stets, wiewohl leider meist fälschlich, immer aufs neue voraus. Ich sah nun Rahel nach und nach in ihrem ganzen Lebens- und Umgangskreise. Hier mußte mir nun sofort ein unermeßlicher Abstand klar werden, der zwischen ihr und ihrer Umgebung lag. Sie stand in der Mitte eines großen Kreises gänzlich allein; nicht verstanden, nicht anerkannt, nicht gehegt, nicht geliebt, wie sie es bedurfte und verdiente, sondern gleichgültig außer Acht gelassen, oder auch eigensüchtig benutzt und mißbraucht, wenn die Gelegenheit sich anbot; ihre außer¬ ordentlichen Gaben, sofern sie als Thatsachen auch äußerlich hervortraten, konnte man ihr nicht absprechen, eigenthümliche Denk- und Sinnesart, Gemüthskraft, Geist, Witz und Laune mußte man ihr zugestehen, aber leicht glaubten die Andern davon wenigstens ebensoviel zu haben, und noch dazu die größere Besonnenheit und Ruhe, wofür sie sich die nüchterne Selbstsucht und theilnahmslose Mattigkeit anrechneten. Mit dem, was Rahel ihnen großmüthig lieh und als Almosen spendete, glaubten sie ihr überlegen zu sein. Von der Flamme edler Begeisterung, von dem Triebe menschlich-reinen Mitgefühls, von dem heiligen Dienste der Wahrheit, welche Rahel's Inneres erfüllten, ihre Eigenschaften be¬ seelten und bewegten, von diesem innern Wesen wußten die Meisten nichts. Sie selbst aber setzte alles, was in ihr war, bei Allen voraus, nahm jeden Funken von Gabe und Willen, von Sinn und Leisten, mit
ſtets, wiewohl leider meiſt faͤlſchlich, immer aufs neue voraus. Ich ſah nun Rahel nach und nach in ihrem ganzen Lebens- und Umgangskreiſe. Hier mußte mir nun ſofort ein unermeßlicher Abſtand klar werden, der zwiſchen ihr und ihrer Umgebung lag. Sie ſtand in der Mitte eines großen Kreiſes gaͤnzlich allein; nicht verſtanden, nicht anerkannt, nicht gehegt, nicht geliebt, wie ſie es bedurfte und verdiente, ſondern gleichguͤltig außer Acht gelaſſen, oder auch eigenſuͤchtig benutzt und mißbraucht, wenn die Gelegenheit ſich anbot; ihre außer¬ ordentlichen Gaben, ſofern ſie als Thatſachen auch aͤußerlich hervortraten, konnte man ihr nicht abſprechen, eigenthuͤmliche Denk- und Sinnesart, Gemuͤthskraft, Geiſt, Witz und Laune mußte man ihr zugeſtehen, aber leicht glaubten die Andern davon wenigſtens ebenſoviel zu haben, und noch dazu die groͤßere Beſonnenheit und Ruhe, wofuͤr ſie ſich die nuͤchterne Selbſtſucht und theilnahmsloſe Mattigkeit anrechneten. Mit dem, was Rahel ihnen großmuͤthig lieh und als Almoſen ſpendete, glaubten ſie ihr uͤberlegen zu ſein. Von der Flamme edler Begeiſterung, von dem Triebe menſchlich-reinen Mitgefuͤhls, von dem heiligen Dienſte der Wahrheit, welche Rahel’s Inneres erfuͤllten, ihre Eigenſchaften be¬ ſeelten und bewegten, von dieſem innern Weſen wußten die Meiſten nichts. Sie ſelbſt aber ſetzte alles, was in ihr war, bei Allen voraus, nahm jeden Funken von Gabe und Willen, von Sinn und Leiſten, mit
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ſtets, wiewohl leider meiſt faͤlſchlich, immer aufs neue
voraus. Ich ſah nun Rahel nach und nach in ihrem
ganzen Lebens- und Umgangskreiſe. Hier mußte mir
nun ſofort ein unermeßlicher Abſtand klar werden, der
zwiſchen ihr und ihrer Umgebung lag. Sie ſtand in
der Mitte eines großen Kreiſes gaͤnzlich allein; nicht
verſtanden, nicht anerkannt, nicht gehegt, nicht geliebt,
wie ſie es bedurfte und verdiente, ſondern gleichguͤltig
außer Acht gelaſſen, oder auch eigenſuͤchtig benutzt und
mißbraucht, wenn die Gelegenheit ſich anbot; ihre außer¬
ordentlichen Gaben, ſofern ſie als Thatſachen auch
aͤußerlich hervortraten, konnte man ihr nicht abſprechen,
eigenthuͤmliche Denk- und Sinnesart, Gemuͤthskraft,
Geiſt, Witz und Laune mußte man ihr zugeſtehen, aber
leicht glaubten die Andern davon wenigſtens ebenſoviel
zu haben, und noch dazu die groͤßere Beſonnenheit und
Ruhe, wofuͤr ſie ſich die nuͤchterne Selbſtſucht und
theilnahmsloſe Mattigkeit anrechneten. Mit dem, was
Rahel ihnen großmuͤthig lieh und als Almoſen ſpendete,
glaubten ſie ihr uͤberlegen zu ſein. Von der Flamme
edler Begeiſterung, von dem Triebe menſchlich-reinen
Mitgefuͤhls, von dem heiligen Dienſte der Wahrheit,
welche Rahel’s Inneres erfuͤllten, ihre Eigenſchaften be¬
ſeelten und bewegten, von dieſem innern Weſen wußten
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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