sein, ja ihr selber als Gebrechen und Fehl erscheinen, mit eben solcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit sprach, als hätte sie nur Günstiges und Schmeichel¬ haftes anzuführen, sich nur der schönsten Glückesfülle zu rühmen gehabt. Diese Aufrichtigkeit, derengleichen ich nie in einem andern Menschen wiedergesehen habe, und deren sogar Jean Jacques Rousseau nur in schrift¬ licher Mittheilung fähig gewesen zu sein scheint, konnte mich sogar einigermaßen bedenklich und irre machen, indem oft scharfe Härten aus den leidenschaftlichen Be¬ kenntnissen hervorsprühten, und in dem Erlebten, wie in dem darüber Gedachten ein eignes Element aufwogte, das als gewaltsam und schonungslos leicht Mißempfin¬ dungen weckte, besonders wenn man voraussetzte, daß, nach der gewöhnlichen Weise, auch hier neben dem Aus¬ gesprochenen noch Verschwiegenes im Hintergrunde liege. Dies war aber hier der Fall keineswegs; Rahel sagte in Betreff ihrer selbst rücksichtslos die ganze Wahrheit, und würde auch die beschämendste und nachtheiligste, wäre eine solche vorhanden gewesen, demjenigen nicht verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und einsichtiger Theilnahme sie darum befragt hätte. Sie glaubte, indem sie wahr sei, niemals sich etwas zu vergeben, noch durch Verschweigen etwas zu gewinnen, und ein solches höchstes, ausgleichendes, versöhnendes Interesse für die Mittheilung der Wahrheit, welches sie empfand, setzte sie für deren Würdigung auch bei Andern
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ſein, ja ihr ſelber als Gebrechen und Fehl erſcheinen, mit eben ſolcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit ſprach, als haͤtte ſie nur Guͤnſtiges und Schmeichel¬ haftes anzufuͤhren, ſich nur der ſchoͤnſten Gluͤckesfuͤlle zu ruͤhmen gehabt. Dieſe Aufrichtigkeit, derengleichen ich nie in einem andern Menſchen wiedergeſehen habe, und deren ſogar Jean Jacques Rouſſeau nur in ſchrift¬ licher Mittheilung faͤhig geweſen zu ſein ſcheint, konnte mich ſogar einigermaßen bedenklich und irre machen, indem oft ſcharfe Haͤrten aus den leidenſchaftlichen Be¬ kenntniſſen hervorſpruͤhten, und in dem Erlebten, wie in dem daruͤber Gedachten ein eignes Element aufwogte, das als gewaltſam und ſchonungslos leicht Mißempfin¬ dungen weckte, beſonders wenn man vorausſetzte, daß, nach der gewoͤhnlichen Weiſe, auch hier neben dem Aus¬ geſprochenen noch Verſchwiegenes im Hintergrunde liege. Dies war aber hier der Fall keineswegs; Rahel ſagte in Betreff ihrer ſelbſt ruͤckſichtslos die ganze Wahrheit, und wuͤrde auch die beſchaͤmendſte und nachtheiligſte, waͤre eine ſolche vorhanden geweſen, demjenigen nicht verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und einſichtiger Theilnahme ſie darum befragt haͤtte. Sie glaubte, indem ſie wahr ſei, niemals ſich etwas zu vergeben, noch durch Verſchweigen etwas zu gewinnen, und ein ſolches hoͤchſtes, ausgleichendes, verſoͤhnendes Intereſſe fuͤr die Mittheilung der Wahrheit, welches ſie empfand, ſetzte ſie fuͤr deren Wuͤrdigung auch bei Andern
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ſein, ja ihr ſelber als Gebrechen und Fehl erſcheinen,
mit eben ſolcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit
ſprach, als haͤtte ſie nur Guͤnſtiges und Schmeichel¬
haftes anzufuͤhren, ſich nur der ſchoͤnſten Gluͤckesfuͤlle
zu ruͤhmen gehabt. Dieſe Aufrichtigkeit, derengleichen
ich nie in einem andern Menſchen wiedergeſehen habe,
und deren ſogar Jean Jacques Rouſſeau nur in ſchrift¬
licher Mittheilung faͤhig geweſen zu ſein ſcheint, konnte
mich ſogar einigermaßen bedenklich und irre machen,
indem oft ſcharfe Haͤrten aus den leidenſchaftlichen Be¬
kenntniſſen hervorſpruͤhten, und in dem Erlebten, wie
in dem daruͤber Gedachten ein eignes Element aufwogte,
das als gewaltſam und ſchonungslos leicht Mißempfin¬
dungen weckte, beſonders wenn man vorausſetzte, daß,
nach der gewoͤhnlichen Weiſe, auch hier neben dem Aus¬
geſprochenen noch Verſchwiegenes im Hintergrunde liege.
Dies war aber hier der Fall keineswegs; Rahel ſagte
in Betreff ihrer ſelbſt ruͤckſichtslos die ganze Wahrheit,
und wuͤrde auch die beſchaͤmendſte und nachtheiligſte,
waͤre eine ſolche vorhanden geweſen, demjenigen nicht
verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und
einſichtiger Theilnahme ſie darum befragt haͤtte. Sie
glaubte, indem ſie wahr ſei, niemals ſich etwas zu
vergeben, noch durch Verſchweigen etwas zu gewinnen,
und ein ſolches hoͤchſtes, ausgleichendes, verſoͤhnendes
Intereſſe fuͤr die Mittheilung der Wahrheit, welches ſie
empfand, ſetzte ſie fuͤr deren Wuͤrdigung auch bei Andern
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/177>, abgerufen am 16.02.2025.
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