Ersteres ist der Jrrthum einiger Neuern, welche, seitdem der Herr v. Haller die Nervenkraft des äußern sinnlichen Eindrucks zu unmittelbaren Nervenwirkungen erkannt, und unter dem Namen der Reizbarkeit gelehret hat, (§. 432.) nun alle thierische Bewegungen, die nicht we- nigstens vom Willkühr herrühren, für bloße Wirkungen der Reizbarkeit halten wollen, und sie der Empfindlich- keit fälschlich absprechen. Den letztern Jrrthum be- haupten die Stahlianer, wenn sie lehren, daß sich bey den äußern Empfindungen der Körper blos leidentlich ver- halte, und nicht durch seine eigne Kraft mitwirke.
§. 596.
Bey empfindenden und denkenden Thieren kann man nicht schließen: weil die thierischen Bewegungen, die ihre sinnlichen Vorstellungen, Reizungen, Begierden oder Verabscheuungen etc. begleiten, Seelenwirkungen derselben sind, so können sie keine Nervenwirkungen seyn; und umgekehrt: weil sie Nervenwirkungen seyn können; so sind sie keine Seelenwirkungen dieser sinnlichen Vor- stellungen. §. 592. Aus dem ersten Jrrthume mit dem zweyten im vorigen §. erwähnten zusammengenom- men, ist vermuthlich die alte irrige Meynung geflos- sen, die der Verfasser des Artikels sensibilite im Di- ctionnaire Encyclopedique erneuret hat, daß es zwey- erley Seelen in den vernünftigen Thieren geben müsse, nämlich eine verständige, von der er die Seelenwir- kungen, die sich blos nach psychologischen Gesetzen ent- wickeln, und eine sinnliche, von welcher er die Seelen- wirkungen der äußern Empfindungen und übrigen sinn- lichen Vorstellungen, die sich nach den Gesetzen der Nervenkräfte entwickeln, herleitet: da doch zu dem, was die Nervenkräfte wirken, gar keine Seele erfoderlich ist.
§. 597.
3 Abſchn. Nat. Gem. der th. Seelenk. u. Nervenk.
Erſteres iſt der Jrrthum einiger Neuern, welche, ſeitdem der Herr v. Haller die Nervenkraft des aͤußern ſinnlichen Eindrucks zu unmittelbaren Nervenwirkungen erkannt, und unter dem Namen der Reizbarkeit gelehret hat, (§. 432.) nun alle thieriſche Bewegungen, die nicht we- nigſtens vom Willkuͤhr herruͤhren, fuͤr bloße Wirkungen der Reizbarkeit halten wollen, und ſie der Empfindlich- keit faͤlſchlich abſprechen. Den letztern Jrrthum be- haupten die Stahlianer, wenn ſie lehren, daß ſich bey den aͤußern Empfindungen der Koͤrper blos leidentlich ver- halte, und nicht durch ſeine eigne Kraft mitwirke.
§. 596.
Bey empfindenden und denkenden Thieren kann man nicht ſchließen: weil die thieriſchen Bewegungen, die ihre ſinnlichen Vorſtellungen, Reizungen, Begierden oder Verabſcheuungen ꝛc. begleiten, Seelenwirkungen derſelben ſind, ſo koͤnnen ſie keine Nervenwirkungen ſeyn; und umgekehrt: weil ſie Nervenwirkungen ſeyn koͤnnen; ſo ſind ſie keine Seelenwirkungen dieſer ſinnlichen Vor- ſtellungen. §. 592. Aus dem erſten Jrrthume mit dem zweyten im vorigen §. erwaͤhnten zuſammengenom- men, iſt vermuthlich die alte irrige Meynung gefloſ- ſen, die der Verfaſſer des Artikels ſenſibilité im Di- ctionnaire Encyclopédique erneuret hat, daß es zwey- erley Seelen in den vernuͤnftigen Thieren geben muͤſſe, naͤmlich eine verſtaͤndige, von der er die Seelenwir- kungen, die ſich blos nach pſychologiſchen Geſetzen ent- wickeln, und eine ſinnliche, von welcher er die Seelen- wirkungen der aͤußern Empfindungen und uͤbrigen ſinn- lichen Vorſtellungen, die ſich nach den Geſetzen der Nervenkraͤfte entwickeln, herleitet: da doch zu dem, was die Nervenkraͤfte wirken, gar keine Seele erfoderlich iſt.
§. 597.
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3 Abſchn. Nat. Gem. der th. Seelenk. u. Nervenk.
Erſteres iſt der Jrrthum einiger Neuern, welche, ſeitdem
der Herr v. Haller die Nervenkraft des aͤußern ſinnlichen
Eindrucks zu unmittelbaren Nervenwirkungen erkannt,
und unter dem Namen der Reizbarkeit gelehret hat,
(§. 432.) nun alle thieriſche Bewegungen, die nicht we-
nigſtens vom Willkuͤhr herruͤhren, fuͤr bloße Wirkungen
der Reizbarkeit halten wollen, und ſie der Empfindlich-
keit faͤlſchlich abſprechen. Den letztern Jrrthum be-
haupten die Stahlianer, wenn ſie lehren, daß ſich bey
den aͤußern Empfindungen der Koͤrper blos leidentlich ver-
halte, und nicht durch ſeine eigne Kraft mitwirke.
§. 596.
Bey empfindenden und denkenden Thieren kann man
nicht ſchließen: weil die thieriſchen Bewegungen, die
ihre ſinnlichen Vorſtellungen, Reizungen, Begierden
oder Verabſcheuungen ꝛc. begleiten, Seelenwirkungen
derſelben ſind, ſo koͤnnen ſie keine Nervenwirkungen ſeyn;
und umgekehrt: weil ſie Nervenwirkungen ſeyn koͤnnen;
ſo ſind ſie keine Seelenwirkungen dieſer ſinnlichen Vor-
ſtellungen. §. 592. Aus dem erſten Jrrthume mit
dem zweyten im vorigen §. erwaͤhnten zuſammengenom-
men, iſt vermuthlich die alte irrige Meynung gefloſ-
ſen, die der Verfaſſer des Artikels ſenſibilité im Di-
ctionnaire Encyclopédique erneuret hat, daß es zwey-
erley Seelen in den vernuͤnftigen Thieren geben muͤſſe,
naͤmlich eine verſtaͤndige, von der er die Seelenwir-
kungen, die ſich blos nach pſychologiſchen Geſetzen ent-
wickeln, und eine ſinnliche, von welcher er die Seelen-
wirkungen der aͤußern Empfindungen und uͤbrigen ſinn-
lichen Vorſtellungen, die ſich nach den Geſetzen der
Nervenkraͤfte entwickeln, herleitet: da doch zu dem, was
die Nervenkraͤfte wirken, gar keine Seele erfoderlich iſt.
§. 597.
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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/629>, abgerufen am 24.11.2024.
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