durchleuchteten Vernunft in das Leben; als Lehre, Bei¬ spiel, Botschaft dringt sie nach allen Seiten vor, alle Gebildeten, Strebenden nehmen daran Theil, es ist gleichsam eine neue Religion, die sich ausbreitet. Unsre Briefsammlung liefert in dieser Hinsicht bedeutende Zeugnisse und Proben; hier ist die Kantische Philosophie in Handlung und Wirksamkeit; wir sehen sie als Gegen¬ stand der höchsten Beziehungen und Bedürfnisse eines weiten Menschenkreises von Königsberg über ganz Deutschland bis nach Hamburg und Kopenhagen und bis nach Wien und Triest ausstrahlen, sehen, wie sie erweckt, befeuert, das Höchste verheißt, und zuletzt doch nur eine mißliche Befriedigung gewährt. Die redlichsten, begabtesten Männer und Jünglinge, ja auch Frauen, durchwandeln mit Eifer diese Bahn, erreichen auch das Ziel; aber nach der ersten Freude finden sie sich bald in unleidlichem Zwiespalt, in fürchterlicher Enge. So lange sie untersuchen, ist alles gut, aber mit ihrem Ergebniß wissen sie nichts anzufangen, und möchten es doch zu allen Leistungen gebrauchen. In die Breite des Lebens folgt ihnen kein Gewinn, in der Wissenschaft wird jeder Fortschreitende ihr Feind, ihrer eignen Phi¬ losophie nach müssen sie aufhören zu philosophiren. Sie haben weggeräumt, was in ihrem Rücken lag; was vor ihnen aufkeimt, müssen sie verneinen; aber die Le¬ bensfluthen des Vorhergegangenen wie des Nachfolgen¬ den überströmen unaufgehalten die machtlose Verneinung.
durchleuchteten Vernunft in das Leben; als Lehre, Bei¬ ſpiel, Botſchaft dringt ſie nach allen Seiten vor, alle Gebildeten, Strebenden nehmen daran Theil, es iſt gleichſam eine neue Religion, die ſich ausbreitet. Unſre Briefſammlung liefert in dieſer Hinſicht bedeutende Zeugniſſe und Proben; hier iſt die Kantiſche Philoſophie in Handlung und Wirkſamkeit; wir ſehen ſie als Gegen¬ ſtand der hoͤchſten Beziehungen und Beduͤrfniſſe eines weiten Menſchenkreiſes von Koͤnigsberg uͤber ganz Deutſchland bis nach Hamburg und Kopenhagen und bis nach Wien und Trieſt ausſtrahlen, ſehen, wie ſie erweckt, befeuert, das Hoͤchſte verheißt, und zuletzt doch nur eine mißliche Befriedigung gewaͤhrt. Die redlichſten, begabteſten Maͤnner und Juͤnglinge, ja auch Frauen, durchwandeln mit Eifer dieſe Bahn, erreichen auch das Ziel; aber nach der erſten Freude finden ſie ſich bald in unleidlichem Zwieſpalt, in fuͤrchterlicher Enge. So lange ſie unterſuchen, iſt alles gut, aber mit ihrem Ergebniß wiſſen ſie nichts anzufangen, und moͤchten es doch zu allen Leiſtungen gebrauchen. In die Breite des Lebens folgt ihnen kein Gewinn, in der Wiſſenſchaft wird jeder Fortſchreitende ihr Feind, ihrer eignen Phi¬ loſophie nach muͤſſen ſie aufhoͤren zu philoſophiren. Sie haben weggeraͤumt, was in ihrem Ruͤcken lag; was vor ihnen aufkeimt, muͤſſen ſie verneinen; aber die Le¬ bensfluthen des Vorhergegangenen wie des Nachfolgen¬ den uͤberſtroͤmen unaufgehalten die machtloſe Verneinung.
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durchleuchteten Vernunft in das Leben; als Lehre, Bei¬
ſpiel, Botſchaft dringt ſie nach allen Seiten vor, alle
Gebildeten, Strebenden nehmen daran Theil, es iſt
gleichſam eine neue Religion, die ſich ausbreitet. Unſre
Briefſammlung liefert in dieſer Hinſicht bedeutende
Zeugniſſe und Proben; hier iſt die Kantiſche Philoſophie
in Handlung und Wirkſamkeit; wir ſehen ſie als Gegen¬
ſtand der hoͤchſten Beziehungen und Beduͤrfniſſe eines
weiten Menſchenkreiſes von Koͤnigsberg uͤber ganz
Deutſchland bis nach Hamburg und Kopenhagen und
bis nach Wien und Trieſt ausſtrahlen, ſehen, wie ſie
erweckt, befeuert, das Hoͤchſte verheißt, und zuletzt doch
nur eine mißliche Befriedigung gewaͤhrt. Die redlichſten,
begabteſten Maͤnner und Juͤnglinge, ja auch Frauen,
durchwandeln mit Eifer dieſe Bahn, erreichen auch das
Ziel; aber nach der erſten Freude finden ſie ſich bald
in unleidlichem Zwieſpalt, in fuͤrchterlicher Enge. So
lange ſie unterſuchen, iſt alles gut, aber mit ihrem
Ergebniß wiſſen ſie nichts anzufangen, und moͤchten es
doch zu allen Leiſtungen gebrauchen. In die Breite
des Lebens folgt ihnen kein Gewinn, in der Wiſſenſchaft
wird jeder Fortſchreitende ihr Feind, ihrer eignen Phi¬
loſophie nach muͤſſen ſie aufhoͤren zu philoſophiren. Sie
haben weggeraͤumt, was in ihrem Ruͤcken lag; was
vor ihnen aufkeimt, muͤſſen ſie verneinen; aber die Le¬
bensfluthen des Vorhergegangenen wie des Nachfolgen¬
den uͤberſtroͤmen unaufgehalten die machtloſe Verneinung.
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/296>, abgerufen am 23.11.2024.
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