deuten, finden, verstehen kann -- was der Urheber nie gedacht oder gemeint hat -- ohne das Werk zu erschöpfen oder zu überladen. Shakspeare, Cervantes, Goethe, wachsen mit den nachlebenden Geschlechtern und und durch deren geistige Miteiferung und Betrachtung immer schöner zu ihrer vollständigen Größe empor.
10. Ludwig Uhland.
Sein Lied ist reich und kühn, voll großer Gesinnung in reinster Kunst. Sein Fühlen und sein Schauen sind gleichzeitig und ebenmäßig, übereinstimmend in Wahr¬ heit und Schönheit; dies sein besonderer Vorzug!
11. Grillparzer.
Wahres und Schönes umfaßt seine tiefempfindende Seele; in glücklichen Formen dringen seine edlen Anla¬ gen hervor. Seine "Sappho" ist ächte Poesie. Aber die Schwingen sind ihm geschwächt, bevor der Grimm des Lebens und Trotz und Gewalt der Erde ihm noch recht unterthan geworden. Zum tragischen Dichter hätte er vielleicht anderswo geboren werden sollen.
12. Rückert.
Frische Sangesstimme auf froher Wanderschaft! Er dringt in das Dickigt der Wälder, auf die kahlen Fels¬ häupter der Berge; er besucht liebliche Auen und öde Sandflächen. Er weiß, was er will, und wenn er einmal im Finstern tappt, so ists, weil er auch ein¬ mal im Finstern tappen will. Ihr braucht ihn dann
deuten, finden, verſtehen kann — was der Urheber nie gedacht oder gemeint hat — ohne das Werk zu erſchoͤpfen oder zu uͤberladen. Shakſpeare, Cervantes, Goethe, wachſen mit den nachlebenden Geſchlechtern und und durch deren geiſtige Miteiferung und Betrachtung immer ſchoͤner zu ihrer vollſtaͤndigen Groͤße empor.
10. Ludwig Uhland.
Sein Lied iſt reich und kuͤhn, voll großer Geſinnung in reinſter Kunſt. Sein Fuͤhlen und ſein Schauen ſind gleichzeitig und ebenmaͤßig, uͤbereinſtimmend in Wahr¬ heit und Schoͤnheit; dies ſein beſonderer Vorzug!
11. Grillparzer.
Wahres und Schoͤnes umfaßt ſeine tiefempfindende Seele; in gluͤcklichen Formen dringen ſeine edlen Anla¬ gen hervor. Seine „Sappho“ iſt aͤchte Poeſie. Aber die Schwingen ſind ihm geſchwaͤcht, bevor der Grimm des Lebens und Trotz und Gewalt der Erde ihm noch recht unterthan geworden. Zum tragiſchen Dichter haͤtte er vielleicht anderswo geboren werden ſollen.
12. Ruͤckert.
Friſche Sangesſtimme auf froher Wanderſchaft! Er dringt in das Dickigt der Waͤlder, auf die kahlen Fels¬ haͤupter der Berge; er beſucht liebliche Auen und oͤde Sandflaͤchen. Er weiß, was er will, und wenn er einmal im Finſtern tappt, ſo iſts, weil er auch ein¬ mal im Finſtern tappen will. Ihr braucht ihn dann
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deuten, finden, verſtehen kann — was der Urheber
nie gedacht oder gemeint hat — ohne das Werk zu
erſchoͤpfen oder zu uͤberladen. Shakſpeare, Cervantes,
Goethe, wachſen mit den nachlebenden Geſchlechtern und
und durch deren geiſtige Miteiferung und Betrachtung
immer ſchoͤner zu ihrer vollſtaͤndigen Groͤße empor.
10. Ludwig Uhland.
Sein Lied iſt reich und kuͤhn, voll großer Geſinnung
in reinſter Kunſt. Sein Fuͤhlen und ſein Schauen ſind
gleichzeitig und ebenmaͤßig, uͤbereinſtimmend in Wahr¬
heit und Schoͤnheit; dies ſein beſonderer Vorzug!
11. Grillparzer.
Wahres und Schoͤnes umfaßt ſeine tiefempfindende
Seele; in gluͤcklichen Formen dringen ſeine edlen Anla¬
gen hervor. Seine „Sappho“ iſt aͤchte Poeſie. Aber
die Schwingen ſind ihm geſchwaͤcht, bevor der Grimm
des Lebens und Trotz und Gewalt der Erde ihm noch
recht unterthan geworden. Zum tragiſchen Dichter haͤtte
er vielleicht anderswo geboren werden ſollen.
12. Ruͤckert.
Friſche Sangesſtimme auf froher Wanderſchaft! Er
dringt in das Dickigt der Waͤlder, auf die kahlen Fels¬
haͤupter der Berge; er beſucht liebliche Auen und oͤde
Sandflaͤchen. Er weiß, was er will, und wenn er
einmal im Finſtern tappt, ſo iſts, weil er auch ein¬
mal im Finſtern tappen will. Ihr braucht ihn dann
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/350>, abgerufen am 24.11.2024.
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