Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

und Bürger wurden erst durch die Gräuel der Jako¬
binergewalt zurückgeschreckt, Fichte'n machte Napoleons
unterdrückende Eroberung zum Gegner; wir nennen die
Schriftsteller, weil durch ihre bekannte Namen und Bei¬
spiele am leichtesten ganze Klassen bezeichnet werden.
So ließ die in raschen Verwandlungen stets wachsende
Bewegung keinen Augenblick nach, ihre deutschen An¬
hänger abzustoßen und zu verlieren, bis endlich selbst
die hartnäckigsten bekehrt oder erschöpft waren. Nicht
gerade die bessere Gesinnung und reifere Einsicht beding¬
ten jedesmal das frühere Loslassen; die persönlichen Ein¬
flüsse, Lagen, Aussichten und Erfahrungen wirkten auf
die mannigfachsten Gemüthsarten, wie auf die über¬
kommenen und gewählten Denkweisen, sehr verschieden
ein. Die wunderbarsten Wahlverwandtschaften wurden
wach, die größten Widersprüche hielten sich eng ver¬
knüpft, und der innerste Antrieb verbarg sich unter den
räthselhaftesten Erscheinungen. Merkwürdig ist es, in
diesem vielverschlungenen Gemisch und Wechsel die Haupt¬
züge des deutschen Karakters im Wesentlichen fast immer
verfolgen und fast als unzerstörbar nachweisen zu können,
woraus auch den trübsten Verirrungen noch ein leuch¬
tender Funken bleibt, dem die reinste Theilnahme sich
widmen kann.

Diese Theilnahme wird unstreitig auch dem Manne
nicht fehlen, mit welchem die nachfolgenden Denkblätter
sich beschäftigen. Wir haben die eignen Briefschaften

und Buͤrger wurden erſt durch die Graͤuel der Jako¬
binergewalt zuruͤckgeſchreckt, Fichte'n machte Napoleons
unterdruͤckende Eroberung zum Gegner; wir nennen die
Schriftſteller, weil durch ihre bekannte Namen und Bei¬
ſpiele am leichteſten ganze Klaſſen bezeichnet werden.
So ließ die in raſchen Verwandlungen ſtets wachſende
Bewegung keinen Augenblick nach, ihre deutſchen An¬
haͤnger abzuſtoßen und zu verlieren, bis endlich ſelbſt
die hartnaͤckigſten bekehrt oder erſchoͤpft waren. Nicht
gerade die beſſere Geſinnung und reifere Einſicht beding¬
ten jedesmal das fruͤhere Loslaſſen; die perſoͤnlichen Ein¬
fluͤſſe, Lagen, Ausſichten und Erfahrungen wirkten auf
die mannigfachſten Gemuͤthsarten, wie auf die uͤber¬
kommenen und gewaͤhlten Denkweiſen, ſehr verſchieden
ein. Die wunderbarſten Wahlverwandtſchaften wurden
wach, die groͤßten Widerſpruͤche hielten ſich eng ver¬
knuͤpft, und der innerſte Antrieb verbarg ſich unter den
raͤthſelhafteſten Erſcheinungen. Merkwuͤrdig iſt es, in
dieſem vielverſchlungenen Gemiſch und Wechſel die Haupt¬
zuͤge des deutſchen Karakters im Weſentlichen faſt immer
verfolgen und faſt als unzerſtoͤrbar nachweiſen zu koͤnnen,
woraus auch den truͤbſten Verirrungen noch ein leuch¬
tender Funken bleibt, dem die reinſte Theilnahme ſich
widmen kann.

Dieſe Theilnahme wird unſtreitig auch dem Manne
nicht fehlen, mit welchem die nachfolgenden Denkblaͤtter
ſich beſchaͤftigen. Wir haben die eignen Briefſchaften

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0018" n="4"/>
und Bu&#x0364;rger wurden er&#x017F;t durch die Gra&#x0364;uel der Jako¬<lb/>
binergewalt zuru&#x0364;ckge&#x017F;chreckt, Fichte'n machte Napoleons<lb/>
unterdru&#x0364;ckende Eroberung zum Gegner; wir nennen die<lb/>
Schrift&#x017F;teller, weil durch ihre bekannte Namen und Bei¬<lb/>
&#x017F;piele am leichte&#x017F;ten ganze Kla&#x017F;&#x017F;en bezeichnet werden.<lb/>
So ließ die in ra&#x017F;chen Verwandlungen &#x017F;tets wach&#x017F;ende<lb/>
Bewegung keinen Augenblick nach, ihre deut&#x017F;chen An¬<lb/>
ha&#x0364;nger abzu&#x017F;toßen und zu verlieren, bis endlich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die hartna&#x0364;ckig&#x017F;ten bekehrt oder er&#x017F;cho&#x0364;pft waren. Nicht<lb/>
gerade die be&#x017F;&#x017F;ere Ge&#x017F;innung und reifere Ein&#x017F;icht beding¬<lb/>
ten jedesmal das fru&#x0364;here Losla&#x017F;&#x017F;en; die per&#x017F;o&#x0364;nlichen Ein¬<lb/>
flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, Lagen, Aus&#x017F;ichten und Erfahrungen wirkten auf<lb/>
die mannigfach&#x017F;ten Gemu&#x0364;thsarten, wie auf die u&#x0364;ber¬<lb/>
kommenen und gewa&#x0364;hlten Denkwei&#x017F;en, &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden<lb/>
ein. Die wunderbar&#x017F;ten Wahlverwandt&#x017F;chaften wurden<lb/>
wach, die gro&#x0364;ßten Wider&#x017F;pru&#x0364;che hielten &#x017F;ich eng ver¬<lb/>
knu&#x0364;pft, und der inner&#x017F;te Antrieb verbarg &#x017F;ich unter den<lb/>
ra&#x0364;th&#x017F;elhafte&#x017F;ten Er&#x017F;cheinungen. Merkwu&#x0364;rdig i&#x017F;t es, in<lb/>
die&#x017F;em vielver&#x017F;chlungenen Gemi&#x017F;ch und Wech&#x017F;el die Haupt¬<lb/>
zu&#x0364;ge des deut&#x017F;chen Karakters im We&#x017F;entlichen fa&#x017F;t immer<lb/>
verfolgen und fa&#x017F;t als unzer&#x017F;to&#x0364;rbar nachwei&#x017F;en zu ko&#x0364;nnen,<lb/>
woraus auch den tru&#x0364;b&#x017F;ten Verirrungen noch ein leuch¬<lb/>
tender Funken bleibt, dem die rein&#x017F;te Theilnahme &#x017F;ich<lb/>
widmen kann.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Theilnahme wird un&#x017F;treitig auch dem Manne<lb/>
nicht fehlen, mit welchem die nachfolgenden Denkbla&#x0364;tter<lb/>
&#x017F;ich be&#x017F;cha&#x0364;ftigen. Wir haben die eignen Brief&#x017F;chaften<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0018] und Buͤrger wurden erſt durch die Graͤuel der Jako¬ binergewalt zuruͤckgeſchreckt, Fichte'n machte Napoleons unterdruͤckende Eroberung zum Gegner; wir nennen die Schriftſteller, weil durch ihre bekannte Namen und Bei¬ ſpiele am leichteſten ganze Klaſſen bezeichnet werden. So ließ die in raſchen Verwandlungen ſtets wachſende Bewegung keinen Augenblick nach, ihre deutſchen An¬ haͤnger abzuſtoßen und zu verlieren, bis endlich ſelbſt die hartnaͤckigſten bekehrt oder erſchoͤpft waren. Nicht gerade die beſſere Geſinnung und reifere Einſicht beding¬ ten jedesmal das fruͤhere Loslaſſen; die perſoͤnlichen Ein¬ fluͤſſe, Lagen, Ausſichten und Erfahrungen wirkten auf die mannigfachſten Gemuͤthsarten, wie auf die uͤber¬ kommenen und gewaͤhlten Denkweiſen, ſehr verſchieden ein. Die wunderbarſten Wahlverwandtſchaften wurden wach, die groͤßten Widerſpruͤche hielten ſich eng ver¬ knuͤpft, und der innerſte Antrieb verbarg ſich unter den raͤthſelhafteſten Erſcheinungen. Merkwuͤrdig iſt es, in dieſem vielverſchlungenen Gemiſch und Wechſel die Haupt¬ zuͤge des deutſchen Karakters im Weſentlichen faſt immer verfolgen und faſt als unzerſtoͤrbar nachweiſen zu koͤnnen, woraus auch den truͤbſten Verirrungen noch ein leuch¬ tender Funken bleibt, dem die reinſte Theilnahme ſich widmen kann. Dieſe Theilnahme wird unſtreitig auch dem Manne nicht fehlen, mit welchem die nachfolgenden Denkblaͤtter ſich beſchaͤftigen. Wir haben die eignen Briefſchaften

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/18
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/18>, abgerufen am 21.11.2024.