würdigsten und eigenthümlichsten Erzeugnissen der litte¬ rarischen Welt gehört. Sehen wir auf den wahren Ertrag eines Buches, auf die Stimmung, welche nach dem Lesen zurückbleibt, auf den geistigen und sittlichen Ge¬ winn, der in jener Stimmung sich zu erkennen giebt, so giebt es kaum eine Gattung, welche in diesem Be¬ treff mehr leisten und wirken kann, als wohlgeschriebene Selbstbiographieen. Die verschiedensten Arten der Be¬ handlung, des Stoffes und des Talents erreichen auf dieser Bahn dasselbe Ziel. Jedes ächt und wahrhaft aufgezeichnete Menschenleben ist ein Spiegel, in welchem jedes andere sich beschauen kann; im Innern der Seele, in den geheimsten Eindrücken, Wünschungen und Be¬ gierden ist das Geschick des Menschen gleich, das ver¬ schiedene Maß der Zutheilung, die verschiedene Aeuße¬ rungsweise der Bildung, ja die verschiedenen Verhält¬ nisse selbst, unter welchen jedes Leben auftritt, erscheinen nur als so viele verschiedene Beleuchtungen desselben Gegenstandes, des immer anziehenden und hauptsächlich wichtigen, des Menschendaseins überhaupt. Sei es Ben¬ venuto Cellini oder Rousseau, Jung-Stilling oder Retif de la Bretonne, Alfieri oder Goethe, der uns seine Lebensgeschichte erzählt, immer wird sich ein hohes In¬ teresse und eine reiche Belehrung damit verknüpfen, freilich verschieden nach dem Maße der Welt, die sich darbietet, und des Geistes, der sie umfaßt. Wenn sich mit Rousseau und Goethe in dieser Hinsicht schwerlich
wuͤrdigſten und eigenthuͤmlichſten Erzeugniſſen der litte¬ rariſchen Welt gehoͤrt. Sehen wir auf den wahren Ertrag eines Buches, auf die Stimmung, welche nach dem Leſen zuruͤckbleibt, auf den geiſtigen und ſittlichen Ge¬ winn, der in jener Stimmung ſich zu erkennen giebt, ſo giebt es kaum eine Gattung, welche in dieſem Be¬ treff mehr leiſten und wirken kann, als wohlgeſchriebene Selbſtbiographieen. Die verſchiedenſten Arten der Be¬ handlung, des Stoffes und des Talents erreichen auf dieſer Bahn daſſelbe Ziel. Jedes aͤcht und wahrhaft aufgezeichnete Menſchenleben iſt ein Spiegel, in welchem jedes andere ſich beſchauen kann; im Innern der Seele, in den geheimſten Eindruͤcken, Wuͤnſchungen und Be¬ gierden iſt das Geſchick des Menſchen gleich, das ver¬ ſchiedene Maß der Zutheilung, die verſchiedene Aeuße¬ rungsweiſe der Bildung, ja die verſchiedenen Verhaͤlt¬ niſſe ſelbſt, unter welchen jedes Leben auftritt, erſcheinen nur als ſo viele verſchiedene Beleuchtungen deſſelben Gegenſtandes, des immer anziehenden und hauptſaͤchlich wichtigen, des Menſchendaſeins uͤberhaupt. Sei es Ben¬ venuto Cellini oder Rouſſeau, Jung-Stilling oder Retif de la Bretonne, Alfieri oder Goethe, der uns ſeine Lebensgeſchichte erzaͤhlt, immer wird ſich ein hohes In¬ tereſſe und eine reiche Belehrung damit verknuͤpfen, freilich verſchieden nach dem Maße der Welt, die ſich darbietet, und des Geiſtes, der ſie umfaßt. Wenn ſich mit Rouſſeau und Goethe in dieſer Hinſicht ſchwerlich
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wuͤrdigſten und eigenthuͤmlichſten Erzeugniſſen der litte¬
rariſchen Welt gehoͤrt. Sehen wir auf den wahren Ertrag
eines Buches, auf die Stimmung, welche nach dem
Leſen zuruͤckbleibt, auf den geiſtigen und ſittlichen Ge¬
winn, der in jener Stimmung ſich zu erkennen giebt,
ſo giebt es kaum eine Gattung, welche in dieſem Be¬
treff mehr leiſten und wirken kann, als wohlgeſchriebene
Selbſtbiographieen. Die verſchiedenſten Arten der Be¬
handlung, des Stoffes und des Talents erreichen auf
dieſer Bahn daſſelbe Ziel. Jedes aͤcht und wahrhaft
aufgezeichnete Menſchenleben iſt ein Spiegel, in welchem
jedes andere ſich beſchauen kann; im Innern der Seele,
in den geheimſten Eindruͤcken, Wuͤnſchungen und Be¬
gierden iſt das Geſchick des Menſchen gleich, das ver¬
ſchiedene Maß der Zutheilung, die verſchiedene Aeuße¬
rungsweiſe der Bildung, ja die verſchiedenen Verhaͤlt¬
niſſe ſelbſt, unter welchen jedes Leben auftritt, erſcheinen
nur als ſo viele verſchiedene Beleuchtungen deſſelben
Gegenſtandes, des immer anziehenden und hauptſaͤchlich
wichtigen, des Menſchendaſeins uͤberhaupt. Sei es Ben¬
venuto Cellini oder Rouſſeau, Jung-Stilling oder Retif
de la Bretonne, Alfieri oder Goethe, der uns ſeine
Lebensgeſchichte erzaͤhlt, immer wird ſich ein hohes In¬
tereſſe und eine reiche Belehrung damit verknuͤpfen,
freilich verſchieden nach dem Maße der Welt, die ſich
darbietet, und des Geiſtes, der ſie umfaßt. Wenn ſich
mit Rouſſeau und Goethe in dieſer Hinſicht ſchwerlich
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/379>, abgerufen am 24.11.2024.
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