bauens und Vereinens mit Recht vom Zerfallen und Zersetzen den Namen erhalten können, und die letzte Hälfte des achtzehnten nebst dem Anfange des neun¬ zehnten Jahrhunderts sind unstreitig als ein Gipfel solcher weither vorbereiteten Epoche anzusehen. Man glaubte die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts längst abgeschlossen, ihrem Weiterwirken feste Schranken gestellt, als dieses grade mit Riesenschritten sich fort und fort ausbreitete. Dasselbe hatte den kirchlichen Boden, den es der früher allgemeinen Kirche glücklich abgekämpft, nur verlassen, um sich mit voller Kraft in alle weltlichen Gebiete zu ergießen, und dort glei¬ cherweise aufzuräumen. Von dem in jener Bewegung empfangenen Anstoße lassen sich in strenger Folge alle fernere Bewegungen ableiten, welche die Mitte des europäischen Lebens seitdem ergriffen und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in einen allgemeinen Kampf gedrängt haben, der noch keineswegs geschlichtet ist, sondern seinen Zwiespalt nur stets in höhere Grundsätze und Interessen überleitet. Es darf uns nicht irren, daß der Gegensatz zweier Zeitalter, eines weichenden und eines andringenden, selber zu einer hohen Bildung gedient hat, indem der Geist der Wissenschaft und der Dichtung sich des Kampfes bemeisterte und sich über ihn erhob; das wirkliche Leben mußte darum nicht weniger die tiefsten Leiden überstehen, mußte vom Sturm hart ergriffen und vielfältig zerschellt werden.
bauens und Vereinens mit Recht vom Zerfallen und Zerſetzen den Namen erhalten koͤnnen, und die letzte Haͤlfte des achtzehnten nebſt dem Anfange des neun¬ zehnten Jahrhunderts ſind unſtreitig als ein Gipfel ſolcher weither vorbereiteten Epoche anzuſehen. Man glaubte die Reformation des ſechzehnten Jahrhunderts laͤngſt abgeſchloſſen, ihrem Weiterwirken feſte Schranken geſtellt, als dieſes grade mit Rieſenſchritten ſich fort und fort ausbreitete. Daſſelbe hatte den kirchlichen Boden, den es der fruͤher allgemeinen Kirche gluͤcklich abgekaͤmpft, nur verlaſſen, um ſich mit voller Kraft in alle weltlichen Gebiete zu ergießen, und dort glei¬ cherweiſe aufzuraͤumen. Von dem in jener Bewegung empfangenen Anſtoße laſſen ſich in ſtrenger Folge alle fernere Bewegungen ableiten, welche die Mitte des europaͤiſchen Lebens ſeitdem ergriffen und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in einen allgemeinen Kampf gedraͤngt haben, der noch keineswegs geſchlichtet iſt, ſondern ſeinen Zwieſpalt nur ſtets in hoͤhere Grundſaͤtze und Intereſſen uͤberleitet. Es darf uns nicht irren, daß der Gegenſatz zweier Zeitalter, eines weichenden und eines andringenden, ſelber zu einer hohen Bildung gedient hat, indem der Geiſt der Wiſſenſchaft und der Dichtung ſich des Kampfes bemeiſterte und ſich uͤber ihn erhob; das wirkliche Leben mußte darum nicht weniger die tiefſten Leiden uͤberſtehen, mußte vom Sturm hart ergriffen und vielfaͤltig zerſchellt werden.
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bauens und Vereinens mit Recht vom Zerfallen und
Zerſetzen den Namen erhalten koͤnnen, und die letzte
Haͤlfte des achtzehnten nebſt dem Anfange des neun¬
zehnten Jahrhunderts ſind unſtreitig als ein Gipfel
ſolcher weither vorbereiteten Epoche anzuſehen. Man
glaubte die Reformation des ſechzehnten Jahrhunderts
laͤngſt abgeſchloſſen, ihrem Weiterwirken feſte Schranken
geſtellt, als dieſes grade mit Rieſenſchritten ſich fort
und fort ausbreitete. Daſſelbe hatte den kirchlichen
Boden, den es der fruͤher allgemeinen Kirche gluͤcklich
abgekaͤmpft, nur verlaſſen, um ſich mit voller Kraft
in alle weltlichen Gebiete zu ergießen, und dort glei¬
cherweiſe aufzuraͤumen. Von dem in jener Bewegung
empfangenen Anſtoße laſſen ſich in ſtrenger Folge alle
fernere Bewegungen ableiten, welche die Mitte des
europaͤiſchen Lebens ſeitdem ergriffen und gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts in einen allgemeinen Kampf
gedraͤngt haben, der noch keineswegs geſchlichtet iſt,
ſondern ſeinen Zwieſpalt nur ſtets in hoͤhere Grundſaͤtze
und Intereſſen uͤberleitet. Es darf uns nicht irren,
daß der Gegenſatz zweier Zeitalter, eines weichenden
und eines andringenden, ſelber zu einer hohen Bildung
gedient hat, indem der Geiſt der Wiſſenſchaft und der
Dichtung ſich des Kampfes bemeiſterte und ſich uͤber
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/432>, abgerufen am 22.11.2024.
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