habe ihr diese sonderbare Erziehung geben lassen, sie habe alles lernen müssen, was ein Mädchen, und alles, was ein Knabe wissen solle, die besten Lehrer, in allen Fächern seien ihr gehalten worden, unter andern rühmte sie sich, Jean Jacques Rousseau's Unterricht genossen zu haben. Diese Erzählung erklärte das Ungewöhnliche durch nur noch größere Sonderbarkeit, und konnte wenig Glauben finden. In den Gesichtszügen allerdings war eine große Aehnlichkeit mit den Bourbons auffallend, allein diese Aehnlichkeit konnte auch nur Anlaß geworden sein, ein Mährchen zu erfinden, dem darin einige Be¬ glaubigung gegeben schien. In der Fremde sich durch erdichtete Bedeutung und Schicksale günstig vorzustellen, einzuschmeicheln, durchzuhelfen, lag den armen Flücht¬ lingen so nah, wurde von ihnen so leichtsinnig und an¬ muthig geübt, daß ein solcher Versuch schon wenig mehr auffiel, noch für besonders strafbar gehalten wurde. Rahel mußte die Möglichkeit zugeben, daß die Sache sich so verhielte, wie Mad. Guachet sie erzählte; allein der Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit behielt die Oberhand, und anstatt höherer Theilnahme trat vielmehr einige Erkaltung ein. Das Geschick, über welches die Arme klagte, erwies wenigstens in diesem Zuge seine Tücke ächt, daß das ausgesprochne Unglück keinen Glauben, und sich dadurch nur verschlimmert fand!
Den Zusammenhang dieser Verhältnisse zu erforschen, wäre damals in Berlin so schwierig als nutzlos gewesen.
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habe ihr dieſe ſonderbare Erziehung geben laſſen, ſie habe alles lernen muͤſſen, was ein Maͤdchen, und alles, was ein Knabe wiſſen ſolle, die beſten Lehrer, in allen Faͤchern ſeien ihr gehalten worden, unter andern ruͤhmte ſie ſich, Jean Jacques Rouſſeau’s Unterricht genoſſen zu haben. Dieſe Erzaͤhlung erklaͤrte das Ungewoͤhnliche durch nur noch groͤßere Sonderbarkeit, und konnte wenig Glauben finden. In den Geſichtszuͤgen allerdings war eine große Aehnlichkeit mit den Bourbons auffallend, allein dieſe Aehnlichkeit konnte auch nur Anlaß geworden ſein, ein Maͤhrchen zu erfinden, dem darin einige Be¬ glaubigung gegeben ſchien. In der Fremde ſich durch erdichtete Bedeutung und Schickſale guͤnſtig vorzuſtellen, einzuſchmeicheln, durchzuhelfen, lag den armen Fluͤcht¬ lingen ſo nah, wurde von ihnen ſo leichtſinnig und an¬ muthig geuͤbt, daß ein ſolcher Verſuch ſchon wenig mehr auffiel, noch fuͤr beſonders ſtrafbar gehalten wurde. Rahel mußte die Moͤglichkeit zugeben, daß die Sache ſich ſo verhielte, wie Mad. Guachet ſie erzaͤhlte; allein der Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit behielt die Oberhand, und anſtatt hoͤherer Theilnahme trat vielmehr einige Erkaltung ein. Das Geſchick, uͤber welches die Arme klagte, erwies wenigſtens in dieſem Zuge ſeine Tuͤcke aͤcht, daß das ausgeſprochne Ungluͤck keinen Glauben, und ſich dadurch nur verſchlimmert fand!
Den Zuſammenhang dieſer Verhaͤltniſſe zu erforſchen, waͤre damals in Berlin ſo ſchwierig als nutzlos geweſen.
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Faͤchern ſeien ihr gehalten worden, unter andern ruͤhmte
ſie ſich, Jean Jacques Rouſſeau’s Unterricht genoſſen
zu haben. Dieſe Erzaͤhlung erklaͤrte das Ungewoͤhnliche
durch nur noch groͤßere Sonderbarkeit, und konnte wenig
Glauben finden. In den Geſichtszuͤgen allerdings war
eine große Aehnlichkeit mit den Bourbons auffallend,
allein dieſe Aehnlichkeit konnte auch nur Anlaß geworden
ſein, ein Maͤhrchen zu erfinden, dem darin einige Be¬
glaubigung gegeben ſchien. In der Fremde ſich durch
erdichtete Bedeutung und Schickſale guͤnſtig vorzuſtellen,
einzuſchmeicheln, durchzuhelfen, lag den armen Fluͤcht¬
lingen ſo nah, wurde von ihnen ſo leichtſinnig und an¬
muthig geuͤbt, daß ein ſolcher Verſuch ſchon wenig mehr
auffiel, noch fuͤr beſonders ſtrafbar gehalten wurde.
Rahel mußte die Moͤglichkeit zugeben, daß die Sache
ſich ſo verhielte, wie Mad. Guachet ſie erzaͤhlte; allein
der Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit behielt die Oberhand,
und anſtatt hoͤherer Theilnahme trat vielmehr einige
Erkaltung ein. Das Geſchick, uͤber welches die Arme
klagte, erwies wenigſtens in dieſem Zuge ſeine Tuͤcke
aͤcht, daß das ausgeſprochne Ungluͤck keinen Glauben,
und ſich dadurch nur verſchlimmert fand!
Den Zuſammenhang dieſer Verhaͤltniſſe zu erforſchen,
waͤre damals in Berlin ſo ſchwierig als nutzlos geweſen.
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/463>, abgerufen am 24.11.2024.
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