Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

3 Abschn. Der Nerven. Aeußere Empfindungen.
ven, zur Zeit, da ihn die Seele noch empfand, auch ge-
wisse blos thierische Bewegungen veranlasset hätte, und
wenn dieselben nun noch auf den Eindruck erfolgeten, ohne
daß ihn gleichwohl die Seele empfände. Denn in solchem
Falle wäre die blos thierische Bewegung der Beweis, an
welchem es in andern Fällen fehlen würde, daß der Nerve
den äußern sinnlichen Eindruck wirklich empfangen und bis
dahin fortgepflanzet hätte, wo er auf seinem Wege zum
Gehirn in einen Bewegungsnerven, rückwärts vom Ge-
hirne, als welches die eigene Richtung des den Nerven-
stämmen von oben herab beygebrachten sinnlichen Eindrucks
ist, §. 31. vergl. §. 122. reflecktiret worden wäre. Da
nun, wenn der Nerve nicht geschwächet ist, auch hier der
Fall N. 3. nicht zur Erklärung dieser Erscheinung ange-
nommen werden könnte; so müßte in solchem Falle noth-
wendig diese einzige Erklärungsart Statt finden. Man
kann sich einen solchen Fall bey Leuten gedenken, wo man-
che äußere sinnliche Eindrücke in gewisse Nerven, in an-
dern Gliedern Krämpfe erreget haben, und wo sie diesel-
ben Krämpfe noch immer erregen, obgleich die Seele zu-
letzt den Schmerz gewohnt wird, und nicht mehr fühlet.
So können manche Epileptische und Gichtische im Anfange
aus den Empfindungen im Magen, die die Würmer, oder
eine gichtische Schärfe, darinn erregen, ihre Anfälle, wel-
che gemeiniglich blos thierische Wirkungen dieser äußern
sinnlichen Eindrücke in die Magennerven sind, vorher sa-
gen: mit der Zeit aber, wenn diese Krankheiten bey ihnen
einwurzeln, haben sie diese Empfindungen nicht mehr, und
die Zufälle kommen ihnen ganz unvermuthet.

5. Endlich kann auch die öftere Wiederholung einerley
äußerlicher sinnlicher Eindrücke die äußern Empfindungen
dadurch schwächen und vernichten, daß die Stelle des Ge-
hirns, wo der Eindruck die materielle äußere Empfindung
erregen muß, eine solche Veränderung leidet, wodurch die-
se materielle Jdee gehindert wird, sich zu entwickeln. §. 49.
So ist es, wenn die Müller in einer Mühle des Lärms so

gewohnt
E 4

3 Abſchn. Der Nerven. Aeußere Empfindungen.
ven, zur Zeit, da ihn die Seele noch empfand, auch ge-
wiſſe blos thieriſche Bewegungen veranlaſſet haͤtte, und
wenn dieſelben nun noch auf den Eindruck erfolgeten, ohne
daß ihn gleichwohl die Seele empfaͤnde. Denn in ſolchem
Falle waͤre die blos thieriſche Bewegung der Beweis, an
welchem es in andern Faͤllen fehlen wuͤrde, daß der Nerve
den aͤußern ſinnlichen Eindruck wirklich empfangen und bis
dahin fortgepflanzet haͤtte, wo er auf ſeinem Wege zum
Gehirn in einen Bewegungsnerven, ruͤckwaͤrts vom Ge-
hirne, als welches die eigene Richtung des den Nerven-
ſtaͤmmen von oben herab beygebrachten ſinnlichen Eindrucks
iſt, §. 31. vergl. §. 122. reflecktiret worden waͤre. Da
nun, wenn der Nerve nicht geſchwaͤchet iſt, auch hier der
Fall N. 3. nicht zur Erklaͤrung dieſer Erſcheinung ange-
nommen werden koͤnnte; ſo muͤßte in ſolchem Falle noth-
wendig dieſe einzige Erklaͤrungsart Statt finden. Man
kann ſich einen ſolchen Fall bey Leuten gedenken, wo man-
che aͤußere ſinnliche Eindruͤcke in gewiſſe Nerven, in an-
dern Gliedern Kraͤmpfe erreget haben, und wo ſie dieſel-
ben Kraͤmpfe noch immer erregen, obgleich die Seele zu-
letzt den Schmerz gewohnt wird, und nicht mehr fuͤhlet.
So koͤnnen manche Epileptiſche und Gichtiſche im Anfange
aus den Empfindungen im Magen, die die Wuͤrmer, oder
eine gichtiſche Schaͤrfe, darinn erregen, ihre Anfaͤlle, wel-
che gemeiniglich blos thieriſche Wirkungen dieſer aͤußern
ſinnlichen Eindruͤcke in die Magennerven ſind, vorher ſa-
gen: mit der Zeit aber, wenn dieſe Krankheiten bey ihnen
einwurzeln, haben ſie dieſe Empfindungen nicht mehr, und
die Zufaͤlle kommen ihnen ganz unvermuthet.

5. Endlich kann auch die oͤftere Wiederholung einerley
aͤußerlicher ſinnlicher Eindruͤcke die aͤußern Empfindungen
dadurch ſchwaͤchen und vernichten, daß die Stelle des Ge-
hirns, wo der Eindruck die materielle aͤußere Empfindung
erregen muß, eine ſolche Veraͤnderung leidet, wodurch die-
ſe materielle Jdee gehindert wird, ſich zu entwickeln. §. 49.
So iſt es, wenn die Muͤller in einer Muͤhle des Laͤrms ſo

gewohnt
E 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0095" n="71"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">3 Ab&#x017F;chn. Der Nerven. Aeußere Empfindungen.</hi></fw><lb/>
ven, zur Zeit, da ihn die Seele noch empfand, auch ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e blos thieri&#x017F;che Bewegungen veranla&#x017F;&#x017F;et ha&#x0364;tte, und<lb/>
wenn die&#x017F;elben nun noch auf den Eindruck erfolgeten, ohne<lb/>
daß ihn gleichwohl die Seele empfa&#x0364;nde. Denn in &#x017F;olchem<lb/>
Falle wa&#x0364;re die blos thieri&#x017F;che Bewegung der Beweis, an<lb/>
welchem es in andern Fa&#x0364;llen fehlen wu&#x0364;rde, daß der Nerve<lb/>
den a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindruck wirklich empfangen und bis<lb/>
dahin fortgepflanzet ha&#x0364;tte, wo er auf &#x017F;einem Wege zum<lb/>
Gehirn in einen Bewegungsnerven, ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts vom Ge-<lb/>
hirne, als welches die eigene Richtung des den Nerven-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;mmen von oben herab beygebrachten &#x017F;innlichen Eindrucks<lb/>
i&#x017F;t, §. 31. vergl. §. 122. reflecktiret worden wa&#x0364;re. Da<lb/>
nun, wenn der Nerve nicht ge&#x017F;chwa&#x0364;chet i&#x017F;t, auch hier der<lb/>
Fall <hi rendition="#aq">N.</hi> 3. nicht zur Erkla&#x0364;rung die&#x017F;er Er&#x017F;cheinung ange-<lb/>
nommen werden ko&#x0364;nnte; &#x017F;o mu&#x0364;ßte in &#x017F;olchem Falle noth-<lb/>
wendig die&#x017F;e einzige Erkla&#x0364;rungsart Statt finden. Man<lb/>
kann &#x017F;ich einen &#x017F;olchen Fall bey Leuten gedenken, wo man-<lb/>
che a&#x0364;ußere &#x017F;innliche Eindru&#x0364;cke in gewi&#x017F;&#x017F;e Nerven, in an-<lb/>
dern Gliedern Kra&#x0364;mpfe erreget haben, und wo &#x017F;ie die&#x017F;el-<lb/>
ben Kra&#x0364;mpfe noch immer erregen, obgleich die Seele zu-<lb/>
letzt den Schmerz gewohnt wird, und nicht mehr fu&#x0364;hlet.<lb/>
So ko&#x0364;nnen manche Epilepti&#x017F;che und Gichti&#x017F;che im Anfange<lb/>
aus den Empfindungen im Magen, die die Wu&#x0364;rmer, oder<lb/>
eine gichti&#x017F;che Scha&#x0364;rfe, darinn erregen, ihre Anfa&#x0364;lle, wel-<lb/>
che gemeiniglich blos thieri&#x017F;che Wirkungen die&#x017F;er a&#x0364;ußern<lb/>
&#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke in die Magennerven &#x017F;ind, vorher &#x017F;a-<lb/>
gen: mit der Zeit aber, wenn die&#x017F;e Krankheiten bey ihnen<lb/>
einwurzeln, haben &#x017F;ie die&#x017F;e Empfindungen nicht mehr, und<lb/>
die Zufa&#x0364;lle kommen ihnen ganz unvermuthet.</p><lb/>
                <p>5. Endlich kann auch die o&#x0364;ftere Wiederholung einerley<lb/>
a&#x0364;ußerlicher &#x017F;innlicher Eindru&#x0364;cke die a&#x0364;ußern Empfindungen<lb/>
dadurch &#x017F;chwa&#x0364;chen und vernichten, daß die Stelle des Ge-<lb/>
hirns, wo der Eindruck die materielle a&#x0364;ußere Empfindung<lb/>
erregen muß, eine &#x017F;olche Vera&#x0364;nderung leidet, wodurch die-<lb/>
&#x017F;e materielle Jdee gehindert wird, &#x017F;ich zu entwickeln. §. 49.<lb/>
So i&#x017F;t es, wenn die Mu&#x0364;ller in einer Mu&#x0364;hle des La&#x0364;rms &#x017F;o<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 4</fw><fw place="bottom" type="catch">gewohnt</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0095] 3 Abſchn. Der Nerven. Aeußere Empfindungen. ven, zur Zeit, da ihn die Seele noch empfand, auch ge- wiſſe blos thieriſche Bewegungen veranlaſſet haͤtte, und wenn dieſelben nun noch auf den Eindruck erfolgeten, ohne daß ihn gleichwohl die Seele empfaͤnde. Denn in ſolchem Falle waͤre die blos thieriſche Bewegung der Beweis, an welchem es in andern Faͤllen fehlen wuͤrde, daß der Nerve den aͤußern ſinnlichen Eindruck wirklich empfangen und bis dahin fortgepflanzet haͤtte, wo er auf ſeinem Wege zum Gehirn in einen Bewegungsnerven, ruͤckwaͤrts vom Ge- hirne, als welches die eigene Richtung des den Nerven- ſtaͤmmen von oben herab beygebrachten ſinnlichen Eindrucks iſt, §. 31. vergl. §. 122. reflecktiret worden waͤre. Da nun, wenn der Nerve nicht geſchwaͤchet iſt, auch hier der Fall N. 3. nicht zur Erklaͤrung dieſer Erſcheinung ange- nommen werden koͤnnte; ſo muͤßte in ſolchem Falle noth- wendig dieſe einzige Erklaͤrungsart Statt finden. Man kann ſich einen ſolchen Fall bey Leuten gedenken, wo man- che aͤußere ſinnliche Eindruͤcke in gewiſſe Nerven, in an- dern Gliedern Kraͤmpfe erreget haben, und wo ſie dieſel- ben Kraͤmpfe noch immer erregen, obgleich die Seele zu- letzt den Schmerz gewohnt wird, und nicht mehr fuͤhlet. So koͤnnen manche Epileptiſche und Gichtiſche im Anfange aus den Empfindungen im Magen, die die Wuͤrmer, oder eine gichtiſche Schaͤrfe, darinn erregen, ihre Anfaͤlle, wel- che gemeiniglich blos thieriſche Wirkungen dieſer aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke in die Magennerven ſind, vorher ſa- gen: mit der Zeit aber, wenn dieſe Krankheiten bey ihnen einwurzeln, haben ſie dieſe Empfindungen nicht mehr, und die Zufaͤlle kommen ihnen ganz unvermuthet. 5. Endlich kann auch die oͤftere Wiederholung einerley aͤußerlicher ſinnlicher Eindruͤcke die aͤußern Empfindungen dadurch ſchwaͤchen und vernichten, daß die Stelle des Ge- hirns, wo der Eindruck die materielle aͤußere Empfindung erregen muß, eine ſolche Veraͤnderung leidet, wodurch die- ſe materielle Jdee gehindert wird, ſich zu entwickeln. §. 49. So iſt es, wenn die Muͤller in einer Muͤhle des Laͤrms ſo gewohnt E 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/95
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/95>, abgerufen am 10.05.2024.