Leben desselben sei vollständig in seinen Dichtungen, und Goethe selbst hat in solchem Sinne gesagt, seine Denkschriften seien ein Versuch seine poetische Konfession zu ergänzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze jener Meinung uns erheben, sondern uns des Gege¬ benen sehr bedürftig und durch solches unendlich berei¬ chert eingestehen, so dürfen wir doch hinwieder uns dabei beruhigen, und allen dringendsten Forderungen genügt finden. In der That haben wir ein wenn auch nicht geendigtes, doch vollständiges Werk vor uns; die Grundlagen sind unveränderlich, die Bestandtheile nach allen Verhältnissen bestimmt, der Aufbau bis zu ge¬ wisser Höhe durchgeführt; nun können weiter hinauf die Gebilde doch nur mit geringen Veränderungen sich wiederholen, und in diesem Sinne hätten wir, wäre die Stelle nicht schon besetzt, als Titelspruch dieses Theiles die eignen Goethe'schen Worte vorzuschlagen: "Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen." Wirklich könnte uns die Folge fast nichts anderes zeigen, und schon bisher mußte bemerklich sein, daß auch die größte Macht des Genius und die reichste Fülle des Lebens, welche den einzelnen Menschen bedeutend machen, im Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen sind, zweier oder dreier tiefen Erschaue oder Empfin¬ dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachsten Erscheinungen bewirkt wird. --
Leben deſſelben ſei vollſtaͤndig in ſeinen Dichtungen, und Goethe ſelbſt hat in ſolchem Sinne geſagt, ſeine Denkſchriften ſeien ein Verſuch ſeine poetiſche Konfeſſion zu ergaͤnzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze jener Meinung uns erheben, ſondern uns des Gege¬ benen ſehr beduͤrftig und durch ſolches unendlich berei¬ chert eingeſtehen, ſo duͤrfen wir doch hinwieder uns dabei beruhigen, und allen dringendſten Forderungen genuͤgt finden. In der That haben wir ein wenn auch nicht geendigtes, doch vollſtaͤndiges Werk vor uns; die Grundlagen ſind unveraͤnderlich, die Beſtandtheile nach allen Verhaͤltniſſen beſtimmt, der Aufbau bis zu ge¬ wiſſer Hoͤhe durchgefuͤhrt; nun koͤnnen weiter hinauf die Gebilde doch nur mit geringen Veraͤnderungen ſich wiederholen, und in dieſem Sinne haͤtten wir, waͤre die Stelle nicht ſchon beſetzt, als Titelſpruch dieſes Theiles die eignen Goethe’ſchen Worte vorzuſchlagen: „Mit den Jahren ſteigern ſich die Pruͤfungen.“ Wirklich koͤnnte uns die Folge faſt nichts anderes zeigen, und ſchon bisher mußte bemerklich ſein, daß auch die groͤßte Macht des Genius und die reichſte Fuͤlle des Lebens, welche den einzelnen Menſchen bedeutend machen, im Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen ſind, zweier oder dreier tiefen Erſchaue oder Empfin¬ dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachſten Erſcheinungen bewirkt wird. —
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Leben deſſelben ſei vollſtaͤndig in ſeinen Dichtungen,
und Goethe ſelbſt hat in ſolchem Sinne geſagt, ſeine
Denkſchriften ſeien ein Verſuch ſeine poetiſche Konfeſſion
zu ergaͤnzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze
jener Meinung uns erheben, ſondern uns des Gege¬
benen ſehr beduͤrftig und durch ſolches unendlich berei¬
chert eingeſtehen, ſo duͤrfen wir doch hinwieder uns
dabei beruhigen, und allen dringendſten Forderungen
genuͤgt finden. In der That haben wir ein wenn auch
nicht geendigtes, doch vollſtaͤndiges Werk vor uns; die
Grundlagen ſind unveraͤnderlich, die Beſtandtheile nach
allen Verhaͤltniſſen beſtimmt, der Aufbau bis zu ge¬
wiſſer Hoͤhe durchgefuͤhrt; nun koͤnnen weiter hinauf
die Gebilde doch nur mit geringen Veraͤnderungen ſich
wiederholen, und in dieſem Sinne haͤtten wir, waͤre
die Stelle nicht ſchon beſetzt, als Titelſpruch dieſes
Theiles die eignen Goethe’ſchen Worte vorzuſchlagen:
„Mit den Jahren ſteigern ſich die Pruͤfungen.“ Wirklich
koͤnnte uns die Folge faſt nichts anderes zeigen, und
ſchon bisher mußte bemerklich ſein, daß auch die groͤßte
Macht des Genius und die reichſte Fuͤlle des Lebens,
welche den einzelnen Menſchen bedeutend machen, im
Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen
ſind, zweier oder dreier tiefen Erſchaue oder Empfin¬
dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachſten
Erſcheinungen bewirkt wird. —
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/345>, abgerufen am 25.11.2024.
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