Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
16. Wenn zwar im Laufe der individuellen Entwickelung eines jeden organischen Wesens manche Theile vorzüglich ausge- bildet und kürzere oder längere Zeit darauf wiederum rückgebil- det werden, so zeigen sich doch in dieser Beziehung in der Klasse der Wirbellosen so auffallende Veränderungen, wie in keinem der bis jetzt untersuchten Wirbelthiere. Merkwürdiger Weise wer- den aber hier fast alle diese Metamorphosen durch den in der Physiologie der Pflanzen und der Thiere gleich wichtigen Häutungs- process vollendet. Hierher gehört z. B. das Verschmelzen von früher gesonderten Ganglien, die so bedeutende Verwandlung des äusseren Habitus, vorzüglich der Extremitäten, so dass der Em- bryo oder das junge Thier dem ausgebildeten Thiere ganz und gar nicht ähnlich sieht, wie besonders in neuester Zeit die schö- nen Beohachtungen von Nordmann und Burmeister gelehrt haben. Das Ablegen von früher existirenden Sehorganen, welches Ehren- berg beobachtet hat, ist wegen der hohen Dignität der Sinnes- werkzeuge überhaupt noch merkwürdiger fast, als das von Thom- son u. A. wahrgenommene Factum, dass Thiere, welche die übrige Zeit ihres Lebens einer jeden weiteren Locomotion ermangeln, als Embryonen frei herumschwimmen. Doch lässt sich anderseits nicht läugnen, dass wenigstens analoge Erscheinungen auch bei den Wir- belthieren vorkommen, wie z. B. die Metamorphosen der Kiemen, der Extremitäten, der Batrachier u. dgl. m. Auch haben Embryo- nen des Maulwurfes nach meinen Beebachtungen relativ um so grössere und ausgebildetere Augen, je jünger sie sind.
Wir haben hier die wichtigsten nach den bisherigen siche- ren und wissenschaftlichen Erfahrungen zu entnehmenden Unter- schiede der individuellen Entwickelung bei Wirbellosen und Wir- belthieren hervorgehoben. Künftige Beobachtungen werden noch Vieles berichtigen, Manches aufhellen, Manches hinzufügen, Man- ches in besserem Lichte darstellen. Vor Allem muss noch die Entwickelungsgeschichte der Wirbellosen mehr im Zusammen- hange untersucht und aufgefasst werden, wenn die vielen Lücken unseres Wissens in dieser Rücksicht einigermassen ausgefüllt wer- den sollen. Die obige Darstellung ist nach folgenden Werken, zum Theil aber auch aus eigenen Erfahrungen, welche wir an ei- nem anderen Orte speciell erzählen werden, entnommen.
Wichtigste Quellen. -- M. Herold Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Eie. 1824. fol. --
Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
16. Wenn zwar im Laufe der individuellen Entwickelung eines jeden organischen Wesens manche Theile vorzüglich ausge- bildet und kürzere oder längere Zeit darauf wiederum rückgebil- det werden, so zeigen sich doch in dieser Beziehung in der Klasse der Wirbellosen so auffallende Veränderungen, wie in keinem der bis jetzt untersuchten Wirbelthiere. Merkwürdiger Weise wer- den aber hier fast alle diese Metamorphosen durch den in der Physiologie der Pflanzen und der Thiere gleich wichtigen Häutungs- proceſs vollendet. Hierher gehört z. B. das Verschmelzen von früher gesonderten Ganglien, die so bedeutende Verwandlung des äuſseren Habitus, vorzüglich der Extremitäten, so daſs der Em- bryo oder das junge Thier dem ausgebildeten Thiere ganz und gar nicht ähnlich sieht, wie besonders in neuester Zeit die schö- nen Beohachtungen von Nordmann und Burmeister gelehrt haben. Das Ablegen von früher existirenden Sehorganen, welches Ehren- berg beobachtet hat, ist wegen der hohen Dignität der Sinnes- werkzeuge überhaupt noch merkwürdiger fast, als das von Thom- son u. A. wahrgenommene Factum, daſs Thiere, welche die übrige Zeit ihres Lebens einer jeden weiteren Locomotion ermangeln, als Embryonen frei herumschwimmen. Doch läſst sich anderseits nicht läugnen, daſs wenigstens analoge Erscheinungen auch bei den Wir- belthieren vorkommen, wie z. B. die Metamorphosen der Kiemen, der Extremitäten, der Batrachier u. dgl. m. Auch haben Embryo- nen des Maulwurfes nach meinen Beebachtungen relativ um so gröſsere und ausgebildetere Augen, je jünger sie sind.
Wir haben hier die wichtigsten nach den bisherigen siche- ren und wissenschaftlichen Erfahrungen zu entnehmenden Unter- schiede der individuellen Entwickelung bei Wirbellosen und Wir- belthieren hervorgehoben. Künftige Beobachtungen werden noch Vieles berichtigen, Manches aufhellen, Manches hinzufügen, Man- ches in besserem Lichte darstellen. Vor Allem muſs noch die Entwickelungsgeschichte der Wirbellosen mehr im Zusammen- hange untersucht und aufgefaſst werden, wenn die vielen Lücken unseres Wissens in dieser Rücksicht einigermaſsen ausgefüllt wer- den sollen. Die obige Darstellung ist nach folgenden Werken, zum Theil aber auch aus eigenen Erfahrungen, welche wir an ei- nem anderen Orte speciell erzählen werden, entnommen.
Wichtigste Quellen. — M. Herold Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Eie. 1824. fol. —
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Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
16. Wenn zwar im Laufe der individuellen Entwickelung
eines jeden organischen Wesens manche Theile vorzüglich ausge-
bildet und kürzere oder längere Zeit darauf wiederum rückgebil-
det werden, so zeigen sich doch in dieser Beziehung in der Klasse
der Wirbellosen so auffallende Veränderungen, wie in keinem der
bis jetzt untersuchten Wirbelthiere. Merkwürdiger Weise wer-
den aber hier fast alle diese Metamorphosen durch den in der
Physiologie der Pflanzen und der Thiere gleich wichtigen Häutungs-
proceſs vollendet. Hierher gehört z. B. das Verschmelzen von
früher gesonderten Ganglien, die so bedeutende Verwandlung des
äuſseren Habitus, vorzüglich der Extremitäten, so daſs der Em-
bryo oder das junge Thier dem ausgebildeten Thiere ganz und
gar nicht ähnlich sieht, wie besonders in neuester Zeit die schö-
nen Beohachtungen von Nordmann und Burmeister gelehrt haben.
Das Ablegen von früher existirenden Sehorganen, welches Ehren-
berg beobachtet hat, ist wegen der hohen Dignität der Sinnes-
werkzeuge überhaupt noch merkwürdiger fast, als das von Thom-
son u. A. wahrgenommene Factum, daſs Thiere, welche die übrige
Zeit ihres Lebens einer jeden weiteren Locomotion ermangeln, als
Embryonen frei herumschwimmen. Doch läſst sich anderseits nicht
läugnen, daſs wenigstens analoge Erscheinungen auch bei den Wir-
belthieren vorkommen, wie z. B. die Metamorphosen der Kiemen,
der Extremitäten, der Batrachier u. dgl. m. Auch haben Embryo-
nen des Maulwurfes nach meinen Beebachtungen relativ um so
gröſsere und ausgebildetere Augen, je jünger sie sind.
Wir haben hier die wichtigsten nach den bisherigen siche-
ren und wissenschaftlichen Erfahrungen zu entnehmenden Unter-
schiede der individuellen Entwickelung bei Wirbellosen und Wir-
belthieren hervorgehoben. Künftige Beobachtungen werden noch
Vieles berichtigen, Manches aufhellen, Manches hinzufügen, Man-
ches in besserem Lichte darstellen. Vor Allem muſs noch die
Entwickelungsgeschichte der Wirbellosen mehr im Zusammen-
hange untersucht und aufgefaſst werden, wenn die vielen Lücken
unseres Wissens in dieser Rücksicht einigermaſsen ausgefüllt wer-
den sollen. Die obige Darstellung ist nach folgenden Werken,
zum Theil aber auch aus eigenen Erfahrungen, welche wir an ei-
nem anderen Orte speciell erzählen werden, entnommen.
Wichtigste Quellen. — M. Herold Untersuchungen über die
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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/638>, abgerufen am 22.11.2024.
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