Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

Leben desselben sei vollständig in seinen Dichtungen,
und Goethe selbst hat in solchem Sinne gesagt, seine
Denkschriften seien ein Versuch seine poetische Konfession
zu ergänzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze
jener Meinung uns erheben, sondern uns des Gege¬
benen sehr bedürftig und durch solches unendlich berei¬
chert eingestehen, so dürfen wir doch hinwieder uns
dabei beruhigen, und allen dringendsten Forderungen
genügt finden. In der That haben wir ein wenn auch
nicht geendigtes, doch vollständiges Werk vor uns; die
Grundlagen sind unveränderlich, die Bestandtheile nach
allen Verhältnissen bestimmt, der Aufbau bis zu ge¬
wisser Höhe durchgeführt; nun können weiter hinauf
die Gebilde doch nur mit geringen Veränderungen sich
wiederholen, und in diesem Sinne hätten wir, wäre
die Stelle nicht schon besetzt, als Titelspruch dieses
Theiles die eignen Goethe'schen Worte vorzuschlagen:
"Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen." Wirklich
könnte uns die Folge fast nichts anderes zeigen, und
schon bisher mußte bemerklich sein, daß auch die größte
Macht des Genius und die reichste Fülle des Lebens,
welche den einzelnen Menschen bedeutend machen, im
Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen
sind, zweier oder dreier tiefen Erschaue oder Empfin¬
dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachsten
Erscheinungen bewirkt wird. --


Leben deſſelben ſei vollſtaͤndig in ſeinen Dichtungen,
und Goethe ſelbſt hat in ſolchem Sinne geſagt, ſeine
Denkſchriften ſeien ein Verſuch ſeine poetiſche Konfeſſion
zu ergaͤnzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze
jener Meinung uns erheben, ſondern uns des Gege¬
benen ſehr beduͤrftig und durch ſolches unendlich berei¬
chert eingeſtehen, ſo duͤrfen wir doch hinwieder uns
dabei beruhigen, und allen dringendſten Forderungen
genuͤgt finden. In der That haben wir ein wenn auch
nicht geendigtes, doch vollſtaͤndiges Werk vor uns; die
Grundlagen ſind unveraͤnderlich, die Beſtandtheile nach
allen Verhaͤltniſſen beſtimmt, der Aufbau bis zu ge¬
wiſſer Hoͤhe durchgefuͤhrt; nun koͤnnen weiter hinauf
die Gebilde doch nur mit geringen Veraͤnderungen ſich
wiederholen, und in dieſem Sinne haͤtten wir, waͤre
die Stelle nicht ſchon beſetzt, als Titelſpruch dieſes
Theiles die eignen Goethe’ſchen Worte vorzuſchlagen:
„Mit den Jahren ſteigern ſich die Pruͤfungen.“ Wirklich
koͤnnte uns die Folge faſt nichts anderes zeigen, und
ſchon bisher mußte bemerklich ſein, daß auch die groͤßte
Macht des Genius und die reichſte Fuͤlle des Lebens,
welche den einzelnen Menſchen bedeutend machen, im
Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen
ſind, zweier oder dreier tiefen Erſchaue oder Empfin¬
dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachſten
Erſcheinungen bewirkt wird. —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0345" n="331"/>
Leben de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;ei voll&#x017F;ta&#x0364;ndig in &#x017F;einen Dichtungen,<lb/>
und Goethe &#x017F;elb&#x017F;t hat in &#x017F;olchem Sinne ge&#x017F;agt, &#x017F;eine<lb/>
Denk&#x017F;chriften &#x017F;eien ein Ver&#x017F;uch &#x017F;eine poeti&#x017F;che Konfe&#x017F;&#x017F;ion<lb/>
zu erga&#x0364;nzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze<lb/>
jener Meinung uns erheben, &#x017F;ondern uns des Gege¬<lb/>
benen &#x017F;ehr bedu&#x0364;rftig und durch &#x017F;olches unendlich berei¬<lb/>
chert einge&#x017F;tehen, &#x017F;o du&#x0364;rfen wir doch hinwieder uns<lb/>
dabei beruhigen, und allen dringend&#x017F;ten Forderungen<lb/>
genu&#x0364;gt finden. In der That haben wir ein wenn auch<lb/>
nicht geendigtes, doch voll&#x017F;ta&#x0364;ndiges Werk vor uns; die<lb/>
Grundlagen &#x017F;ind unvera&#x0364;nderlich, die Be&#x017F;tandtheile nach<lb/>
allen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;timmt, der Aufbau bis zu ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;er Ho&#x0364;he durchgefu&#x0364;hrt; nun ko&#x0364;nnen weiter hinauf<lb/>
die Gebilde doch nur mit geringen Vera&#x0364;nderungen &#x017F;ich<lb/>
wiederholen, und in die&#x017F;em Sinne ha&#x0364;tten wir, wa&#x0364;re<lb/>
die Stelle nicht &#x017F;chon be&#x017F;etzt, als Titel&#x017F;pruch die&#x017F;es<lb/>
Theiles die eignen Goethe&#x2019;&#x017F;chen Worte vorzu&#x017F;chlagen:<lb/>
&#x201E;Mit den Jahren &#x017F;teigern &#x017F;ich die Pru&#x0364;fungen.&#x201C; Wirklich<lb/>
ko&#x0364;nnte uns die Folge fa&#x017F;t nichts anderes zeigen, und<lb/>
&#x017F;chon bisher mußte bemerklich &#x017F;ein, daß auch die gro&#x0364;ßte<lb/>
Macht des Genius und die reich&#x017F;te Fu&#x0364;lle des Lebens,<lb/>
welche den einzelnen Men&#x017F;chen bedeutend machen, im<lb/>
Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen<lb/>
&#x017F;ind, zweier oder dreier tiefen Er&#x017F;chaue oder Empfin¬<lb/>
dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfach&#x017F;ten<lb/>
Er&#x017F;cheinungen bewirkt wird. &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[331/0345] Leben deſſelben ſei vollſtaͤndig in ſeinen Dichtungen, und Goethe ſelbſt hat in ſolchem Sinne geſagt, ſeine Denkſchriften ſeien ein Verſuch ſeine poetiſche Konfeſſion zu ergaͤnzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze jener Meinung uns erheben, ſondern uns des Gege¬ benen ſehr beduͤrftig und durch ſolches unendlich berei¬ chert eingeſtehen, ſo duͤrfen wir doch hinwieder uns dabei beruhigen, und allen dringendſten Forderungen genuͤgt finden. In der That haben wir ein wenn auch nicht geendigtes, doch vollſtaͤndiges Werk vor uns; die Grundlagen ſind unveraͤnderlich, die Beſtandtheile nach allen Verhaͤltniſſen beſtimmt, der Aufbau bis zu ge¬ wiſſer Hoͤhe durchgefuͤhrt; nun koͤnnen weiter hinauf die Gebilde doch nur mit geringen Veraͤnderungen ſich wiederholen, und in dieſem Sinne haͤtten wir, waͤre die Stelle nicht ſchon beſetzt, als Titelſpruch dieſes Theiles die eignen Goethe’ſchen Worte vorzuſchlagen: „Mit den Jahren ſteigern ſich die Pruͤfungen.“ Wirklich koͤnnte uns die Folge faſt nichts anderes zeigen, und ſchon bisher mußte bemerklich ſein, daß auch die groͤßte Macht des Genius und die reichſte Fuͤlle des Lebens, welche den einzelnen Menſchen bedeutend machen, im Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen ſind, zweier oder dreier tiefen Erſchaue oder Empfin¬ dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachſten Erſcheinungen bewirkt wird. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/345
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/345>, abgerufen am 25.11.2024.