Wie dieses Schicksal der Kantischen Philosophie, sich nicht als ethisches Heil der Menschheit zu legitimiren, verbunden mit der Enttäuschung, welche die Geschichte dem Wahn, in der französischen Revolution ein solches materielles Heil alsogleich zu erleben, durch deren eigne Entwickelung spielt, wie dieses Geschick von den einzel¬ nen Betheiligten getragen und verarbeitet wird, ist hier in merkwürdigen Verschiedenheiten dargelegt. Wir sehen dem Tode gewaltsame Opfer fallen, sehen das beweg¬ liche Talent sich in neue Gestaltungen hinüberwinden, zarteres Gemüth nur hoher Liebesinnigkeit pflegen, andern Sinn sich zur gemeinen Welt zurückwenden. Erhard war einer der beharrlichsten Anhänger seines großen Meisters; aber auch ihn drängte seine hauptsächliche Lebensthätigkeit zu andern als philosophischen Gegen¬ ständen, und seine noch übrige philosophische Beschäfti¬ gung ging, darin ächt Kantisch, nicht auf eigentliche Spekulation mehr aus, denn diese sollte abgethan sein, und in ihren Ergebnissen gleichsam als angewandte Philosophie nur fortschreiten. Hätte er stärkeren Antrieb oder mehr Muße gehabt, spekulativem Denken sich fort¬ während hinzugeben, so würde sein scharfer Geist, wir zweifeln nicht, zu neuen Wegen eigenthümlich durchge¬ brochen, oder doch in den Bahnen von Kants großen Nachfolgern zu neuen Ergebnissen selbstständig mitge¬ schritten sein.
Wie dieſes Schickſal der Kantiſchen Philoſophie, ſich nicht als ethiſches Heil der Menſchheit zu legitimiren, verbunden mit der Enttaͤuſchung, welche die Geſchichte dem Wahn, in der franzoͤſiſchen Revolution ein ſolches materielles Heil alſogleich zu erleben, durch deren eigne Entwickelung ſpielt, wie dieſes Geſchick von den einzel¬ nen Betheiligten getragen und verarbeitet wird, iſt hier in merkwuͤrdigen Verſchiedenheiten dargelegt. Wir ſehen dem Tode gewaltſame Opfer fallen, ſehen das beweg¬ liche Talent ſich in neue Geſtaltungen hinuͤberwinden, zarteres Gemuͤth nur hoher Liebesinnigkeit pflegen, andern Sinn ſich zur gemeinen Welt zuruͤckwenden. Erhard war einer der beharrlichſten Anhaͤnger ſeines großen Meiſters; aber auch ihn draͤngte ſeine hauptſaͤchliche Lebensthaͤtigkeit zu andern als philoſophiſchen Gegen¬ ſtaͤnden, und ſeine noch uͤbrige philoſophiſche Beſchaͤfti¬ gung ging, darin aͤcht Kantiſch, nicht auf eigentliche Spekulation mehr aus, denn dieſe ſollte abgethan ſein, und in ihren Ergebniſſen gleichſam als angewandte Philoſophie nur fortſchreiten. Haͤtte er ſtaͤrkeren Antrieb oder mehr Muße gehabt, ſpekulativem Denken ſich fort¬ waͤhrend hinzugeben, ſo wuͤrde ſein ſcharfer Geiſt, wir zweifeln nicht, zu neuen Wegen eigenthuͤmlich durchge¬ brochen, oder doch in den Bahnen von Kants großen Nachfolgern zu neuen Ergebniſſen ſelbſtſtaͤndig mitge¬ ſchritten ſein.
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Wie dieſes Schickſal der Kantiſchen Philoſophie, ſich
nicht als ethiſches Heil der Menſchheit zu legitimiren,
verbunden mit der Enttaͤuſchung, welche die Geſchichte
dem Wahn, in der franzoͤſiſchen Revolution ein ſolches
materielles Heil alſogleich zu erleben, durch deren eigne
Entwickelung ſpielt, wie dieſes Geſchick von den einzel¬
nen Betheiligten getragen und verarbeitet wird, iſt hier
in merkwuͤrdigen Verſchiedenheiten dargelegt. Wir ſehen
dem Tode gewaltſame Opfer fallen, ſehen das beweg¬
liche Talent ſich in neue Geſtaltungen hinuͤberwinden,
zarteres Gemuͤth nur hoher Liebesinnigkeit pflegen, andern
Sinn ſich zur gemeinen Welt zuruͤckwenden. Erhard
war einer der beharrlichſten Anhaͤnger ſeines großen
Meiſters; aber auch ihn draͤngte ſeine hauptſaͤchliche
Lebensthaͤtigkeit zu andern als philoſophiſchen Gegen¬
ſtaͤnden, und ſeine noch uͤbrige philoſophiſche Beſchaͤfti¬
gung ging, darin aͤcht Kantiſch, nicht auf eigentliche
Spekulation mehr aus, denn dieſe ſollte abgethan ſein,
und in ihren Ergebniſſen gleichſam als angewandte
Philoſophie nur fortſchreiten. Haͤtte er ſtaͤrkeren Antrieb
oder mehr Muße gehabt, ſpekulativem Denken ſich fort¬
waͤhrend hinzugeben, ſo wuͤrde ſein ſcharfer Geiſt, wir
zweifeln nicht, zu neuen Wegen eigenthuͤmlich durchge¬
brochen, oder doch in den Bahnen von Kants großen
Nachfolgern zu neuen Ergebniſſen ſelbſtſtaͤndig mitge¬
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/297>, abgerufen am 23.11.2024.
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