ten zu wollen, denn sie lassen sich immer durch eine eben so ungereimte Voraussetzung, als die Behauptung selbst ist, vertheidigen. Der Aberglaube kann durch Erfahrung wohl in gewissen Fällen beschämt, aber nicht überzeugt werden, weil er immer durch das Nichter¬ fahrbare sich entschuldigen kann. Ich machte auch nach¬ her in meinem ganzen Leben nicht mehr den Versuch, etwas sehen zu wollen, was, wenn ich es sähe, mir nur den Verlust meines Verstandesgebrauchs anzeigen könnte.
Nachdem ich völlig drei Jahre alt war, wurde ich in eine gewöhnliche Schule geschickt. Hier glaubte ich nun die gewöhnlichen Dogmen eben so leicht, als ich die Gespenster nicht glaubte; denn mein Vater hatte sich nicht gegen sie erklärt. Mit Demüthigung erinnere ich mich noch, daß ich gar nichts Empörendes darin fand, daß ein Mensch, der an dem Glaubensbekenntniß des heiligen Athanasius zweifelte, eben so behandelt würde, als wenn er die größten Uebelthaten begangen hätte. Mein Vater, der damals nichts weniger als ein Zweifler war, wollte mich dadurch Toleranz lehren, daß er in der angenommenen Rolle eines Ketzers oder eines Frei¬ geists gegen die Dogmen mit mir disputirte, und ich vergoß häufig Thränen, wenn es mir an Gründen fehlte, ihn zu widerlegen. Der Grund meiner leichten Ueberzeugung lag in dem Gefühle für Wahrhaftigkeit; ich konnte nicht ahnen, daß Millionen Menschen eine
ten zu wollen, denn ſie laſſen ſich immer durch eine eben ſo ungereimte Vorausſetzung, als die Behauptung ſelbſt iſt, vertheidigen. Der Aberglaube kann durch Erfahrung wohl in gewiſſen Faͤllen beſchaͤmt, aber nicht uͤberzeugt werden, weil er immer durch das Nichter¬ fahrbare ſich entſchuldigen kann. Ich machte auch nach¬ her in meinem ganzen Leben nicht mehr den Verſuch, etwas ſehen zu wollen, was, wenn ich es ſaͤhe, mir nur den Verluſt meines Verſtandesgebrauchs anzeigen koͤnnte.
Nachdem ich voͤllig drei Jahre alt war, wurde ich in eine gewoͤhnliche Schule geſchickt. Hier glaubte ich nun die gewoͤhnlichen Dogmen eben ſo leicht, als ich die Geſpenſter nicht glaubte; denn mein Vater hatte ſich nicht gegen ſie erklaͤrt. Mit Demuͤthigung erinnere ich mich noch, daß ich gar nichts Empoͤrendes darin fand, daß ein Menſch, der an dem Glaubensbekenntniß des heiligen Athanaſius zweifelte, eben ſo behandelt wuͤrde, als wenn er die groͤßten Uebelthaten begangen haͤtte. Mein Vater, der damals nichts weniger als ein Zweifler war, wollte mich dadurch Toleranz lehren, daß er in der angenommenen Rolle eines Ketzers oder eines Frei¬ geiſts gegen die Dogmen mit mir disputirte, und ich vergoß haͤufig Thraͤnen, wenn es mir an Gruͤnden fehlte, ihn zu widerlegen. Der Grund meiner leichten Ueberzeugung lag in dem Gefuͤhle fuͤr Wahrhaftigkeit; ich konnte nicht ahnen, daß Millionen Menſchen eine
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ten zu wollen, denn ſie laſſen ſich immer durch eine
eben ſo ungereimte Vorausſetzung, als die Behauptung
ſelbſt iſt, vertheidigen. Der Aberglaube kann durch
Erfahrung wohl in gewiſſen Faͤllen beſchaͤmt, aber nicht
uͤberzeugt werden, weil er immer durch das Nichter¬
fahrbare ſich entſchuldigen kann. Ich machte auch nach¬
her in meinem ganzen Leben nicht mehr den Verſuch,
etwas ſehen zu wollen, was, wenn ich es ſaͤhe, mir
nur den Verluſt meines Verſtandesgebrauchs anzeigen
koͤnnte.
Nachdem ich voͤllig drei Jahre alt war, wurde ich
in eine gewoͤhnliche Schule geſchickt. Hier glaubte ich
nun die gewoͤhnlichen Dogmen eben ſo leicht, als ich die
Geſpenſter nicht glaubte; denn mein Vater hatte ſich
nicht gegen ſie erklaͤrt. Mit Demuͤthigung erinnere ich
mich noch, daß ich gar nichts Empoͤrendes darin fand,
daß ein Menſch, der an dem Glaubensbekenntniß des
heiligen Athanaſius zweifelte, eben ſo behandelt wuͤrde,
als wenn er die groͤßten Uebelthaten begangen haͤtte.
Mein Vater, der damals nichts weniger als ein Zweifler
war, wollte mich dadurch Toleranz lehren, daß er in
der angenommenen Rolle eines Ketzers oder eines Frei¬
geiſts gegen die Dogmen mit mir disputirte, und ich
vergoß haͤufig Thraͤnen, wenn es mir an Gruͤnden
fehlte, ihn zu widerlegen. Der Grund meiner leichten
Ueberzeugung lag in dem Gefuͤhle fuͤr Wahrhaftigkeit;
ich konnte nicht ahnen, daß Millionen Menſchen eine
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/231>, abgerufen am 26.11.2024.
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