Gefühls der mathematischen Evidenz, hatte es bei mir mit der Einsicht in die nothwendige Unterwerfung unter das strenge Recht, welche jenem Gefühl der Evidenz erst ein Jahr nachher erfolgte. Sehr frühe hatte ich die Erzählung aus Xenophons Cyropädie von den beiden Knaben, deren beide Röcke sich verwechselt paßten, ge¬ lesen, aber bis in mein siebenzehntes Jahr konnte ich die Richtigkeit des Urtheils des Persers über Cyrus Entscheidung nicht einsehen. Ich erinnere mich aber keines so plötzlichen Ueberganges zur Einsicht, wie bei der Mathematik. Das Lesen der Gedichte Ossians und der Schriften Shaftsbury's, um welcher beiden Schriftsteller willen ich Englisch verstehen zu lernen suchte, hatte den stärksten mir erinnerlichen Einfluß auf die Bildung meiner moralischen Gefühle, und bereitete die deutlichere Einsicht vor.
Ehe ich aber noch Kant's Kritik der reinen Vernunft las, so wurde ich durch Mendelsohn's schöne und Sulzer's klare Darstellung mehrerer Sätze der Wolfischen Philosophie immer mehr für sie gewon¬ nen, und ich bemühte mich, sie unumstößlich zu be¬ gründen. Das Studium von Lambert's Organon, von Spinoza's nachgelassenen Schriften, und vor allem eine Fertigkeit in der Dialektik, die ich mir in den Disputirübungen mit meinem Freunde erworben hatte, führten mich auf viele Mängel in Wolf's System, und besonders empfand ich, seitdem ich die Evidenz der
Gefuͤhls der mathematiſchen Evidenz, hatte es bei mir mit der Einſicht in die nothwendige Unterwerfung unter das ſtrenge Recht, welche jenem Gefuͤhl der Evidenz erſt ein Jahr nachher erfolgte. Sehr fruͤhe hatte ich die Erzaͤhlung aus Xenophons Cyropaͤdie von den beiden Knaben, deren beide Roͤcke ſich verwechſelt paßten, ge¬ leſen, aber bis in mein ſiebenzehntes Jahr konnte ich die Richtigkeit des Urtheils des Perſers uͤber Cyrus Entſcheidung nicht einſehen. Ich erinnere mich aber keines ſo ploͤtzlichen Ueberganges zur Einſicht, wie bei der Mathematik. Das Leſen der Gedichte Oſſians und der Schriften Shaftsbury's, um welcher beiden Schriftſteller willen ich Engliſch verſtehen zu lernen ſuchte, hatte den ſtaͤrkſten mir erinnerlichen Einfluß auf die Bildung meiner moraliſchen Gefuͤhle, und bereitete die deutlichere Einſicht vor.
Ehe ich aber noch Kant's Kritik der reinen Vernunft las, ſo wurde ich durch Mendelſohn's ſchoͤne und Sulzer's klare Darſtellung mehrerer Saͤtze der Wolfiſchen Philoſophie immer mehr fuͤr ſie gewon¬ nen, und ich bemuͤhte mich, ſie unumſtoͤßlich zu be¬ gruͤnden. Das Studium von Lambert's Organon, von Spinoza's nachgelaſſenen Schriften, und vor allem eine Fertigkeit in der Dialektik, die ich mir in den Disputiruͤbungen mit meinem Freunde erworben hatte, fuͤhrten mich auf viele Maͤngel in Wolf's Syſtem, und beſonders empfand ich, ſeitdem ich die Evidenz der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0250"n="236"/>
Gefuͤhls der mathematiſchen Evidenz, hatte es bei mir<lb/>
mit der Einſicht in die nothwendige Unterwerfung unter<lb/>
das ſtrenge Recht, welche jenem Gefuͤhl der Evidenz<lb/>
erſt ein Jahr nachher erfolgte. Sehr fruͤhe hatte ich<lb/>
die Erzaͤhlung aus Xenophons Cyropaͤdie von den beiden<lb/>
Knaben, deren beide Roͤcke ſich verwechſelt paßten, ge¬<lb/>
leſen, aber bis in mein ſiebenzehntes Jahr konnte ich<lb/>
die Richtigkeit des Urtheils des Perſers uͤber Cyrus<lb/>
Entſcheidung nicht einſehen. Ich erinnere mich aber<lb/>
keines ſo ploͤtzlichen Ueberganges zur Einſicht, wie bei<lb/>
der Mathematik. Das Leſen der Gedichte <hirendition="#g">Oſſians</hi><lb/>
und der Schriften <hirendition="#g">Shaftsbury's</hi>, um welcher beiden<lb/>
Schriftſteller willen ich Engliſch verſtehen zu lernen<lb/>ſuchte, hatte den ſtaͤrkſten mir erinnerlichen Einfluß auf<lb/>
die Bildung meiner moraliſchen Gefuͤhle, und bereitete<lb/>
die deutlichere Einſicht vor.</p><lb/><p>Ehe ich aber noch <hirendition="#g">Kant's Kritik der reinen<lb/>
Vernunft</hi> las, ſo wurde ich durch <hirendition="#g">Mendelſohn's</hi><lb/>ſchoͤne und <hirendition="#g">Sulzer's</hi> klare Darſtellung mehrerer Saͤtze<lb/>
der Wolfiſchen Philoſophie immer mehr fuͤr ſie gewon¬<lb/>
nen, und ich bemuͤhte mich, ſie unumſtoͤßlich zu be¬<lb/>
gruͤnden. Das Studium von <hirendition="#g">Lambert</hi>'<hirendition="#g">s Organon</hi>,<lb/>
von <hirendition="#g">Spinoza</hi>'<hirendition="#g">s</hi> nachgelaſſenen Schriften, und vor<lb/>
allem eine Fertigkeit in der Dialektik, die ich mir in<lb/>
den Disputiruͤbungen mit meinem Freunde erworben<lb/>
hatte, fuͤhrten mich <choice><sic>anf</sic><corr>auf</corr></choice> viele Maͤngel in Wolf's Syſtem,<lb/>
und beſonders empfand ich, ſeitdem ich die Evidenz der<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[236/0250]
Gefuͤhls der mathematiſchen Evidenz, hatte es bei mir
mit der Einſicht in die nothwendige Unterwerfung unter
das ſtrenge Recht, welche jenem Gefuͤhl der Evidenz
erſt ein Jahr nachher erfolgte. Sehr fruͤhe hatte ich
die Erzaͤhlung aus Xenophons Cyropaͤdie von den beiden
Knaben, deren beide Roͤcke ſich verwechſelt paßten, ge¬
leſen, aber bis in mein ſiebenzehntes Jahr konnte ich
die Richtigkeit des Urtheils des Perſers uͤber Cyrus
Entſcheidung nicht einſehen. Ich erinnere mich aber
keines ſo ploͤtzlichen Ueberganges zur Einſicht, wie bei
der Mathematik. Das Leſen der Gedichte Oſſians
und der Schriften Shaftsbury's, um welcher beiden
Schriftſteller willen ich Engliſch verſtehen zu lernen
ſuchte, hatte den ſtaͤrkſten mir erinnerlichen Einfluß auf
die Bildung meiner moraliſchen Gefuͤhle, und bereitete
die deutlichere Einſicht vor.
Ehe ich aber noch Kant's Kritik der reinen
Vernunft las, ſo wurde ich durch Mendelſohn's
ſchoͤne und Sulzer's klare Darſtellung mehrerer Saͤtze
der Wolfiſchen Philoſophie immer mehr fuͤr ſie gewon¬
nen, und ich bemuͤhte mich, ſie unumſtoͤßlich zu be¬
gruͤnden. Das Studium von Lambert's Organon,
von Spinoza's nachgelaſſenen Schriften, und vor
allem eine Fertigkeit in der Dialektik, die ich mir in
den Disputiruͤbungen mit meinem Freunde erworben
hatte, fuͤhrten mich auf viele Maͤngel in Wolf's Syſtem,
und beſonders empfand ich, ſeitdem ich die Evidenz der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/250>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.