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Unzer, Johann August: Gedanken vom Einfluß der Seele in ihren Körper. Halle (Saale), 1746.

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und auf denen Dachrinnen reiten. Jst es
nicht wahr? wenn diese Personen beym Wa-
chen dergleichen thun solten, so müsten sie erst
die Regeln lernen, nach welchen man auf ei-
ner schiefliegenden Fläche hingehen, und auf
einer Dachrinne hin und her rücken kan, oh-
ne schwindlicht zu werden. Ja was bemer-
cken wir nicht, an uns selber! Wenn wir von
einem Orte zum andern gehen; so beobachten
wir auf das allergenauste die Regeln, welche
zum Gehen erfordert werden. Wir richten ei-
nen ieden Schritt so ein, daß wir unsern Kör-
per ein wenig vorwärts biegen, damit das Cen-
trum gravitatis ausserhalb der Linie fällt, wel-
che auf den Boden zwischen denen Füssen von
einem zum andern gezogen werden kan. Wir
fangen an zu fallen. Darum schlagen wir
den einen Fuß vor, welches allemal auf die
Art geschiehet, daß unser Mittelpunkt der
Schwere in die Linie fällt, die zwischen denen
Füssen gezogen werden kan. Fraget doch den
ersten Bauer, der euch begegnet, nach welchen
Regeln er dahin walle? Jch bin gut davor
er wird sich des Lachens nicht enthalten kön-
nen: denn er glaubt es gehöre gar nichts wei-
ter zum Gehen, als daß man gehe. Wenn
man die Regeln lernen will, wenn man sich
ihrer will bewust seyn; so muß man die Na-
turlehre um Rath fragen. Wer wolte aber
nun deshalb sagen, ein Bauer könne nicht ge-
hen, weil seine Sele nicht wisse, wie er gehen

muß.

und auf denen Dachrinnen reiten. Jſt es
nicht wahr? wenn dieſe Perſonen beym Wa-
chen dergleichen thun ſolten, ſo muͤſten ſie erſt
die Regeln lernen, nach welchen man auf ei-
ner ſchiefliegenden Flaͤche hingehen, und auf
einer Dachrinne hin und her ruͤcken kan, oh-
ne ſchwindlicht zu werden. Ja was bemer-
cken wir nicht, an uns ſelber! Wenn wir von
einem Orte zum andern gehen; ſo beobachten
wir auf das allergenauſte die Regeln, welche
zum Gehen erfordert werden. Wir richten ei-
nen ieden Schritt ſo ein, daß wir unſern Koͤr-
per ein wenig vorwaͤrts biegen, damit das Cen-
trum gravitatis auſſerhalb der Linie faͤllt, wel-
che auf den Boden zwiſchen denen Fuͤſſen von
einem zum andern gezogen werden kan. Wir
fangen an zu fallen. Darum ſchlagen wir
den einen Fuß vor, welches allemal auf die
Art geſchiehet, daß unſer Mittelpunkt der
Schwere in die Linie faͤllt, die zwiſchen denen
Fuͤſſen gezogen werden kan. Fraget doch den
erſten Bauer, der euch begegnet, nach welchen
Regeln er dahin walle? Jch bin gut davor
er wird ſich des Lachens nicht enthalten koͤn-
nen: denn er glaubt es gehoͤre gar nichts wei-
ter zum Gehen, als daß man gehe. Wenn
man die Regeln lernen will, wenn man ſich
ihrer will bewuſt ſeyn; ſo muß man die Na-
turlehre um Rath fragen. Wer wolte aber
nun deshalb ſagen, ein Bauer koͤnne nicht ge-
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[146/0176] und auf denen Dachrinnen reiten. Jſt es nicht wahr? wenn dieſe Perſonen beym Wa- chen dergleichen thun ſolten, ſo muͤſten ſie erſt die Regeln lernen, nach welchen man auf ei- ner ſchiefliegenden Flaͤche hingehen, und auf einer Dachrinne hin und her ruͤcken kan, oh- ne ſchwindlicht zu werden. Ja was bemer- cken wir nicht, an uns ſelber! Wenn wir von einem Orte zum andern gehen; ſo beobachten wir auf das allergenauſte die Regeln, welche zum Gehen erfordert werden. Wir richten ei- nen ieden Schritt ſo ein, daß wir unſern Koͤr- per ein wenig vorwaͤrts biegen, damit das Cen- trum gravitatis auſſerhalb der Linie faͤllt, wel- che auf den Boden zwiſchen denen Fuͤſſen von einem zum andern gezogen werden kan. Wir fangen an zu fallen. Darum ſchlagen wir den einen Fuß vor, welches allemal auf die Art geſchiehet, daß unſer Mittelpunkt der Schwere in die Linie faͤllt, die zwiſchen denen Fuͤſſen gezogen werden kan. Fraget doch den erſten Bauer, der euch begegnet, nach welchen Regeln er dahin walle? Jch bin gut davor er wird ſich des Lachens nicht enthalten koͤn- nen: denn er glaubt es gehoͤre gar nichts wei- ter zum Gehen, als daß man gehe. Wenn man die Regeln lernen will, wenn man ſich ihrer will bewuſt ſeyn; ſo muß man die Na- turlehre um Rath fragen. Wer wolte aber nun deshalb ſagen, ein Bauer koͤnne nicht ge- hen, weil ſeine Sele nicht wiſſe, wie er gehen muß.

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Gedanken vom Einfluß der Seele in ihren Körper. Halle (Saale), 1746, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_gedanken_1746/176>, abgerufen am 10.05.2024.