Viele, z. E.<lb/>
das Singen, Seufzen, &#xA75B;c. kurz, alle Vera&#x0364;nderungen des<lb/>
Athemholens, das Ein&#x017F;pinnen, das Rei&#x017F;en, &#xA75B;c. la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich<lb/>
an enthaupteten Thieren unmo&#x0364;glich ver&#x017F;uchen, weil &#x017F;ie durch<lb/>
die Enthauptung dazu unfa&#x0364;hig gemachet werden. Auch die<lb/>
Vera&#x0364;nderungen der Lebensbewegungen la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich theils um<lb/>
eben der&#x017F;elben Ur&#x017F;ache willen, theils wegen der großen Ver-<lb/>
a&#x0364;nderungen, die ohnedem die Enthauptung auf eine mecha-<lb/>
ni&#x017F;che Wei&#x017F;e darinn verur&#x017F;achet, nicht beobachten.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 556.</head><lb/>
              <p>Wie die unempfundenen a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke<lb/>
vermo&#x0364;gend &#x017F;ind, &#x017F;olche &#x017F;on&#x017F;t wirklich willku&#x0364;hrliche Seelen-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M m 5</fw><fw place="bottom" type="catch">wirkun-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[553/0577] 1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw. Thier bey ſeinem Leben durch einen ſolchen Schlag er- ſchreckt, oder durch einen ſolchen Fall hingeworfen worden, ſo wuͤrde es ſein Trieb zu eben denſelben willkuͤhrlichen Be- wegungen gereizet haben, die itzt nichts anders als Nerven- wirkungen ſeyn koͤnnen: denn beyde Thiere betragen ſich auf einerley Art. Die Bewegungen einer enthaupteten Schnecke oder Schildkroͤte, wenn ſie auskriecht, um Nah- rung zu ſuchen, ſind willkuͤhrliche Seelenwirkungen des Nahrungstriebes bey unenthaupteten: bey ihnen aber bloße Nervenwirkungen. Wenn eine enthauptete Fliege eben ſo, wie eine geſunde, ihre Vorderbeine gebrauchet, in der ſcheinbaren Abſicht, wie wenn ſie nicht klar ſieht, den Staub von ihren Augen zu wiſchen, ſo ſind dieß bey der enthaup- teten nothwendig nur Nervenwirkungen von einem aͤhnli- chen ſinnlichen Eindrucke in ihr Nervenmark, ſo vorſetzlich und willkuͤhrlich ſie auch immer zu ſeyn ſcheinen. Eben dieß iſt unſtreitig, wenn ein zerſchnittener Vielfuß mit der Haͤlfte ohne Kopf fortkriecht, und uͤberall, wo er an etwas anſtoͤßt, ſich wendet, ausweicht, es zu befuͤhlen, von einer Beruͤhrung zu erſchrecken und ſie zu fliehen ſcheint, ruͤck- waͤrts davon geht, und wenn er ſtark gereizet wird, ſich windet, zuſammenrollet, und von allen Seiten zu entrin- nen ſuchet. Es ließen ſich unzaͤhlige ſolcher Beyſpiele bey- bringen: aber es muß an dieſen genug ſeyn. Viele, z. E. das Singen, Seufzen, ꝛc. kurz, alle Veraͤnderungen des Athemholens, das Einſpinnen, das Reiſen, ꝛc. laſſen ſich an enthaupteten Thieren unmoͤglich verſuchen, weil ſie durch die Enthauptung dazu unfaͤhig gemachet werden. Auch die Veraͤnderungen der Lebensbewegungen laſſen ſich theils um eben derſelben Urſache willen, theils wegen der großen Ver- aͤnderungen, die ohnedem die Enthauptung auf eine mecha- niſche Weiſe darinn verurſachet, nicht beobachten. §. 556. Wie die unempfundenen aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke vermoͤgend ſind, ſolche ſonſt wirklich willkuͤhrliche Seelen- wirkun- M m 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/577
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/577>, abgerufen am 25.11.2024.